Befreiung durch Zerstörung - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

Befreiung durch Zerstörung

Ben Kidd [Dead Centre] im Gespräch mit Jörg Königsdorf

Pasolini und sein Werk fordern seit mehr als einem halben Jahrhundert immer wieder zur Auseinandersetzung heraus. Was ist für Sie das Besondere an Pasolini und an „Teorema“?

Ben Kidd: Als ich den Film „Teorema“ zum ersten Mal sah, wusste ich recht wenig über Pasolini. Ich hielt ihn für einen Künstler, der sich im Wesentlichen für Grenzüberschreitungen und die emanzipatorische Kraft von Sex interessierte. Das stimmt wohl auch, aber als ich den Film sah, hat mich am stärksten seine Rätselhaftigkeit beeindruckt – wie schwer es beispielsweise zu bestimmen ist, ob die Figur des Gastes nun für Christus oder den Satan steht. Und ist Sex nun Befreiung oder Zerstörung? Und attackiert Pasolini nun diese Familie aus dem Mailänder Großbürgertum, die er uns vorführt, oder sympathisiert er am Ende mit ihr? Darüber hinaus hat mich auch beeindruckt, wie gay beziehungsweise queer dieser Film ist. Obwohl er schon 1968 gedreht wurde, stellt er schon sexuelle Identitäten in Frage. Tatsächlich war es sehr hilfreich, den Roman zu lesen, denn dort wird noch klarer, dass all diese Ambiguitäten für Pasolinis Kernaussage stehen: Nichts ist einfach, alles kann auf vielfache Weise gelesen werden.

Wie hat sich Ihre Sicht auf „Teorema“ im Laufe Ihrer Auseinandersetzung mit dem Stoff entwickelt?

Ben Kidd: Der Aspekt, der sich im Verlauf der Zeit immer weiter in den Vordergrund geschoben hat, ist Pasolinis ehrliche und ernste Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Gott und Spiritualität für unsere Gesellschaft. Das sexuelle Element ist demgegenüber immer weiter in den Hintergrund gerückt. Wenn man das „Theorem“, das Pasolini hier aufzustellen behauptet, genauer bestimmen könnte, hätte es sicher mit der Seele der Bourgeoisie zu tun. Existiert so eine Seele? Und was denkt Gott über uns? Ich habe gelesen, dass der große französische Regisseur Jean Renoir einmal über diesen Film gesagt hat: „Was die Menschen empört, ist nicht die Obszönität, denn die gibt es hier gar nicht. Der Skandal dieses Films liegt in seiner Ehrlichkeit.“

Im Film gibt es eine einleitende Szene, die Battistelli in seiner Oper fortgelassen hat: eine quasi-dokumentarische Sequenz, in der ein Reporter darüber berichtet, dass Paolo, der Vater der Familie, seine Fabrik den Arbeitern übereignet hat. Was ändert sich dadurch, dass diese Szene in der Oper fehlt?

Ben Kidd: In seiner Adaption von „Teorema“ gibt Battistelli dem politischen Hintergrund fast keinen Raum. Denn genau dafür steht ja im Film die einleitende Szene. Ich verstehe gut, warum Battistelli diese Szene gestrichen hat, denn mit ihr bestünde die Gefahr, dass das Stück ein „peroid piece“ würde und dass man die Geschichte nur aus der Perspektive des ökonomisch-politischen Szenarios von 1968 sehen würde. Der politische und gesellschaftliche Hintergrund ist dadurch natürlich nicht weg, sondern im Hintergrund auf eine zeitlosere Art präsent, die Pasolinis gesellschaftliche Weitsicht in den Vordergrund rückt. Schließlich war er sehr prophetisch in seiner Beobachtung, dass die europäische Gesellschaft immer mehr von einem Hyper-Kapitalismus dominiert würde, der den Platz der Seele der Gesellschaft einnimmt. Auch seine gemischten Gefühle über die Protestkultur und die Funktion, die Kunst in der Gesellschaft haben kann, sind durchaus noch aktuell, wenngleich in „Teorema“ nicht von vergleichbar zentraler Bedeutung.

Inwiefern war es für Sie wichtig, sich von der Vorlage Pasolinis – beispielsweise von der Bildkraft des Films – abzugrenzen?

Ben Kidd: Tatsächlich haben wir die Verbindung zum Film aufrecht erhalten, indem wir filmische Mittel für unsere Erzählung einsetzen: Denn das Kino hat nun einmal die Möglichkeit, Geschichten auf einen nicht-lineare und traumhafte Weise zu erzählen und gleichzeitig ganz nah an der Realität der menschlichen Erfahrung zu bleiben. Gleichwohl steht die Oper für sich: Das Hinzufügen von Musik, vor allem der Singstimmen, gibt den Figuren ein völlig anderes Gesicht. Um diese Identität auszudrücken, mussten wir die sehr spezifischen Bilder des Films beiseitelassen und versuchen, die ikonischen Situationen des Stücks auf unsere eigene Weise zu übersetzen. Ohnehin hat uns der Roman in unserer Arbeit noch stärker beeinflusst, weil er mehr Erklärung für den Titel liefert. Pasolini lehnt hier ja die Idee einer „story“ ab und spricht von „Teorema“ als einem wissenschaftlichen Bericht – der natürlich auch poetisch ist. Und dort lag auch unser Ansatzpunkt, die Geschichte zu erzählen, über die Figuren und die Botschaft nachzudenken, die transportiert werden soll.

