Des Märchens zweiter Teil oder Arbeit an der Beziehung - Deutsche Oper Berlin
Des Märchens zweiter Teil oder Arbeit an der Beziehung
Wie DIE FRAU OHNE SCHATTEN wurde, was sie ist ... Ein Essay von Richard Erkens
Leicht ist die Frage nicht zu beantworten, was denn die Oper DIE FRAU OHNE SCHATTEN genau sei, die Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal am 10. Oktober 1919 in der ehemaligen k. u. k. Hofoper an der Wiener Ringstraße zur Uraufführung brachten, nachdem dieses Haus kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges und der Habsburgermonarchie als Wiener Staatsoper wiedereröffnet wurde. Der renommierte Franz Schalk, neben Strauss neuer Operndirektor, dirigierte erfolgreich eine umjubelte Premiere. Gleichwohl gaben schon zeitgenössische Kommentatoren eher zu viele als zu wenige Antworten.
In schwierigen Zeiten ein „Glanzpunkt in der Geschichte der Wiener Oper“ gewesen zu sein, bescheinigte Egon Wellesz der Aufführung in der Zeitung „Der Neue Tag“. Damit verlieh er der allgemeinen Grundstimmung Ausdruck, dass ein bemerkenswertes, gar historisch relevantes Werk vorläge. Diese Euphorie übertönte jedoch nicht die Stimmen, die ästhetische Unstimmigkeiten bemängelten, wie etwa den Kritiker der „Neuen Freien Presse“ (und Komponistenvater) Julius Korngold, der diese anhand des gestörten Verhältnisses von Libretto und Partitur erklären zu können meinte. Die „Schattenseite“ der FRAU OHNE SCHATTEN, so Korngold spitzfindig, sei Hofmannsthals „über allerlei Märchen- und Sagenelemente frei phantasiert[e]“ Handlung, retrospektiv konzipiert im Erbe der Wiener Zauberstücke und romantisch-orientalischer Märchenstoffe, aus denen einst und unerreicht das „Musikwunder“ von Mozarts ZAUBERFLÖTE hervorgegangen sei. Doch während eben Schikaneders „Einfalt […] sicherere Wege“ ginge, wäre Hofmannsthals „künstliches Gewebe mit Bedeutsamkeit belastet“ und seine „Anwaltschaft für Mutterschaft und Fortpflanzung“ der neuen Zeit nicht mehr entsprechend. Diese dichterische Schattenseite würde indes erhellt durch die „melodischen Tendenz[en]“ der Musik. Strauss, ebenso ein „modernes Übermaß der Mittel“ anwendend, böte gleichwohl das „Beste im Sinne einer schwelgerischen Manifestation der musikalischen Potenz als solcher, einer Entfaltung aller Seiten eines unvergleichlichen Meisterkönnens“. Was DIE FRAU OHNE SCHATTEN des namhaften wie erprobten Autoren-Gespanns alles sein könnte, brachten demnach die ersten Kritiker auf den – oder besser – gleich auf mehrere Punkte. Sie sei eine nach Anspruch, Inhalt und aufgewendeten Mitteln monumentale Oper, deren Komplexität – wohl unbeabsichtigt – die Frage nach ihrer Relevanz für die Zeit aufwirft. Gleichzeitig machte die Wiener Uraufführung unzweifelhaft deutlich, dass niemand mehr um dieses neue Werk einen Bogen machen konnte.
Das Spektrum der Antworten sollte sich bald weiter auffächern. Selbst die jüngste musik- und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung zeigt unermüdlich, welche Möglichkeiten zur Deutung und zur Spurensuche nach neuen Bezügen weiterhin gegeben sind. Während der kritische Adorno die intellektuellen Fähigkeiten von Strauss barsch und bissig zu einem industriellen „Produktionsapparat“ herabstufte, welcher einer motivgefütterten und dann opernausspeienden „Komponiermaschine“ gleiche, sprach Carl Dahlhaus der Partitur eine Partizipation an der musikalischen Moderne rundheraus ab. Mit der FRAU OHNE SCHATTEN hätte sich Strauss „unwiderruflich von der Moderne [getrennt], deren Repräsentant er, neben Mahler und Debussy, Reger und Schönberg, zwei Jahrzehnte lang gewesen war“. Würden Innovationen und radikale Dramaturgie des Nachfolgewerks INTERMEZZO (Dresden 1924) in diese Diskussion einbezogen, wäre diese Aussage zu modifizieren. Nicht weniger apodiktisch-überspitzt urteilte auch Michael Walter in seiner Strauss-Monographie aus dem Jahr 2000 über DIE FRAU OHNE SCHATTEN vor dem Hintergrund der ästhetischen wie intellektuellen Differenzen, welche bekanntlich die Zusammenarbeit von Strauss und Hofmannsthal lähmte wie stimulierte. Sie sei das Werk eines „grandiosen ästhetischen Scheitern[s]“. Damit zementierte Walter den Tenor einer Bewertung, welcher erstmals bei der Uraufführungskritik von Paul Bekker in der „Frankfurter Zeitung“ vom 17. Oktober 1919 zu lesen war, der angesichts dieser Oper gar den „Bankrott einer Weltanschauung“ erblickte. Ein Werk von Gestern also, um Stefan Zweig zu paraphrasieren?
