Banalität kann ich nicht komponieren - Deutsche Oper Berlin
Banalität kann ich nicht komponieren
Der Berliner Aribert Reimann ist einer der bedeutendsten lebenden Komponisten überhaupt. Seit über sechzig Jahren ist er der Deutschen Oper Berlin verbunden. Jetzt hat er für dieses Haus eine neue Oper geschrieben.

Herr Reimann, in L’INVISIBLE vertonen Sie drei Kurzdramen von Maurice Maeterlinck. Was hat sie an dem Stoff gereizt?
Mit dem Gedanken, Dramen von Maeterlinck zu vertonen, trage ich mich schon sehr lange, nämlich seit den achtziger Jahren. Damals sah ich drei Maeterlinck-Stücke in der Regie von Wolf Redl an der Berliner Schaubühne: „L’Intruse“, „L’Intérieur“ und „Les Aveugles“. Von den intensiven, beklemmenden Situationen, die diese Stücke entwerfen, von ihrem Umgang mit Stille war ich ungeheuer beeindruckt, so dass ich das Gefühl hatte: Das muss ich mal machen. Die Pläne habe ich dann aber wieder weggelegt. Es kamen so viele anderen Sachen: GESPENSTERSONATE, TROADES, DAS SCHLOSS, BERNARDA ALBAS HAUS, MEDEA.
Jetzt, 30 Jahre später, ist es also soweit. Warum jetzt?
Die Idee konkretisierte sich sehr, nachdem ich BERNARDA ALBAS HAUS geschrieben hatte. Damals, Anfang 2000, habe ich immer wieder an die Maeterlinck-Stücke gedacht. In langen Gesprächen, unter anderem mit Beat Furrer, habe ich die urheberrechtlichen Fragen geklärt. Dann kam der Auftrag der Wiener Staatsoper für MEDEA dazwischen, was ich unbedingt machen wollte. Das Libretto für die Maeterlinck-Stücke hatte ich allerdings zu diesem Zeitpunkt schon zusammengestellt. Nach der Uraufführung von MEDEA 2010 war mir klar: Ich kann erstmal keine Handlungsoper mehr schreiben, sondern muss einen völlig neuen Weg gehen. Bis dahin hatte ich immer komplette Stücke vertont oder Romane wie DAS SCHLOSS.
Also fügen Sie jetzt drei Dramen zu einem Abend zusammen. Wie haben Sie sie ausgewählt?
Dass ich „Les Aveugles“ nicht vertonen würde, war mir schon damals an der Schaubühne klar. Das haben andere gemacht, Beat Furrer etwa oder Lea Auerbach. Und ich hatte auch nicht den gleichen Zugang zu diesem Stück wie zu den beiden anderen. Erst später wurde mir klar, was das dritte Stück sein muss: „La Mort de Tintagiles“.

Bringen Sie die drei Stücke in einen Zusammenhang?
Ich entdeckte einen Fixpunkt in allen drei Dramen: Das Kind. In „L’Intruse“ sitzt eine Familie zusammen, nebenan liegt die Mutter in den Nachwehen. Der Großvater bemerkt einen Eindringling, den keiner sieht – eigentlich müsste man sagen: die keiner sieht, denn „L’Intruse“ ist weiblich, wie „La Mort“. Ein Verweis auf die Mutter, denn sie stirbt nach der Geburt. In „L’Intérieur“ wartet ein alter Mann im Garten, er muss einer Familie mitteilen, dass sich eine der Töchter im Fluss das Leben genommen hat. Zurück bleibt ein schlafender Junge, aus dem bei mir im dritten Stück Tintagiles wird. Eine uralte Großmutter oder Königin, die man nicht sieht – daher der Titel L’INVISIBLE – lässt alle umbringen, die ihr den Thron streitig machen können, ein Motiv, das man zurück verfolgen kann bis zu Herodes dem Großen. Die Dienerinnen der Königin entführen auch Tintagiles, seine Schwester Ygraine kann ihm nicht helfen. Er wird ermordet. Dieses Kind, dieser Junge, tritt in allen drei Dramen auf. Deshalb bilden sie eine starke Einheit, stärker als etwa die drei Stücke, aus denen Puccinis IL TRITTICO besteht. In gewisser Weise können Sie also sagen, dass ich doch wieder eine Handlungsoper geschrieben habe.
