Bach dreidimensional - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

Bach dreidimensional

Dirigent Alessandro De Marchi im Gespräch

Dorothea Hartmann: Die Aufgabe des „Dirigierens“ bedeutet für die Barockmusik, aber speziell auch für die Matthäus-Passion, etwas ganz anderes als für die Oper des 19. Jahrhunderts. Wie kann man die Funktion und Position des Dirigenten hier beschreiben?

Alessandro De Marchi: Wenn man die Matthäus-Passion so aufführt, wie das heute üblich ist – also mit zwei Orchestern, die nebeneinander aufgestellt sind, dann dirigiert man letztlich ein großes Ensemble. Man hat viel Kontakt zu den Musiker*innen, den Chören und Solist*innen. Wir orientieren uns für diese szenische Version aber an der historischen Situation von Bach. Die Inspiration für unsere Aufstellung kommt aus der Thomaskirche in Leipzig. Wir wissen, dass die Passion nicht mit zwei Orchestern nebeneinander gespielt wurde, sondern es gab ein Orchester und einen Chor vorne am Altar, und das zweite Orchester und die Orgel befanden sich hoch oben auf einer Empore der Südwand, dem sogenannten „Schwalbennest“. Es gab also keine Stereophonie von rechts und links, sondern von vorne und hinten. Wir haben diese Grundidee der historischen Aufführungspraxis erweitert und eine kreuzförmige Aufstellung gewählt. Nun muss der Dirigent natürlich an einer anderen Stelle stehen, nicht mehr direkt vor den Musiker*innen. Man ist nun weit weg und gleich weit entfernt von allen. Das bedeutet für das Dirigieren, dass man während der Vorstellungen vor allem koordiniert und weniger gestaltet. Die Gestaltung ist die Aufgabe für die Probenphase: Jeder Einzelne, ob solistisch oder im Chor oder im Orchester, muss ganz genau wissen, was zu tun ist. Der Dirigent kann im Moment der Aufführung nur koordinieren, insbesondere in einem so großen Raum wie hier in der Deutschen Oper Berlin. Man ist fast ein Flughafen-Lotse.

Dorothea Hartmann: Das führt zur grundsätzlichen Frage der Interpretation von Barockmusik. Sie bewegt sich im Spannungsfeld von Koordination und Emotion, Mechanik und Gefühl. Wie findet man hier die richtige Balance?

Alessandro De Marchi: Man braucht beides. Barockmusik – und speziell Bach – ist gebaut auf der Basis von rhetorischen Figuren, die im Text vorhanden sind und in der Musik. Diese Figuren sollten die sogenannten Affekte, also die Gefühle des Publikums, bewegen, von traurig bis fröhlich. Und es gab tatsächlich einen Katalog von Affekten und einen Katalog musikalischer Figuren, die diese Gefühle erreichen sollten.

Bachs Musik ist also hoch emotional. Gleichwohl muss sie auch koordiniert werden. In dem Sinne ist es sehr wichtig, dass das einzelne Wort sehr ernstgenommen wird, ähnlich wie beim Schubert-Lied, wo jedes Wort seine Farbe und seinen eigenen Ausdruck hat. Aber natürlich gibt es dahinter noch einen Aspekt: die Mathematik. Bach war wahrscheinlich der letzte Komponist, der noch eine sehr alte Tradition des Kontrapunkts gelernt hatte. Die Tradition kam ursprünglich aus Flandern, Palestrina in Rom entwickelte sie weiter, und schließlich verbreitete sie sich dank italienischer Lehrer überall in Europa. Sie war also ein internationales Phänomen. Das Fundament dieser Musik bildeten quasi magische Zahlen. Die Komponisten hatten eine Art Tabelle, die „Tabula Mirifica“. Diese erlaubte es, die unmöglichsten Werke zu komponieren. Man merkt, dass Bach diese Kunst absolut beherrschte. Er war nicht nur sehr stark in Latein, Poesie und Rhetorik, sondern auch sein Wissen in der Harmonielehre war unglaublich. Aber vor allem diese mathematischen Möglichkeiten des Kontrapunkts hat er gemeistert, deutlich besser als andere Zeitgenossen.

Wir sehen das zum Beispiel in manchen Arien, in denen er zwei ganz verschiedene Welten vereint. Es gibt Arien, die eigentlich in sich schon perfekt sind, z.B. die Tenor-Arie „Ich will bei meinem Jesu wachen“ mit Solo-Oboe, Basso Continuo und Tenor. Sie könnte in dieser Besetzung für sich stehen, aber Bach baut noch einen Chor dazu, einen Choral im Wechsel mit dem Solisten. Die Matthäus-Passion ist voll solcher überbordender Strukturen: Elemente, die anderen Komponisten schon völlig gereicht hätten, verwebt Bach höchst meisterhaft kontrapunktisch mit anderen Elementen. Es gibt da quasi alle möglichen Kombinationen: Choräle mit Arien und Soli, Arien ohne Basso continuo, Choräle mit Variationen, das gesamte Instrumentarium wird mindestens ein Mal auch konzertant eingesetzt. Es ist wirklich eine Summe dessen, was in dieser Epoche vorhanden war.

Dorothea Hartmann: Wie musiktheatral oder opernhaft ist diese Musik?