Spielt die religiöse Ebene des Stoffes in Ihrer Inszenierung eine Rolle?

Ben Kidd: Sie lässt sich überhaupt nicht vermeiden. Auch wenn wir die religiöse Ebene gar nicht besonders hervorkehren wollten, kam sie quasi von selbst hinein. Schließlich beginnt die Oper ja mit einer Art Verkündigungsszene, die auf die Ankunft des Gastes verweist. Und das mit Angiolino, dem Postboten, der uns schon in seinem Namen sagt, dass er ein Engel ist. Tatsächlich ist weder bei Pasolini noch bei Battistelli ein psychologischer Realismus in der Personenführung gefragt, sondern die Szenen entfalten sich vor unseren Augen und Ohren eher wie die Stationen einer mittelalterlichen Heiligenvita. Wir erleben religiöse Tableaux, die aber gerade durch diese statische, distanzierte Art der Darstellung auch wieder wirken wie die wissenschaftliche Versuchsanordnung, die Pasolini für das Stück in Anspruch nimmt. Wir erleben die Charaktere also als eine Art Heilige, oder gar Allegorien, bei denen eine Darstellung der psychologischen Hintergründe ihres Tuns nicht den Kern der Sache träfe.

In Ihrer Inszenierung agieren die Sänger*innen zunächst als Wissenschaftler, während die Familie durch stumme Schauspieler*innen dargestellt wird. Dann werden diese Wissenschaftler jedoch immer mehr in das Geschehen hineingezogen und übernehmen schließlich die Rollen der Familienmitglieder. Was hat Sie zu diesem Schritt bewegt?

Ben Kidd: Wir sind dabei vor allem der Musik gefolgt, die den Charakteren im zweiten Teil viel mehr Raum zur persönlichen Entfaltung lässt, wenngleich sie auch hier noch meistenteils von sich selbst in der dritten Person singen. In diesem zweiten Teil hören wir weniger gesprochenen Text und die Stimmen kommunizieren viel öfter in musikalischen Ensembles miteinander. Hier zeigen die Figuren uns, wer sie sind und welchen Ausweg jeder von ihnen sucht, während im ersten Teil der Eindruck der Entfremdung durch die Verhältnisse überwiegt. Deshalb erschien es uns sinnvoll, diese charakterlichen Entwicklungen dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass die Sänger*innen im zweiten Teil selbst die Ausbruchsversuche der Figuren verkörpern.

Jede der fünf Figuren der Familie versucht einen anderen Weg, den bürgerlichen Zwängen zu entkommen: Während die Mutter hemmungslosen Sex probiert, versucht sich der Sohn als Künstler. Die Tochter flüchtet in psychische Krankheit, die Hausangestellte wird eine Heilige und der Vater gibt all seinen Besitz auf. Wer ist mit seiner Strategie Ihrer Meinung nach erfolgreich?

Ben Kidd: Ich würde sagen: keiner. Natürlich ist Emilia, die Hausangestellte, die einzige, die wirklich begreift, wer dieser Gast ist und welche Mission ihn umtreibt. Und ja, sie findet eine Art Befreiung darin, zur Heiligen zu werden. Aber das ist ziemlich zwiespältig, denn dieser Ausweg bedeutet zugleich totale Unterwerfung. Meiner Ansicht nach ist bei Pasolini die Kunst der einzige mögliche Weg zu versuchen, die Fesseln der Klassenzugehörigkeit zu sprengen. In diesem Sinne wäre Pietro, der Sohn, der einzige, vor dem ein „authentisches“ Leben liegt. Das ist kein Wunder, da Pasolini ja selbst Künstler war. Ich hoffe allerdings, dass wir in der Oper eine etwas universellere Perspektive vermitteln können: Sobald du merkst, dass du nicht mehr weißt, wer du eigentlich bist, musst du das Experiment um jeden Preis abbrechen und du musst versuchen, den Weg zu einem eigenen Leben zu finden.

Die Oper endet mit einem Schrei des Vaters Paolo. Was bedeutet für Sie dieser Schrei? Befreiung oder Schmerz?

Ben Kidd: Ich glaube, in diesem Fall hängt beides eng zusammen. Die Art und Weise, wie Pasolini im Roman beschreibt, was alles passieren müsste, damit die Bourgeoisie zu ihrer Befreiung findet, zeigt, dass dies ein sehr schmerzhafter Prozess sein muss. Denn er beinhaltet die Bloßlegung dessen, was man zu sein glaubt. Ich denke, deshalb ist Pasolini auch so an der Geschichte des Heiligen Paulus und der Bedeutung der Wüste interessiert. In seinem Roman nimmt das breiten Raum ein und im Film ist das Bild der Wüste quasi omnipräsent. Diese Idee von Befreiung durch Zerstörung ist ein zutiefst christliches Bild.

Jeder in dieser Familie hat ein klares Charakterprofil. Aber was ist mit dem Gast? Existiert er wirklich oder ist er vielleicht nur eine Projektion aller uneingestandenen Sehnsüchte?

Ben Kidd: Ich habe das Gefühl, dass genau das eine der Fragen ist, die jeder für sich selbst beantworten sollte. Wer er ist, wofür er steht, gehört zu den Mysterien dieser Geschichte. Da gibt es keine wahren oder falschen Antworten. Das Geniale an Pasolini ist, dass seine Werke viele Lesarten zulassen. Ich hoffe, wenngleich auf eine bescheidenere Weise, wird unsere Inszenierung das auch tun.

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