Ist es das erste Mal, dass Maeterlincks Kurzdramen auf diese Weise zu einem Abend zusammengespannt werden?
Ich denke schon. Wir wissen aus zwei Aufsätzen, dass Rainer Maria Rilke Stücke von Maeterlinck auf der Bühne gesehen hat. Daraus lässt sich schließen, dass sie damals offenbar separat aufgeführt wurden.
Sie bevorzugen klassische Stoffe der Weltliteratur, die aber immer einen Bezug zur unserer Gegenwart haben müssen. Beim SCHLOSS geht es zum Beispiel um den Überwachungsstaat, bei MEDEA um die Rückgabe von Raubgut. Was hat L’INVISIBLE mit unserer Zeit zu tun?
Es geht mir nicht um platte Aktualität. Ich kann einfach nichts komponieren, was mit uns nichts zu tun hat. Das ist etwas vollkommen anderes als eine Aktualitätsoper. Was L’INVISIBLE betrifft: Zum einen hat natürlich jedermann mit dem Tod zu tun, der Tod kommt. Seitdem der Mensch lebt, lebt er auch mit dem Tod. Maeterlinck hat das in drei Bilder gefasst. Im dritten wird jemand entführt und umgebracht. Jeden Tag werden Menschen auf irgendeinen Befehl hin ermordet. Jemand fährt in eine Menschenmenge, und wir wissen nicht, wer die Auftraggeber sind. Sie sind unsichtbar, so wie hier. Niemand hat die Königin je gesehen, nur die Dienerinnen – das behaupten sie zumindest. Alles ist zum Glück sehr mystifiziert und sehr poetisch. Direkte Banalität kann ich nicht komponieren.

Wie haben Sie den Stoff musikalisch umgesetzt?
Es gibt drei Orchesterbesetzungen. In „L’Intruse“ erklingen nur Streicher, in „L’Intérieur“ nur Holzbläser. Streicher wären mir da ganz unmöglich gewesen. Beim „Tintagiles“ summiert sich alles, kommt alles zusammen.
Arbeiten Sie gerne mit solch strikten Scheidungen? Man kennt diese Technik der Instrumentierung aus anderen ihrer Werke, etwa aus den „Drei Gedichten der Sappho“, wo sie auf die Violinen völlig verzichten.
Ich habe das bisher in kurzen Abschnitten meiner Arbeit immer wieder getan. Jetzt aber setze ich ganze Bilder auf diese Weise um, das ist neu. Etwa bei „L’Intruse“: In dem Moment, in dem die Mutter stirbt, tut das Kind seinen ersten Schrei. Bis dahin hat es überhaupt nicht reagiert. Im Orchester setzen zum ersten Mal sehr scharfe Akkorde der Holzbläser ein, die praktisch überleiten zu „L’Intérieur“.
Gehen die Stücke nahtlos ineinander über, oder setzen Sie Zwischenspiele ein?
Ja, es gibt drei Countertenöre, die man zunächst nur hinter der Bühne hört, begleitet von zwei Harfen. Im dritten Bild wird klar: Es sind die Dienerinnen der Königin und Todesboten. Ein Alter, sein Name ist Agloval, sagt im Stück: „Sie gehen nicht wie andere Wesen“. Sie sind weder Mann noch Frau. Da war mir klar: Sie müssen von Countertenören gesungen werden.
Wie haben sie die übrigen Stimmen ausgestaltet?
In allen drei Stücken gibt es einen Sopran, aber nur in „Tintagiles“ mit Koloraturen. Dort ist die Sopranpartie Ygraine zugeordnet. Der Alte ist ein Bassbariton. Die Partien sind nicht so hoch und dramatisch wie in MEDEA.
Die Stimmen sind gleichmäßiger, es gibt weniger Ausschläge nach oben und unten?
Ja, denn dazu ist gar keine Gelegenheit. Alles ist sehr kurzphasig, die Angst ist groß, keiner wagt, etwas zu sagen, vieles gleicht mehr Sprechgesang. Eine Ausnahme ist Ygraine. Sie durchlebt furchtbare Angst, so dass sie manchmal kaum atmen kann. Ständig verschwinden Leute, und keiner weiß, warum. Nachdem ihr Bruder tot ist, kann sie nicht mehr an sich halten. In einem Monolog verflucht sie die Königin, schleudert ihre ganze Furcht und Wut auf sie. Das kann ich nicht mit Sprechgesang gestalten.

