Die Kulissen sind empfindlich wie Pergament-Papier - Deutsche Oper Berlin
Ein Essay von Martina Helmig
Die Kulissen sind empfindlich wie Pergament-Papier
Für die Wiederaufnahme von „La Gioconda“ in Filippo Sanjusts Inszenierung werden historische Prospekte behutsam restauriert. Ein riesiger Bühnenprospekt aus dem 19. Jahrhundert liegt auf dem Boden der Tischlerei. Zwei Dekorateure knien darauf, suchen den richtigen Sepia-Farbton und bessern schadhafte Stellen aus. „Eigentlich gehört so etwas nicht auf die Opernbühne, sondern ins Museum“, überlegt der technische Produktionsleiter Manfred Rohwedder. Bevor „La Gioconda“ auf den Spielplan kommt, muss diese ganz besondere historische Dekoration jedes Mal überarbeitet werden. Jetzt ist es wieder soweit: Ab 19. Januar singen Hui He, Marianne Cornetti, Marcelo Alvarez und Lado Ataneli die Wiederaufnahme von Amilcare Ponchiellis Oper unter Jesús López Cobos’ Leitung.
Diesmal hat sich die Geschäftsleitung entschlossen, den Bühnenbild-Schatz gründlicher zu restaurieren. Schließlich gibt es so etwas an der Deutschen Oper Berlin kein zweites Mal. Der ursprüngliche Fund war ein Glücksfall. Der Bühnenbildner und Regisseur Filippo Sanjust besuchte Anfang der 70er-Jahre die Dekorationswerkstatt seines italienischen Kollegen Camillo Parravicini. Dort stieß er auf die historischen Prospekte, die ihn sofort faszinierten. Sie stammten aus der Entstehungszeit der 1876 uraufgeführten Oper „La Gioconda“. Auch die Kostümentwürfe waren erhalten, und so machte sich Sanjust für die Deutsche Oper Berlin an die Rekonstruktion der Uraufführung. 1974 feierte Berlin die Wiederentdeckung einer in Deutschland vergessenen Oper, und auch 40 Jahre nach der Premiere übt die opulente historische Ausstattung ihren besonderen Zauber aus.
Wenn man die Bilder aus der Nähe betrachtet, sieht man die Brüche und Falten in den alten Prospekten, den abgeplatzten Lack und sogar große Risse. Marion Reddmann und Roman Koch haben viel Erfahrung im Restaurieren von Bühnenbildern. An der Deutschen Oper Berlin haben die beiden Berliner Dekorateure schon oft gearbeitet, für solche Spezialaufgaben engagiert der Produktionsleiter sie gern. Mit kleinen Pinseln bessern sie liebevoll die Schäden an den Farben aus. Von hinten stabilisieren sie die Gemälde, indem sie Spezialleim auftragen und die defekten Stellen neu mit Nessel bekleben. Der Nesselstoff wird vorher gewaschen, weil er dabei um fünf Prozent einläuft. Falten bringen die Dekorateure zum Verschwinden, indem sie die Stellen auf der Rückseite nass machen. Am Ende muss alles mit der Sprühpistole imprägniert werden, damit es nicht so leicht in Brand geraten kann.
Bei der ursprünglichen Restaurierung in den 70er-Jahren machte man einen Fehler. Man benutzte einen Leim, der im Lauf der Zeit aushärtet. Das führte dazu, dass die ganze Dekoration heute dünn und brüchig wie Pergamentpapier ist. „Sie können mit dem Finger einfach durchstoßen“, erklärt Produktionsleiter Rohwedder. Umwelteinflüsse und Lagerung schaden den alten Bildern ebenfalls. Vor allem Temperaturschwankungen nehmen sie übel. Im Prospektlager achtet man auf Trockenheit und optimale Temperaturen von 21 bis 23 Grad. Bei den Vorstellungen geht es den Leinwänden weniger gut. Dann hängen sie in Prospektzügen, die nach oben in den Schnürboden fahren. Dort herrschen ganz andere Temperaturen, weil die Wärme nach oben steigt. Außerdem erhitzen die Scheinwerfer manche Stellen mehr als andere und machen sie mürbe.
Vor der Premiere 1974 mussten die historischen Prospekte an die Maße der Deutschen Oper angepasst werden. Manche mussten höher und breiter werden, dann wurde etwas dazugemalt. Ein Fachmann wie Manfred Rohwedder, der selbst gelernter Theatermaler ist, sieht am Pinselstrich, welches grüne Blatt aus dem 19. und welches aus dem 20. Jahrhundert stammt. Der Laie wird die Unterschiede nicht erkennen. Groß ist allerdings der Unterschied zwischen der historischen Dekoration von 1876 und heutigen Bühnenbildern. „Damals wurde alles nur gemalt, der Theatermaler war meist gleichzeitig der Bühnenbildner“, erklärt Rohwedder. „Heute würde man einen Raum bauen.“ Aus zweidimensionalen Gemälden sind längst massive Bühnenbauten geworden. „Die Sehweise des Zuschauers hat sich verändert, auch durch Film und Fernsehen. Man ist gewohnt, realistische Häuser und Säle zu sehen. Früher lösten die Pinselstriche entsprechende Assoziationen aus.“
Reparaturen an den Dekorationen gehören im Opernhaus zum Alltag. Vorhänge reißen, Bühnenwände fallen um. Wenn „Hänsel und Gretel“ abgespielt ist, müssen die Bodentücher erneuert werden. Meist übernimmt der Bühnenservice der drei Berliner Opernhäuser in Friedrichshain die Aufarbeitung. Mit dem historischen Bühnenbild von „La Gioconda“ geht man so schonend wie möglich um. Weil die Techniker weite Transportwege scheuen, findet die Restaurierung ausnahmsweise in der Tischlerei statt, die sonst als kleine Spielstätte genutzt wird. Vom Lager, in dem die alten, empfindlichen Prospekte aufgerollt liegen, ist die Tischlerei mit dem Aufzug einfach zu erreichen. Mehr als vier Wochen lang, auch zu Weihnachten, tasten sich die Dekorateure Bild für Bild und Zentimeter für Zentimeter vor. „Diese Prospekte sind einzigartig“, schwärmt die Dekorateurin Marion Reddmann. „Wir sind unheimlich stolz, daran arbeiten zu dürfen.“
Aus: Beilage zur Berliner Morgenpost, Januar 2013