Alessandro De Marchi:  Man merkt an vielen Stellen, dass Bach auch gerne eine Oper komponiert hätte. In den Arien steckt viel Theater, auch die Secco-Rezitative sind sehr oft theatral, wenn etwa die Bässe ein Erdbeben mit Blitzen und Donner imitieren oder der Chor einen Sturm aufziehen lässt. Das ist ein ähnlicher Effekt wie Rossinis Unwetter des Orchesters im BARBIERE. Das sind gängige musiktheatrale Mittel. Bach hat sich ein Leben lang gewünscht, eine Oper zu komponieren, hat diese Karriere aber nicht verfolgen können. Vielleicht hatte er nicht den richtigen Charakter, und wahrscheinlich war sein Stil auch zu komplex für die Oper. In seiner Epoche waren Johann Adolph Hasse, aber auch Carl Heinrich Graun die großen Opernkomponisten. Für Bach waren Hasses Kompositionen aber nicht mehr als einfache Liedchen. Auf der anderen Seite empfanden die Zeitgenossen die Werke Bachs als viel zu komplex und unverständlich. Für damalige Ohren war das alles ein bisschen viel.

Dorothea Hartmann: Bach bietet ein dreidimensionales Setzkastenprinzip, die Struktur ist räumlich gedacht und geht in die Tiefe. Hasse und Graun denken eher in einer Zweidimensionalität, in Vorder- und Hintergrund. Das lässt sich vielleicht auch besser auf eine Bühne transportieren. Leuchtet auch vor diesem rein strukturellen Aspekt die räumliche Lösung für diese Inszenierung ein?

Alessandro De Marchi: Ja, absolut. Die räumliche Auffächerung ergibt noch eine andere, dritte Dimension. Es entsteht viel mehr als in einem gewöhnlichen Konzert, in dem die Orchester so nahe bei einander positioniert sind, dass eine echte Stereophonie gar nicht möglich ist. Bleiben wir bei der Dreidimensionalität und Komplexität der Partitur: Ehrlicherweise muss man sagen, dass kaum jemand in der Lage ist, alles zu verstehen, was Bach im jeweiligen Moment denkt und was er da gleichzeitig ablaufen lässt. Wir alle sind Meister darin, uns zunächst auf ein Detail zu konzentrieren, dann auf das nächste… Das heißt, das Publikum muss geführt werden. Und das ist eine große Aufgabe, mit den Musiker*innen, dem Chor, den Solist*innen die wichtigsten Elemente plastisch werden zu lassen. Jeder muss genau wissen, wann welches Element oder Motiv im Vordergrund steht, und wann nicht.

Dorothea Hartmann: Es entsteht so etwas wie eine Hör-Linie?

Alessandro De Marchi: Absolut. Figuren tauchen auf, überkreuzen sich, verschwinden wieder. Es ist ein mehrdimensionales Spiel, Durchsichtigkeit muss geschaffen werden. Wie bei der Fotografie: über die Einstellung der Schärfe kann man etwas in den Vorder- oder Hintergrund rücken.

Dorothea Hartmann: Die Akustik der Deutschen Oper Berlin kommt uns hier entgegen, weil es nicht die typische Kirchenakustik gibt mit zu viel Nachhall. Ist es dadurch einfacher, hier zu musizieren?

Alessandro De Marchi: Ja, man muss hier völlig anders musizieren. In einer großen Kirche dirigiere ich langsamer und fordere eine kurze Artikulation, damit sich nicht zu viele Klänge überlappen. Hier brauchen wir mehr Tempo, auch weil wir hier nicht so zelebrieren wollen wie in der Kirche. Es ist ja eine Opernbühne. Trotzdem versuchen wir künstlich, etwas Nachhall zu erzeugen: Wir imitieren eine leichte Kirchenakustik, das heißt, wir lassen mit dem Bogen oder mit der Luft den Klang nie abrupt enden, sondern geben immer ein wenig nach.

Dorothea Hartmann: In dieser Produktion sind Musik und Szene noch enger miteinander verzahnt als im klassischen Guckkasten-Setting. Denn die szenische Konzeption greift auch in die musikalische Aufstellung ein. Das geht nur in einer engen Team-Arbeit. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Benedikt von Peter?

Alessandro De Marchi: Wir ergänzen uns sehr gut und haben großes Vertrauen. Das liegt sicher auch daran, dass wir uns schon ewig kennen. Als ich als junger Dirigent in Hamburg gearbeitet habe, war er dort gerade Regieassistent. So haben wir zusammen angefangen. Wir haben viel voneinander gelernt. Und wir sind beide verrückt genug, um Räume anders zu bespielen. Das habe ich auch vor der Begegnung mit ihm schon gemacht: Vor vielen Jahren habe ich auf diese Art in Turin Monteverdis ORFEO dirigiert, die Musiker*innen waren im ganzen Raum verteilt – und zwar in Diagonalen miteinander verbunden. Das war verrückt. In Turin habe ich mit Spezialist*innen für Alte Musik auf diese Art auch Bach-Kantaten erarbeitet, auch Mozarts Krönungsmesse mit drei Orchestern und zwei Chören, verteilt auf zwei Emporen. In Salzburg hatten sie das damals auch so gespielt, es ist also eine historische Aufführungspraxis. In diesem Sinne haben Benedikt und ich uns sofort verstanden. Jetzt führen wir die Matthäus-Passion in einem erweiterten Raumkonzept auf. Benedikt sagt, es war meine Idee. Ich dachte, es sei seine gewesen.

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