Eine Querständigkeit zu progressiven Tendenzen der vor der Tür stehenden Nachkriegsjahre formulierte auch die Musikwissenschaftlerin Ulrike Kienzle in der 2023 erschienenen und damit jüngsten Aufsatzsammlung zur Entstehungsgeschichte (hrsg. von Thomas Betzwieser und Bernd Zegowitz) – indes ohne pejorative Beimischungen. Die zwar aus romantischem Geist miterdachte, gleichwohl von Hofmannsthal bewusst nicht als solche bezeichnete Oper sei „ein denkwürdiges und Ehrfurcht gebietendes Monument am Wendepunkt eines fundamentalen ästhetischen Umbruchs“. Rückwärtsgewandt erscheinen demnach vor allem die symbolgeladenen poetischen Bilder des Kunstmärchens, in welchem Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten mit Geisterwesen in phantastischen Landschaften interagieren. Sie schlagen einen märchentypischen Such- und Prüfungsweg ein mit dem Ziel, einen Ausweg aus einer existenziellen Krise zu finden – und finden ihn. Dies musste in einer durch millionenfache Kriegstote, politische Umstürze und durch soziale Umwälzungen erschütterten europäischen Gesellschaft verständlicherweise auch antiquiert erscheinen. Das Thema gestörter Ehe- und Beziehungskonstellationen – der Kern der Handlung – war und bleibt indes aktuell. Doch – so resümierte an gleicher Stelle die Literaturwissenschaftlerin Juliane Vogel mit Blick auf das zentrale Thema der Kinderlosigkeit und seiner Aufladung als Indiz und Ursache für glücklose Beziehungen wie mangelnde soziale Kompetenz – verlasse die „von Hofmannsthal konstruierte Therapieform“ die Ebene des konkreten Einzelfalls, von dessen symptomatischer Problematik er ausgegangen war. Lediglich „in kollektiven Formen“ würden sich Lösungen aussprechen, und diese seien mythologisch wie rituell verklausuliert: „Prüfungsritual, Elementenzauber und kosmische Chöre dienen der symbolischen Überwindung gleich mehrerer Ehepathologien“ – das entspräche einem poetisch-moralisierenden Finale, das beschränkt bleibt auf die emphatischen Mittel des Theaters und sich nur ins Allgemeine und Symbolische hinein artikuliert. Die Konfrontation einer derart artifiziellen Musik- und Literatursprache mit einer ‚entzauberten‘ Realität, deren Adressaten den Sinn dichterischer Bilder nicht mehr verstehen können oder wollen, ist tatsächlich problematisch. Oder – positiv gewendet – sie wäre eine überzeitliche, gleichsam klassische Qualität der Oper, da doch, folgt man dem Librettologen Albert Gier (auch 2023), ihr intellektueller Anspruch und ihre Psychologisierung wie Erotisierung „das Märchen zum Welttheater“ überhöhen würden.
Nicht jedes Musiktheaterstück provoziert eine derartige Vielzahl an Antworten, wie allein diese freie Zusammenstellung zeigt – doch damit nicht genug. Schon Hofmannsthal und Strauss äußerten eine bemerkenswerte Bandbreite an eigenen Deutungen während der ungewöhnlich langen Entstehungszeit zwischen 1911 und 1917 und auch noch nach der Uraufführung. DIE FRAU OHNE SCHATTEN ist ein Werk, das zum Kommentar drängt, Reflexion forciert.
Hauptwerk – Schmerzenskind – letzte romantische Oper
Strauss und Hofmannsthal diskutierten nach dem Erfolg des ROSENKAVALIER (Dresden 1911) neue Opernvorhaben nicht nur in stofflicher Hinsicht. Der Briefwechsel bezeugt auch ihr Nachdenken in besonderen Kategorien: Nach der „Komödie für Musik“ und einer „Zwischenarbeit“, womit der Dichter am 20. März 1911 die Arbeit an der ARIADNE AUF NAXOS (Stuttgart 1912, erste Fassung) klassifizierte, sollte wieder etwas „Großes“ mit einer „bunte[n] und starke[n] Handlung“ entstehen, so im Brief vom 12. März 1911. Das Sujet für das „gemeinsame Hauptwerk“, wie es dann später hieß, war aber nicht so leicht gefunden. Strauss dachte wie bereits schon Jahre zuvor an eine Semiramis, Hofmannsthal aber entwarf ein „Zaubermärchen“ bzw. ein „phantastisches Schauspiel“, so seine Notiz vom 26. Februar 1911. Es solle eine Prüfungs- und Läuterungshandlung in motivischer Verwandtschaft auch zur ZAUBERFLÖTE haben. Für zwei Paare bedeuten Beziehung und Kinderplanung einen Konflikt: Eine Feentochter (Kaiserin), ungewollt kinderlos, entwickelt Schuldgefühle angesichts einer erzwungenen Adoption, und die eigentliche Mutter (später: Färberin) gibt ihr Kind um das Versprechen körperlicher Jugend zunächst freiwillig ab. Hohe und niedere Sphäre denkt sich Hofmannsthal zunächst kontrastierend in verschiedenen Theatertraditionen: Die Commedia dell’arte-Figuren Arlekin und Smeraldine sollten das „lustige Paar“ darstellen, dann Figuren aus dem Wiener Volkstheater als Dialektrollen, um sich deutlich vom „Kaiserpaar“ abzusetzen. Später gewinnt das orientalisch-asiatische Kolorit die Oberhand, wird mit Figuren aus dem Färbermetier eine Menschenwelt geschaffen, die nichts mehr rollentypisch Komisches an sich hat, sondern vielmehr die ästhetisierende Variante eines schmutzigen Arbeitsmilieus darstellt.
