Der Spott der anderen - Deutsche Oper Berlin
Was mich bewegt
Der Spott der anderen
Versklavt, verlacht und ausgegrenzt: Was wäre Oper ohne die Hure, das Waisenmädchen oder den Kleinwüchsigen in Zemlinskys DER ZWERG? Außenseiter sind die wahren Helden, meint Dramaturg Sebastian Hanusa
Vielen Dank an euch Außenseiter! Was wäre die Oper ohne all die Huren und reinen Toren, die verfluchten Seeräuberkapitäne und ausgegrenzten Waisenmädchen, ohne Künstler und Zwerge, ohne Menschen, die körperlich versehrt sind? Die wegen ihrer Herkunft diskriminiert oder versklavt, wegen ihrer sexuellen Orientierung ausgegrenzt werden und den normativen Vorstellungen der Gesellschaft nicht entsprechen?
Gerade im 19. und frühen 20. Jahrhundert liefern Außenseiter Stoff für zahllose Opern. In Folge der Französischen Revolution setzt sich ein neues, differenziertes Bewusstsein für gesellschaftliche Mechanismen durch, das Interesse für jene von der Gesellschaft Ausgegrenzten steigt.
Und man entdeckt in ihnen Potenzial für große Opernstoffe: Mal verleiht sein Außenseitertum einem Opernbösewicht das nötige psychologische Profil, mal macht das Schicksal einer Ausgegrenzten diese zur Heldin. Jene Außenseiter, bei denen eine klare Zuschreibung von Gut und Böse nicht möglich ist, zählen zu den schillerndsten und interessantesten Figuren auf der Opernbühne: Rigoletto, der fliegende Holländer, Carmen oder auch Peter Grimes.
Wie wird man zum Außenseiter? Entscheidend ist das Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung: Wie nehme ich mich selber wahr, und wie sehen mich die anderen? Wie bestimmt diese Wahrnehmung den Umgang der anderen mit mir? Wie gründet sich mein Selbst in diesem Widerspiel? Wie definiert sich daraus mein Platz in der Gesellschaft? In diesem Sinne ist Alexander von Zemlinskys 1922 uraufgeführte Oper DER ZWERG das Außenseiterstück schlechthin. Seine Hauptfigur ist in mehrfacher Hinsicht ein Außenseiter, der Komponist selbst hat »Außenseitererfahrungen« autobiographisch verarbeitet.
Die Titelfigur ist ein kleinwüchsiger Mann, der als Sklave, wie ein dekorativer Gegenstand, der Infantin von Spanien zum Geburtstag geschenkt wird. Er ist für deren Hofgesellschaft eine unterhaltende Kuriosität und fesselt sie zugleich durch seine außergewöhnliche Begabung als Musiker. In einem kurzen Moment der Rührung schenkt die Infantin ihm eine Rose – was er als Liebesbeweis interpretiert.
Das Libretto basiert auf Oscar Wildes Kunstmärchen »Der Geburtstag der Infantin« und scheint Zemlinsky auch dadurch angesprochen zu haben, dass es ihn an eigene Erfahrungen der Zurücksetzung erinnert hat. Auch Zemlinsky war verhältnismäßig klein, eher schmächtig und nach einem oberflächlichen Schönheitsideal wenig attraktiv. Er verfiel Alma Schindler, der späteren Alma Mahler-Werfel, mit Haut und Haar – bevor sie ihn für den deutlich älteren Hofoperndirektor Gustav Mahler verließ. Und auch wenn Zemlinsky durchaus Erfolg bei den Frauen hatte, scheint ihn diese Beziehung zur Komposition des ZWERGS angeregt zu haben. Geboren wurde Zemlinsky 1871 als Kind einer sephardisch-jüdischen Familie in Wien, jener Juden, die von der iberischen Halbinsel vertrieben worden waren und sich zum Teil auf dem Balkan niedergelassen hatten. Das machte Zemlinsky auch noch im späten 19. Jahrhunderts zu einer Minderheit innerhalb einer Minderheit.
In einem Punkt unterscheiden sich jedoch Oper und Realität: Der Zwerg hat sich noch nie im Spiegel gesehen. Er weiß nicht um seine Kleinwüchsigkeit und dass er in den Augen der anderen ein Anderer ist. Das macht die Oper nicht nur zu einem Stück über einen Außenseiter, sondern über das Außenseitertum. Die tragische Fallhöhe seiner Existenz basiert auf jenem gestörten Verhältnis von Selbst- und Fremdwahrnehmung. Für ihn ist der Spott der anderen Beifall, der kurze Moment der Rührung ein glühender Liebesschwur.
Bis zum Schluss, wenn der Zwerg sich erstmals im Spiegel wahrnimmt. Eine existenzielle Erfahrung, die ihn so trifft, dass er tot zusammenbricht. Erst damit wird er in seiner eigenen Wahrnehmung zum Außenseiter.