Was würden Sie entgegnen, wenn man einige der Frauenstimmen in ihren Opern als „hysterisch“ bezeichnet?
Eigentlich ist das das falsche Wort, weil man unter Hysterie etwas anderes versteht. Meine Figuren erleben eine innere Steigerung, die sie zum Zerplatzen bringt, so dass sie gar nicht mehr die Ruhe haben, einen Satz zu singen. Es bricht aus ihnen heraus. Medea zum Beispiel befindet sich spätestens nach dem ersten Viertel der Oper in einem Ausnahmezustand. Da ist sie jeder Ruhe beraubt.
Schreiben Sie generell anders für Männer- als für Frauenstimmen?
Nein, es gibt keinen Unterschied. Alles hängt von der Situation ab. „L’Intruse“ und „L’Intérieur“ sind ruhige Stücke, mit Momenten von Ausbrüchen. Im letzten Bild ist alles sehr auf Ygraine fokussiert, die sich gar nicht mehr halten kann. Ihr kleiner Bruder wurde geholt, sie weiß nicht mehr, wie es weitergeht, versucht sich zu wehren. Da ist natürlich sehr viel Geschleudertes drin, aber keine Hysterie. Es ist eine Übererregtheit, die zerplatzt. Und sie kann nicht zerplatzen in einer ruhigen Kantilene. Ich würde auch nicht sagen, dass die Königin der Nacht eine hysterische Partie ist, nur weil sie Koloraturen hat. Das Wort „Hysterie“ ist sehr falsch und oberflächlich. Es trifft nicht den Kern.
Die Deutsche Oper Berlin ist neben der Bayerischen Staatsoper, wo drei Ihrer Opern uraufgeführt wurden, das für Sie wichtigste Haus. Wie sehr hat es Ihr Leben geprägt?
1955 habe ich hier erstmals im damals neugegründeten Studio als Korrepetitor gearbeitet. Das brach ich später ab, weil ich mich auf mein Studium konzentrieren musste. Aber ich habe weiterhin mit Sängern wie Dietrich Fischer-Dieskau gearbeitet. Das Ballett DIE VOGELSCHEUCHEN war meine erste Komposition, die an der Deutschen Oper uraufgeführt wurde. MELUSINE [1971] und GESPENSTERSONATE [1984] wurden anderswo uraufgeführt, in Schwetzingen und am Berliner Hebbel-Theater, aber jeweils mit Sängern der Deutschen Oper, Catherine Gayer zum Beispiel, oder Martha Mödl. Die Deutsche Oper Berlin hatte ja damals noch keine experimentelle Bühne wie heute die Tischlerei. Ohne Catherine Gayer wäre MELUSINE nie entstanden, denn sie konnte Dinge singen, die andere damals noch nicht wagten. Ich kannte sie schon von meinem Studium her. DAS SCHLOSS war dann meine erste Uraufführung auf der großen Bühne der Deutschen Oper, L’INVISIBLE jetzt die zweite. Ich bin dem Haus schon sehr verbunden.
Sie sind einer der gefragtesten zeitgenössischen Komponisten. Allein 2017 wurde MEDEA in Wien wiederaufgenommen und an der Komischen Oper neu inszeniert, wie auch die GESPENSTERSONATE an der Berliner Staatsoper. Die Salzburger Festspiele haben Lear neu heraus gebracht, und im Oktober dann L’INVISIBLE an der Deutschen Oper Berlin. Bedeutet der Erfolg für Sie Freude oder Belastung?
Anstrengend ist es natürlich immer. Aber alles hängt davon ab, wie man damit umgeht. Die Freude ist auf jeden Fall viel, viel größer.
Das Gespräch führte Udo Badelt
Udo Badelt, Kulturjournalist, studierte Germanistik und Geschichte in Düsseldorf und Berlin. Volontariat bei der Märkischen Oderzeitung in Frankfurt [Oder]. Er arbeitet regelmäßig für den Berliner Tagesspiegel und die Fachzeitschrift „Opernwelt“.