Neben zwei sozialen Welten ergänzte der Einbezug einer Geistersphäre den dramaturgischen Grundplan zum mehrschichtigen Hauptwerk und schuf mit ihr ein Symbolgeflecht, das titelgebend dominiert wird durch den fehlenden Schatten einer Feentochter, der „Zeichen und Bezeichnetes“ zugleich ist, wie der Dichter in der selbstverfassten Handlungszusammenfassung erklärt. Der umfassend belesene Hofmannsthal kreierte auf diese Weise ein Kunstmärchen, das sich aus diversen literarischen Stoffvorlagen und mythologischen Topoi neu zusammensetzte. Darunter finden sich die Motive der gestaltwandlerischen Feentochter, der Versteinung des Gatten, der Mond- und Schattensymbolik und der gewollten bzw. ungewollten Kinderlosigkeit. Nach Albert Gier erweist sich das Libretto „als Montage aus mindestens vier verschiedenen Referenztexten“ (2023), nämlich aus den „Fiabe“ von Carlo Gozzi („Il corvo“ und „La donna serpente“), dem „Anna“-Gedichtzyklus von Nikolaus Lenau von 1838 und Emanuel Schikaneders Libretto zur ZAUBERFLÖTE – „mindestens“, das sei wiederholt. Hofmannsthal, der mit dem berühmten Chandos-Brief von 1902 die moderne Sprachkrise und den Bedeutungsverlust dichterischer Ausdrucksmittel thematisierte, steigerte sich gleichsam kompensierend in eine poetische Bildersprache, in ein Vexierspiel aus Mythologemen und Märchenmotiven hinein, die ihn selber wiederum zum sprachlichen Ausdruck drängte. Neben dem funktionalen Textbuch für die Musik von Strauss arbeitete er gleichzeitig daran, DIE FRAU OHNE SCHATTEN als Erzählung erweiternd auszugestalten – ein einmaliger Vorgang in seinem künstlerischen Schaffen. Die rein literarische Version erschien 1919 im Jahr der Uraufführung der Oper.
Dass die geplante Opernhandlung immer komplexer wurde, mochte Strauss zunächst nicht vorausgesehen haben. Während der parallelen Arbeiten an ARIADNE AUF NAXOS wie am Ballett JOSEPHS LEGENDE (Paris 1914) auf der Suche nach Neuem ließ er sich leicht von diesem farbenreichen Stoff mit vielen bühnentauglichen Szenen anstecken, von dem ihm der Dichter wiederholt erzählte, ohne indes schon einen Textentwurf vorlegen zu können. Den eigentlichen Durchbruch und Kompositionsbeginn markiert eine Italienreise im Frühjahr 1913, die möglicherweise auf Initiative von Pauline de Ahna, der Frau des Komponisten, gemeinsam unternommen wurde. Sie ahnte wohl, dass die Planungen am „Hauptwerk“ ins Stocken geraten waren und neue Impulse benötigten. Die Herren fuhren indes ohne Begleitung ihrer Ehepartnerinnen; der äußere Grund war mangelnder Platz im Automobil des Komponisten. Und als Urlaubsreise lässt sich die Fahrt auch nicht bezeichnen, begleitete doch Hofmannsthal vielmehr Strauss nach Rom, wo dieser einer Dirigierverpflichtung im Augusteo nachkam. Zeit für zwangslosen Austausch und gemeinsame Überlegungen gab es während den rund 2000 Reisekilometern aber reichlich, und so vermeldete Strauss seiner Frau gleich nach Ankunft in der italienischen Hauptstadt am 5. April 1913: Hofmannsthals „neuer Entwurf verspricht Außerordentliches!“, er sei „edel, großartig, reif und interessant, mit prachtvollen dramatischen, sittlichen Problemen, herrliche scenische Vorgänge“. Zwar erhielt der enthusiasmierte Strauss komponierfertige Textpassagen nur zögerlich und scheibchenweise – der erste Teil des I. Aktes erreichte ihn am Jahresende 1913 –, doch notierte er bereits während der Italienreise erste motivische Einfälle, also lediglich mit Kenntnis der dramaturgischen Rohfassung und skizzierter Charakterzüge der Protagonisten, aber eben gänzlich ohne Textgrundlage. Dies konnte der jüngste Stand der Skizzenforschung inzwischen nachweisen. Die Reise war für Strauss, so resümiert Olaf Enderlein, Experte in Sachen musikalischer Werkgenese, auch „Movens in Bezug auf Eingebung und Ausformung des Materials“ (2023). Mit diesem arbeitete er dann stringent weiter, sobald er eine neue Textlieferung erhielt, so dass die Reinskizze (also der autographe Klavierauszug) eines Aktes immer schon vollendet war, bevor ihm die Texte eines weiteren Aktes zugesandt wurden. Gut ein halbes Jahr, nachdem Strauss den Binnenakt komponierte hatte und parallel an der Instrumentierung arbeitete, schickte Hofmannsthal endlich im April 1915 den Text zum letzten Akt. Die Leichtigkeit der Italienreise war Vergangenheit, Europa versank im Krieg, der Dichter wurde zum Militär einberufen.
