Benjamin Britten in Berlin 1947 bis 2013 - Deutsche Oper Berlin
Ein Essay von Curt A. Roesler.
Benjamin Britten in Berlin 1947 bis 2013
Nur fünf eigene Produktionen von Opern von Benjamin Britten hat die Deutsche Oper Berlin in den vergangenen 65 Jahren herausgebracht. Dass eine deutsche Erstaufführung eines bis heute unterschätzten Werks, nämlich seiner letzten Oper TOD IN VENEDIG, und ein besonderes Experiment mit einer Oper in der Diskothek dabei waren, kann kaum über den Mangel hinwegtrösten. Aber das ist Schnee von gestern, jetzt ändert sich das und zwar nicht nur im Britten-Jahr, das am 7. Januar mit einem ausverkauften Kammerkonzert begann und am 25. Januar mit einer Premiere der sicher bedeutendsten Oper Brittens fortgesetzt wird, PETER GRIMES.
Diese Oper steht auch am Anfang dieses kleinen Rückblicks. Wenige Wochen nach der deutschen Erstaufführung in Hamburg kam sie zum zweiten Mal in einer Stadt zur Aufführung, die mehr als 300 Kilometer von der Nordsee entfernt ist. In Tanglewood hatte sich bei der amerikanischen Erstaufführung schon gezeigt, dass auch Binnenländer von dieser Fischertragödie gepackt werden. Erich Witte sang am 23. Mai 1947 die Titelpartie in der Städtischen Oper an der Kantstraße. Seit 1941 war er Ensemblemitglied der Staatsoper (und blieb es auch 50 Jahre lang), doch in diesen ersten Nachkriegsjahren war es durchaus noch möglich, im Ost- wie im Westsektor aufzutreten. Nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR 1949 und erst recht nach dem Bau der Mauer 1961 war das zumindest deutschen Staatsbürgern praktisch verwehrt – weder die Kulturbehörde in Ost-Berlin, noch die Westalliierten Besatzungsmächte erlaubten das, es gab einfach kein Visum. Die wenigen Ausnahmen mussten konspirativ geplant und dann verschleiert werden, etwa dadurch dass der Weg von Ostberlin nach Westberlin über den Flughafen in Amsterdam oder Budapest führte, oder dass Ensemblemitglieder der Deutschen Oper Berlin in der DDR als »Gäste aus den USA« bezeichnet wurden. Witte trat bis 1953 regelmäßig an der Städtischen Oper auf und sang in neun Premieren, schon in der ersten Aufführung nach dem Krieg den Jaquino im FIDELIO, später auch Rollen des schwereren Fachs wie Radames in AIDA. Ellen Orford, die Lehrerin in PETER GRIMES, die als Einzige Partei für den Außenseiter ergreift, war eine der ersten Partien von Elisabeth Grümmer, die seit Beginn der Spielzeit 1946/47 zum Ensemble der Städtischen Oper Berlin gehörte und hier eine glänzende weltweite Karriere startete. Hanns Heinz Nissen sang den Kapitän Balstrode; er gehörte von 1934 bis zu seinem Tod 1969 zum Ensemble. Er ist nicht zu verwechseln mit Hans-Hermann Nissen, der das nämliche Fach von 1925 bis 1967 an der Bayerischen Staatsoper München vertrat und außerdem in aller Welt vor allem als Wagner-Bariton brillierte. Robert Heger, der 1945 den schon erwähnten FIDELIO dirigierte, stand auch jetzt am Pult des Orchesters der Städtischen Oper; er blieb noch bis 1950 in Berlin (wo er schon 1933–1945 ständiger Dirigent der Lindenoper war), ehe er an seine alte Wirkungsstätte München, jetzt als Staatskapellmeister, zurückkehrte. Werner Kelch, seit einem knappen Jahr Hausregisseur der Städtischen Oper, inszenierte PETER GRIMES als Teil einer Veranstaltungsreihe mit „Englischer Musik“, an der sich die Städtische Oper auch noch mit einem Konzert am 29. Mai 1947 beteiligte. Die Vorstellung am 23. Mai war den britischen Truppen vorbehalten, für das Berliner Publikum fand die Premiere zwei Tage später statt.
Dreieinhalb Jahre später kam erneut eine Oper von Benjamin Britten auf den Spielplan der Städtischen Oper, der 1947 in Glyndebourne uraufgeführte ALBERT HERRING. In der Titelpartie glänzte Helmut Krebs, seit 1948 zurück in Berlin, wo er 1937 im selben Gebäude, dem Theater des Westens als dieses Volksoper hieß, debütiert hatte. Es inszenierte wieder Werner Kelch und es dirigierte Leopold Ludwig. Weder PETER GRIMES noch ALBERT HERRING schafften es allerdings in das längerfristige Repertoire der Städtischen Oper, PETER GRIMES wurde 12 Mal gespielt, ALBERT HERRING einmal mehr.
Erst 1958 kam es – kurz nachdem ALBERT HERRING inzwischen auch an der Komischen Oper gespielt wurde – wieder zu einer Britten-Premiere in der Städtischen Oper. THE RAPE OF LUCRETIA, von Benjamin Britten unmittelbar nach PETER GRIMES als vollkommener Kontrast dazu komponiert, auf Deutsch kurz LUKREZIA betitelt, wurde von Wolf Völker inszeniert, dem neben Carl Ebert wichtigsten Regisseur in dessen zweiter Amtszeit als Intendant. Es dirigierte Richard Kraus, die Bühnenbilder und Kostüme waren von Wilhelm Reinking, der jedoch für die Städtische Oper und später für die Deutsche Oper Berlin viel mehr als nur ein Bühnenbildner war. Er war auch Dramaturg, Marketing-Direktor und Hausgrafiker. Das Programmheft zu LUKREZIA enthält Übersetzungen lateinischer Texte von Titus Livius und Publius Ovidius Naso. Möglicherweise stammt auch der gesamte anonyme Artikel »Die traurige Geschichte von der schönen Lucretia« aus seiner Feder.