Die äußere Krise traf auf eine innere, denn das Ringen um den Finalakt ließ das Hauptwerk zu einem „Schmerzenskind“ werden, das „in Kummer und Sorgen während des Krieges“ vollendet wurde, so Strauss in einer biographischen Aufzeichnung aus dem Jahr 1942. Der Komponist befürchtete nach Lektüre des handlungsarmen Schlussaktes, dass „der Stoff und seine Motive schwer verständlich“ seien und dass „recht eindringlich die entscheidenden psychologischen Vorgänge“ besonders hinsichtlich der Entwicklung der Kaiserin zunächst rekapituliert werden müssten wie in den Werken Richard Wagners, „damit auch nichts im Dunkeln bleibt“. Dass Strauss hier auf Verständlichkeit insistierte, ist insofern bemerkenswert, da doch zuvor Hofmannsthal nicht müde wurde, dem Komponisten in Erinnerung zu rufen, dass von den fünf Protagonisten eigentlich „die Kaiserin, im geistigen Sinn, die Hauptfigur und ihr Schicksal der Motor des Ganzen ist“ (Brief vom 22. April 1914). Die zahlreichen Kommentare, die der Dichter in Briefen an den Komponisten als Erklärungen und Selbstdeutungen anhäufte, waren indes derart nuancenreich, dass sie widersprüchlich gelesen werden konnten. So legte er ihm zuvor einmal dar, dass eigentlich die Färberin (nicht die Kaiserin) als Hauptfigur zu verstehen sei, „eine bizarre Frau mit einer sehr guten Seele im Grund, unbegreiflich, launisch, herrisch, und dabei doch sympathisch“ (Brief vom 20. März 1911). Und genau diesen Charakter glaubte Strauss während der Arbeit am II. Akt, im Gegensatz zu Barak, nicht richtig in Musik übersetzt zu haben. Auch bereitete ihm so manch andere Stelle im Färbermilieu, wie etwa der ‚Fischzauber‘ bzw. der Gesang der Ungeborenen aus der Pfanne, kompositorische Sorgen. Während der Ausarbeitung des von inneren Vorgängen dominierten Finalaktes resümierte Strauss schließlich das Gefühl der Unzulänglichkeit, ja der Entfremdung von dem einst so euphorisch begrüßten Stoff: „Figuren wie Kaiser und Kaiserin nebst Amme sind nicht mit so roten Blutkörperchen zu füllen wie eine Marschallin, ein Octavian, ein Ochs“, schrieb er dem Dichter am 28. Juli 1916; bei aller geistiger Anstrengung bleibe „ein Hauch akademischer Kälte drin“. Sein zunächst unveröffentlicht gebliebenes, bis heute vieldiskutiertes Fazit lautet weiter: „wir wollen den Entschluß fassen, DIE FRAU OHNE SCHATTEN sei die letzte romantische Oper“. In diesem Sinne schloss er die Instrumentation im Juni 1917 ab – an eine Uraufführung war vorerst nicht zu denken.
Des Märchens zweiter Teil
Nicht erst am Ende der Entstehungsphase findet sich ein derartiger Verweis auf die Romantik im Briefwechsel zwischen Dichter und Komponist. Und dass DIE FRAU OHNE SCHATTEN Gemeinsamkeiten mit der romantischen Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besitzt, ist nach gängiger Definition offensichtlich, wonach menschliche Charaktere in wundersamer Weise mit Geschöpfen eines Geisterreiches zusammentreffen. Die Ehe zwischen irdischem Kaiser und überirdischer Feentochter rekurriert auf das Motiv der Marthenehe, an die stets ein Tabu oder ein besonderes Gebot – hier die Jahresfrist für den Erwerb des Schattens – gebunden ist. Der Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken hat gezeigt, dass der Rekurs auf das Romantische „alles andere als eine Äußerlichkeit oder Oberflächlichkeit“ (2023) darstellt, sondern als „chiffrenhafte Spiegelung“ dessen zu verstehen sei, was Hoffmannsthal mit dem Begriff des Allomatischen auszudrücken versuchte: nämlich einer Aufhebung des Ichs im Anderen, einer Zurückstellung eigener Individualität. Erstrebenswertes Ziel sei demnach nicht mehr die romantische Entgrenzung ins Metaphysische, das Heranreichen an das Absolute, sondern das Aufgehen im und für das Soziale. Folglich deutete Hofmannsthal in seinen autobiographischen Notizen „Ad me ipsum“ DIE FRAU OHNE SCHATTEN auch als „Allegorie des Sozialen“. Lütteken sieht diesen leitenden Gedanken auch klangästhetisch durch Strauss gespiegelt im sanften Verklingen der zunächst triumphalen C-Dur-Kadenz am Ende. Die Musik führe nicht zur Lösung, sondern vollziehe selbst eine Aufhebung, würde „zur vagen Anschauung“. Auch diese mögliche Antwort nach dem Wesen des Werkes hilft als begrifflich-abstrakter Schlüssel zum besseren Verständnis, an welchen Konflikten denn die Figuren überhaupt leiden und welche Entwicklung ihre Beziehungen durchlaufen. Es geht grundsätzlich um Arbeit an sozialer Kompetenz in der eigenen Beziehung, so ließe sich heute sagen, doch das in der Sprache poetischer Bilder.
Ein flüchtiger Blick in die Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen, die nicht zuletzt auch Pate standen für die märchenhaften Elemente in der FRAU OHNE SCHATTEN, genügt, um sich zu erinnern, dass viele Märchen das Thema der Ablösung vom Elternhaus, des Heranreifens zum erwachsenen Menschen und zur erotischen-sexuellen Autonomie behandeln mit dem Versprechen, dass das gute Ende einer komplexen, bisweilen auch verstörenden Entwicklung immer möglich sei. Doch das Bild der glücklichen Hochzeit, mit dem so viele Märchen wie Märchenopern enden, fehlt hier. Hofmannsthal zeigt Paare, die bereits seit einem bzw. seit einem Dreivierteljahr verheiratet sind. Die einen sind im Luxus eines müßigen, selbstverliebten Nichtstuns erstarrt, die anderen im Nebeneinander eines kräftezehrenden, routinierten Arbeitslebens. Der Zustand der Kinderlosigkeit, des fehlenden oder feilgebotenen Schattens, beschreibt auch die Isolation, in welcher jede Figur auf ihre Art gefangen ist und welche eine gewollte, zwangslose Öffnung ins Soziale, um mit Hofmannsthal zu sprechen, verhindert. DIE FRAU OHNE SCHATTEN zeichnet diesen Weg nach und ist damit quasi des Märchens zweiter Teil – im weitesten Sinne auch mit Blick auf DIE ZAUBERFLÖTE. Wie kann eine dauerhaft glückliche Beziehung möglich werden, der „Knoten des Herzens gelöst“, wie es im Libretto heißt? Das Thema der Ungeborenen, dem in der Version der Erzählung gar ein noch viel größerer Raum gegeben wird, steht damit nicht allein für den äußerlichen Kitt einer sich verhärtenden Beziehungskrise, sondern meint auch den generellen Bezug vom Ich zum Sozialen, zur Bereitschaft der Zurücknahme des Eigenen zugunsten einer menschlichen Gemeinschaftsvision. Hofmannsthal denkt diese im zyklischen Wechsel von Jung und Alt, von Geburt und Tod. Er transformierte quasi das Erschrecken über das Älterwerden, welches die Marschallin im ROSENKAVALIER erfasst, in die positive Gewissheit über den universellen Kreislauf alles Menschlichen: Wäre jemals ein Fest, so die Zeilen des Schlusschores, wären die Ungeborenen Gäste wie Wirte zugleich. Damit sind – wahrlich umfassend – alle beseelten Wesen gemeint, ungeachtet eines aktuell irdischen oder überirdischen Zustandes.