LUKREZIA blieb immerhin so lange im Repertoire wie die Städtische Oper in der Kantstraße spielte, also bis 1961. Im neuen Haus in der Bismarckstraße wurde lange kein Britten gespielt. Das liegt sicher auch daran, dass man seine Werke für zu klein dimensioniert hielt für das große Haus – was ja auch richtig ist, sieht man etwa von GLORIANA ab, die man wiederum für ein nicht für die Ewigkeit bestimmtes Gelegenheitswerk ansah. Dafür öffnete jetzt Walter Felsenstein die Türen der Komischen Oper für Britten und brachte schon 1961 den erst im Vorjahr uraufgeführten SOMMERNACHTSTRAUM heraus.
Erst die letzte Oper Brittens DEATH IN VENICE weckte 1973 wieder die Aufmerksamkeit des Intendanten Egon Seefehlner und des Chefdirigenten Gerd Albrecht, sie sicherten sich das Recht der Deutschen Erstaufführung und setzten es zum Beginn der Spielzeit 1974/75 auf den Spielplan. Auch dieses Werk wurde für das Festival in Aldeburgh geschrieben und dementsprechend für ein eher kleines Orchester. Doch die Anforderungen an das Ensemble mit 27 Vokalsolisten, darunter ein Countertenor, und 12 Tanzsolisten, das insgesamt 68 Rollen darzustellen hat, verlangten geradezu nach einem Haus wie der Deutschen Oper Berlin, die über diese Kräfte verfügte.
Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“ von 1911 hatte spätestens seit Luchino Viscontis berühmtem Film MORTE A VENEZIA 1971 wieder große Verbreitung gefunden. In dem Film spielt Gustav Mahler eine große Rolle; Mahler war einer der Fixsterne für Benjamin Britten. Nicht nur die Musik (vor allem das berühmte „Adagietto“ aus der 5. Sinfonie) ist allgegenwärtig, Dirk Bogarde spielt die Rolle des Gustav von Aschenbach auch in der Maske Mahlers. Donald Grobe sang die letzte von Benjamin Britten für Peter Pears geschriebene Partie, den Gustav von Aschenbach und auch er ähnelte ein wenig dem Komponisten Mahler. David Knutson sang die Stimme des Apollo, Rolf Kühne Dionysos und sechs weitere Partien. Trotz des großen Aufwands: auch TOD IN VENEDIG ereilte das gleiche Schicksal wie die anderen Britten-Opern an der Deutschen Oper Berlin bis dahin – sie hielt sich nicht sehr lange auf dem Spielplan.
Von vornherein für wenige Vorstellungen konzipiert war das nächste Britten-Projekt an der Deutschen Oper Berlin: EIN SOMMERNACHTSTRAUM. In Kooperation mit dem RIAS-Jugendorchester kam diese Oper an einem ungewöhnlichen Spielort zur Aufführung. Es war ein Ort mit Theatergeschichte, doch schon lange waren da keine musikalischen Bühnenwerke mehr aufgeführt worden. Die Bühne war entkernt, der Orchestergraben überbaut, die Stühle aus dem Parkett herausgerissen – es war eine Diskothek mit dem an Berliner Theatergeschichte erinnernden Namen „Metropol“. Als „Neues Schauspielhaus“ 1906 an einem markanten Punkt der gleichzeitig gebauten Hochbahnstrecke eröffnet, am Nollendorfplatz, trug es zeitweise auch den Namen „Theater am Nollendorfplatz“. Unter diesem, aber auch unter dem Namen „Neue Scala“ ist es vor allem verbunden mit den urberliner Werken von Walter Kollo und Eduard Künneke. Auch der berühmte VETTER AUS DINGSDA erblickte hier das Rampenlicht. Heute ist dort das „Goya“ beheimatet. Winfried Bauernfeind inszenierte dort im Rahmen des „Berliner Sommernachtstraums“ die Oper von Britten mit Sängern des Ensembles der Deutschen Oper Berlin – David Knutson als Oberon und Catherine Gayer als Titania durften natürlich nicht fehlen – und einigen Nachwuchskräften. Er baute dafür eine Art Shakespearebühne mit einem langen Steg ins Publikum in das leere Theater und die langjährige Kostümdirektorin Dietlinde Calsow gestaltete die Kostüme.
Noch einmal sang Donald Grobe Britten in der Deutschen Oper. Am 10. März, wenige Wochen vor seinem Tod sang er, schon schwer von der Krankheit gezeichnet, die „Serenade für Tenor, Horn und Streichorchester“ in einem Kammerkonzert im Foyer, in dem außerdem Werke von Alfred Schust zur Aufführung kamen, einem langjährigen Korrepetitor der Deutschen Oper Berlin, der 1985 seinen 70. Geburtstag feiern konnte.
Nur einmal noch kam seither Britten auf die Bühne der Deutschen Oper Berlin. Die finnische Nationaloper brachte 1999 bei einem Gesamtgastspiel PETER GRIMES mit Jorma Silvasti in der Titelpartie zur Aufführung.
Mit der Inszenierung des PETER GRIMES durch David Alden wird jetzt ein neues Kapitel der Britten-Rezeption an der Deutschen Oper Berlin aufgeschlagen.