Das Versprechen eines Märchens auf den guten Ausgang eines Konflikts löst auch die Dichtung Hofmannsthals ein im Bild von starken Schatten, die nun so tragfähig geworden sind, dass die Paare über sie laufend wieder zueinander finden. Und gleichwohl er ein Kunstmärchen erschuf, ist die Lektüre seiner konzentriert zusammengesetzten poetischen Bilder als Ausdruck innerer Vorgänge und Empfindungen der Personen, insbesondere der Hauptfigur der Kaiserin, legitim. Ihre Verwandlung von einer Gazelle zu einer schönen Frau durch gewaltsame Jagd mit verletztem Falken wäre als Bilder von Defloration und erstem sexuellen Lustempfinden zu lesen; ihr eifersüchtig umwachtes Dasein im kaiserlichen Palast als der von Elternsphäre (Geisterreich) und Partner (Kaiser) geduldete wie gewollte Zustand einer künstlerischen Isolation; ihr mütterlich begleiteter, heimlicher Gang in die Niederungen der Menschenwelt als ein Weg der Emanzipation und der entstehenden Mitleidsfähigkeit, der schließlich mit der finalen Auseinandersetzung und dem Bruch mit der Elternsphäre (Geisterbote in Stellvertretung von Keikobad sowie die Amme) zu einem selbstbestimmten Leben wird. Durch diesen Weg gelingt es ihr schließlich, auch die Versteinung ihres Partners zu überwinden – also seine Isolation und Beschränkung, ihr nur der besitzergreifende Liebhaber sein zu können. Seine Worte im Finale drücken diesen Wandel aus: „Du hast dich überwunden.“ Ihr „Herz aus Kristall“ ist ebenso zersprungen, das ist seine Erkenntnis, wie sein Zustand der zunehmenden Verhärtung in einer Beziehung, die bislang nur darin bestand, die „Trunkenheit der ersten Stunde“ festhalten zu wollen in der ständigen Wiederholung ‚unfruchtbarer‘ Liebesnächte. Arbeit an der Beziehung meint auch ein Reagieren auf Veränderung, und das gelingt durch einen gleichsam selbsttherapeutischen Gang der Kaiserin zurück zur patriarchalischen Sphäre, zu den Mondbergen ihrer Kindheit, von denen sie sich zunehmend befreit und deren Gesetzen sie sich schließlich widersetzt. Ihr Schrei: „Ich – will – nicht“ ist Ablösung und Lösung zugleich. Auch diese Szene lässt sich als innerer Vorgang begreifen, der in das phantastische Bild eines Felsentempels übertragen ist, doch kein reales Strafgericht meint (Keikobad tritt als Figur niemals auf), sondern eine individuelle Entscheidung der Kaiserin markiert. Hofmannsthal legt den Schlüssel zu einer derartigen Lesart in manchen Passagen im Text bereit: „Aus unseren Taten steigt ein Gericht!“, singt die Kaiserin „verklärt und entschlossen“ am Eingang zum Tempel, „Aus unserem Herzen ruft die Posaune, die uns lädt“.
Imaginäre Bilder in Musik
Diese vielschichtigen Bedeutungsebenen von Text und Szene – allein neun Szenenwechsel schreibt die dramaturgische Gesamtdisposition der drei Akte vor – übersetzte Strauss in eine Musik, die diesen Sinn- und Symbolwelten nicht nur gewachsen ist, sondern diese noch weiter ausdifferenziert. Dazu bot er – einem „Hauptwerk“ auch äußerlich angemessen – eine der größten Orchesterbesetzungen auf, welche die Operngeschichte bis dato kannte: eine 16er Streicherbesetzung mit durchgängig vierfacher Bläserbesetzung (und zusätzlichen vier Tenortuben) wird mit einem üppigen Schlagapparat (inklusive chinesischen Gongs für das Lokalkolorit der südöstlichen Inseln) und einem Bühnenorchester erweitert, das alleine jeweils sechs weitere Trompeten und Posaunen benötigt. Mit diesem Instrumentarium erschafft Strauss eine musikalische Ereignisdichte, die beim erstmaligen Hören kaum bis ins letzte Detail wahrnehmbar ist. Dennoch wirkt sie kontinuierlich unterschwellig und erschließt, bei größerer Vertrautheit mit der Partitur, zusätzliche Dimensionen imaginärer Bilder in Musik. Die Szene vor dem Geistertempel (2. Szene, III. Akt), in welcher die Kaiserin die obengenannte Bereitschaft aufbringt, das väterliche Regelwerk endgültig für sich auf den Prüfstand zu stellen, sei hier als eines von vielen Beispielen genannt, welche Bedeutungsebenen Strauss dieser Passage beizugeben vermochte. Auf die traditionelle Klangsemantik der Posaune als Instrument des Todes, der Apokalypse und des letzten Gerichts vertraut natürlich auch Strauss, wenn er den auf zwei Oktaven gedehnten ‚Angstschrei‘ der Kaiserin („Zur Schwelle des Todes!“) mit düsteren Klängen des Posaunenchores beantwortet. Zuvor hatten sie bereits mit unerbittlich scharfen Fanfarenstößen den Angstraum strafenden Untergangs klanglich zementiert. Doch das Posaunen-Unisono, das als Bühnenmusik plötzlich aus dem Tempelinneren zu kommen scheint und die ‚innerliche Umdeutung‘ der Posaune durch die Kaiserin motiviert wie illustriert, wird in klanglicher Aufhellung (Tenorposaunen plus Trompeten) und in aufsteigender Dreiklangsumspielung von B-Dur hörbar: „Aus unseren Taten steigt ein Gericht!“. Die beginnende Emanzipation der Kaiserin wird klangdramaturgisch flankiert; die unheilvollen Fanfarenstöße der Orchesterposaunen sind zwar noch nicht gänzlich verschwunden, aber unter den choralartigen, zuversichtsgesättigten Melodiebögen bereits in den klanglichen Hintergrund verschoben.
Auf diese Weise gelingt es Strauss nahezu durchgängig, verschiedene musikalische Bedeutungsebenen gleichzeitig zum Sprechen zu bringen. Doch damit nicht genug: Spiegelt sich die situative Psychologie der Figuren somit in abschattierten orchestralen Klangschichten, so erweitert Strauss überdies den Bedeutungsraum für musikhistorisch geschulte Ohren und setzt markante Verweise. Betritt schließlich die Kaiserin das Tempelinnere nach der stürmischen Verwandlungsmusik zum vorletzten Bild, erklingt mit den „feierlich gemessen“ zu spielenden, punktiert-abwärtsschreitenden d-Moll-Streicherskalen ein Zitat aus Mozarts Requiem („Rex tremendæ majestatis“), gefolgt von einer Fortschreitung des ‚versöhnlichen‘ Posaunenmotivs in Form eines einfachen Quintaufstiegs, der sphärisch-schwebend wird durch die helle Klangkrone der Flöten im Pianissimo. Unverkennbar ist dies eine Reverenz an die Grals-Motivik aus dem PARSIFAL. Strauss erinnert also an seine eigenen, wichtigsten Bezugspunkte als Komponist, an Mozart und an Wagner, und assoziiert durch subtile Zitation die Themen von Tod und Erlösung, um dann der Hauptfigur seine eigene, ‚menschliche‘ Klangfärbung zu geben: Unmittelbar folgend schwingt sich die Solovioline über einem geteilten Streicherteppich mit dem girlandenhaften Motiv der Kaiserin weit und warm auf. Hier gilt es also weniger, eine reale Prüfung nach Geistergesetzen vor schier unerträglicher Angstkulisse zu bestehen, sondern mit sich selbst und dann mit den anderen ins Reine zu kommen. Die imaginären Bilder der Strauss’schen Musik potenzieren den ohnehin weiten textlichen und visuellen Bedeutungsraum – und konkretisieren ihn zugleich.
Konkret wird die Musik des Weiteren durch eine Vielzahl von Motiven, nämlich ‚klassische‘, den musikalischen Formverlauf konstituierende Leitmotive im Erbe Wagners. Sie stehen in erster Linie für die Figuren und ihre Charaktereigenschaften und besitzen aufgrund ihrer Prägnanz und Kürze eine hohe Wandlungs- und Kombinationsfähigkeit. Damit lässt Strauss den Orchestersatz zu einem vielstimmigen Kommentator der Handlung werden. Zu den markantesten Motiven gehört das dreitönige, dem Sprachrhythmus von Keikobad nachgeformte Motiv des Geisterkönigs. Dreimalig in den tiefen Registern von Posaunen und Tuben angeschlagen, eröffnet es die Oper und garantiert dieser zentralen, aber stets unsichtbaren Figur eine imaginäre Präsenz. Von gleicher Eindringlichkeit ist das Motiv des Falken, dessen Simplizität – eine mit monotonen Vorschlägen rhythmisierte Tonrepetition – ein schicksalhaftes Ende der Beziehung prophezeit, als wäre es unumstößliches Geistergesetz, dessen Starre jeder harmonischen Progression trotz und damit die schärfsten Klangreibungen hervorruft: „Die Frau wirft keinen Schatten, der Kaiser muß versteinen!“. Doch Strauss modelliert den Vogel, der Symbol auch der gewaltsam-sexuellen Dimension der Beziehung des ‚hohen‘ Paares ist, mit noch einem zweiten, vordergründig gestischen Motiv, das dem Flügelschlag des Tieres nachgezeichnet ist. Ein sich glissandohaft ins hohe Register auffächernder Akkord meist im Klanggewand von Geigen und Flöten erhält durch die Spieltechnik der Flatterzunge zusätzliches Charisma, welches besonders den großen Monolog des Kaisers vor dem Falknerhaus (2. Szene, II. Akt) dominiert. Instrumentatorisch intensiviert wird dieses zweite Falke-Motiv zur unmittelbaren Antwort der Klagerufe des Kaisers: „Wehe, o weh!“. Jenseits von Text und Szene etabliert Strauss also weitere Kommunikationsebenen dank der imaginären Kraft seiner musikalischen Sprache.
Deren Vokabular besteht in der FRAU OHNE SCHATTEN aber nicht bloß aus solch kurzen Motivfloskeln, die Strauss in erstaunlicher Agilität auch in die komplexesten Orchesterpassagen integriert. Er stellt diesen weite melodische Bögen an die Seite, die nicht weniger motivische Qualität besitzen und für individuelle Merkmale der Figuren stehen. Interessanterweise profitieren davon besonders die männlichen Personen. Die leidenschaftliche Kantilene des Kaisers, mit welcher er die Verwandlung der weißen Gazelle zur Frau erinnert – also ihre erste Liebesnacht –, erklingt so rauschhaft wie das Erinnerte selbst gleich beim ersten Auftritt des Kaisers: „und in meinen Armen rankte ein Weib!“. Dagegen haben die lyrischen Phrasen Baraks – motivisch dazu verwandt – vorzugsweise volksliedhaft-harmonischen Charakter, mit welchem die holprig-‚chromatische‘ Flatterhaftigkeit seiner zänkischen jungen Frau klangdramaturgisch kompensiert wird. Zwei charakterliche Extreme treffen auf Menschenebene aufeinander und erhalten von Strauss eine entsprechend kontrastierende musikalische Zeichnung in Verzahnung von motivischen Partikeln und orchestralen Farbnuancierungen, die mit Blick auf die gesamte Oper eine schier unerschöpfliche Bandbreite an Klangvielfalt bieten. Kontraste durchziehen programmatisch die gesamte Partitur: Enorm gesteigerte klangintensive Passagen des gesamten Orchesterapparats (besonders am Ende des II. Aktes) treffen auf feingliedrige, kammermusikalische Gebilde (besonders zur Zeichnung des Feencharakters der Kaiserin); simplen diatonen Melodielinien im Unisono (erstmals Barak: „Erwartung und Freude im Herzen“) stehen dissonante Klanggewebe mit komplexer Orchesterkontrapunktik (besonders bei der Amme) gegenüber; Orchesterzwischenspiele von hoher atmosphärischer Wandelbarkeit wechseln ab mit feingliedrigen illustrativen Passagen, in denen Strauss dem luxurierenden Klangapparat samt Harfen, Celestas, Glasharmonika und Orgel eine neue Bildhaftigkeit zu entlocken wusste, wenn beispielsweise der verführerische Jüngling der Färberin entgegentritt (II. Alt), die Stimmen der Ungeborenen zu vernehmen sind oder der phantastische Brunnen im Geistertempel erscheint, in welchem das „Wasser des Lebens“ golden funkelt. Die Symbolsprache des Librettos bereicherte Strauss mit einem Spektrum an klangsymbolischer Fülle und orchestraler Komplexität, welche auch im Œuvre des Komponisten einen singulären Platz einnimmt.
Ungeachtet aller Besorgnis während der Fertigstellung des „Schmerzenskindes“ blickte Strauss in seinen späteren Jahren mit besonderer Wertschätzung auf sein „Hauptwerk“. Ein ästhetisches Problem schien ihm jedoch nicht überzeugend gelöst, nämlich seine musikdramaturgische Entscheidung, die Klimax der Handlung – also den Entschluss der Kaiserin, die väterlichen Regeln und Lösungsangebote angesichts ihrer neugewonnenen Erfahrungen zu verneinen – als Melodram zu behandeln, also in der Kombination von gesprochenem Wort mit kurzen instrumentalen Einschüben. Dem „qualvolle[n] stöhnende[n] Schrei“, so die Regieanweisung, also dem herzerweichenden und kristallzerspringenden „Ich – will – nicht!“ der Kaiserin, entzog Strauss die operndefinierende Ausdruckskraft des Gesangs. Der ästhetische Bruch im Darstellungsmedium und das Gefühl der Ernüchterung wiegen umso schwerer, als die Massierung rauschhafter Klangfülle zuvor ja wie beschrieben an ein Maximum herangeführt wurde. Der Färberin war es am Ende des II. Aktes mit ihrer Kantilene „Barak, ich hab es nicht getan!“ – eine entwicklungspsychologisch analoge Aussage zu dem der Kaiserin – noch gegeben, sich mit einem vokalen Höhepunkt auszusprechen, der im Erbe heroinenhafter, selbstentäußender Musikpassagen steht. Für die Kaiserin im Folgeakt wäre eine musikdramaturgische Steigerung nötig gewesen, welche die Gefahr mit sich brächte, sich in einer Redundanz der Mittel zu verlieren. Der Bruch zum gesprochenen Wort und zur Reaktivierung der alten Form des Melodrams (auf die sich bekanntlich zuvor schon Arnold Schönberg, wie etwas später dann auch Igor Strawinsky und Alban Berg berufen sollten) bedeutete besonders im Kontext der opernhistorischen Positionierung als „letzte romantische Oper“ eine bemerkenswert moderne Radikalität. Inhaltlich begründen lässt sie sich allemal, widersetzt sich doch die Kaiserin in ihrer existenziellen Krisensituation und in ihrem absoluten Ringen um die Beziehung zu ihrem Partner allen alten Gewissheiten, welche die Isolationen der Figuren – wider allen anderslautenden Beteuerungen – mit verursacht haben. Dieses lösende Heraustreten aus dem bisherigen Modus der Äußerung – dem empathischen Gesang – hin zur Sprache und zum Schrei, der nicht in ‚veristischer‘ Manier mit vokalästhetischen Mitteln verbrämt erscheint, besitzt eine zwingende dramaturgische Folgerichtigkeit. Sie wird zum substanziellen Teil der farbengesättigten Monumentalität der FRAU OHNE SCHATTEN und erhöht neben den vielen aufführungspraktischen Herausforderungen auch die Anforderungen an die Interpreten. Dem nachhaltigen Erfolg der Oper stand und steht dies alles nicht im Wege – vielmehr findet er dadurch Erklärung und Begründung.