Die Passion als Wertemaschine - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

Die Passion als Wertemaschine

Regisseur Benedikt von Peter im Gespräch

Dorothea Hartmann: Die Matthäus-Passion ist ein Ritual, entstanden für den kirchlichen Rahmen der Karfreitagsliturgie. Seit längerer Zeit gibt es ein Eigenleben im Konzertsaal und auch szenische Umsetzungen. Worin besteht die Verbindung zum Musiktheater? Wie entstand die Grundidee, die Passion szenisch hier im Opernhaus aufzuführen?

Benedikt von Peter: Das Haus hat schon eine eigene Geschichte mit der Matthäus-Passion, denn 1999 gab es eine szenische Interpretation von Götz Friedrich und Günther Uecker, damals in der Fassung von Felix Mendelssohn Bartholdy. Wir gehen wieder zu Bachs Original zurück und erzählen die Passion als episches Theater. Denn zugrunde liegt weniger ein Handlungsstück als vielmehr ein Stationendrama: eine Erzählung über Leiden, Passion und Märtyrertum. Das ist eine der ersten Geschichten des westlichen Abendlandes, und interessanterweise ist das Thema des Martyriums für die Operngeschichte des 19. Jahrhunderts sehr relevant geworden: Das Leibliche, der Körper, löst sich auf, und man gibt sich hin für eine Idee. Am Ende der Oper stirbt man für die ewige Liebe. Im 19. Jahrhundert trifft das vor allem die Frauen, die Matrix unter dieser Konstruktion ist dabei dem Märtyrertum von Jesus ähnlich. Nach der Idee des christlichen Glaubens opferte er sich stellvertretend, damit unsre Sünden vergolten werden.

Bemerkenswert an dem Begriff der „Passion“ ist, dass dieses Wort gleichzeitig Emotion und Leiden bedeutet. Diese Doppeldeutigkeit ist eine sehr europäische Erfindung, das gibt es so in keinem anderen Kulturkreis. Diese „Passion“ zu untersuchen, das Gefühl, das sie in uns auslöst, und das Leiden auch aus der Distanz zu betrachten, das interessiert mich für die Theaterbühne. In der Kirche – während eines Rituals – wäre das nicht möglich.

Dorothea Hartmann: Das Thema der „Passion“, der Verbindung von großem Gefühl, Leiden und Märtyrertum, war in den vergangenen Jahrhunderten sehr unterschiedlich konnotiert. Was bedeutet das für eine Aufführung heute?

Benedikt von Peter: Ich habe mich gerade intensiv mit Luigi Nonos INTOLLERANZA 1960 beschäftigt. In dem Stück opfert sich am Ende eine Gruppe für die Idee des Kollektivs, da gibt es ein Märtyrertum im politischen und militärischen Sinne. Am Ende gehen Menschen in eine Flut und liefern sich selbst dem Kampf für ihre Ideen aus. Da sieht man, was aus diesem Passionsgedanken geworden ist: Das 19. Jahrhundert ist immer noch präsent. Damals wurde das sich „Opfern“ auf der Theaterbühne selbstverständlich nachgespielt. Blicken wir zurück ins 19. Jahrhundert, als die Matthäus-Passion durch Mendelssohn in Berlin „wiederentdeckt“ wurde, fällt auf, dass sie genau zu der Zeit wieder gespielt wurde und einen regelrechten Boom erlebte, als es um Nationalstaatsgründungen und die Ausbildung von Kollektiven ging: Um Gruppen des Bürgertums – wie die Berliner Sing-Akademie – , die sich finden und abgrenzen, die zusammen singen oder wandern. Es ist kein Zufall, dass Bach auch immer wieder als Nationalkomponist galt, und mit jeder Aufführung der Passion wurden die Werte in den Körpern tiefer verankert: Werte, derer man sich im religiösen Kontext und später im Konzertsaal versicherte und schließlich im Alltag lebte – die Passion als Wertemaschine. Heute ist uns bewusst, was das Opfern und die Märtyrer-Idee nach sich ziehen kann: Eine ganze Geistes-, Kriegs- und Zivilisationsgeschichte ist ja mit diesem Opfergedanken im 20. Jahrhundert in die Katastrophe gelaufen. Ich denke, aus so einer Post-Märtyrer-Sicht auf diese Werte zu schauen, ist ganz heilsam.

Dorothea Hartmann: In dieser Inszenierung spielen Kinder die Passion und deren Werte mit ihren Körpern nach. Ist das nicht auch sehr befremdlich?

Benedikt von Peter: Ja, das ist sehr ambivalent. Zunächst einmal: Es gibt ja die westliche Tradition des Krippenspiels. Jesu Geburt wird nachgespielt. Aber eine Tradition des kindlichen Passionsspiels gibt es nicht. Das ist der Querstand. Kinder verstehen im Alltag wahrscheinlich nicht, warum ein Mann am Kreuz hängt. Das ist ein gruseliges Motiv, ein einschüchterndes Motiv, das mit Schuld und einer Selbstopferung verbunden ist. Wenn Kinder diese Leidensgeschichte und den Tod nun nachspielen, dann blicken wir aus dem Zuschauerraum vielleicht ebenfalls mit neuem Blick auf die Geschichte. Es entsteht eine Distanz zur Passionserzählung, ganz anders als im Gottesdienst, wo ich mich ja gerade hineinversetzen soll. Gleichzeitig weckt das Spiel der Kinder auch eine große Empathie für die Geschichte. Es gibt also das Angebot in unserer Inszenierung, dass man sich identifizieren und gleichzeitig einen Außenblick einnehmen kann: Ist es richtig, dass Kinder diese Rollen übernehmen? Welche Werte und Begriffe stehen hinter diesem Stück? Sind sie human? Sind sie kindgerecht? Wie stark sind diese Werte in uns selbst verankert? Haben wir in der Kindheit selbst ein „Wertediplom“ erhalten? Wie blicken wir nun auf diese Werte?

Dorothea Hartmann: Der Text des Evangelisten Matthäus ist 2.000 Jahre alt, deutlich älter als die meisten Opernstoffe. Was kann uns diese alte Geschichte heute noch mitgeben – jenseits der Auseinandersetzung mit dem Passionsgedanken?

Benedikt von Peter:  Es gibt erstaunliche Situationen in dieser Geschichte, in der ein Mensch – Jesus – permanent aus dem erwarteten Reaktionsmuster ausbricht: Er wird geschlagen und schlägt nicht zurück. Er wird verurteilt und schweigt dazu. Er wird begleitet von einer großen Einsamkeit: Er ist dem Tod nahe und wird von seinen Freunden, den Jüngern, verlassen. Eine wichtige Botschaft lautet sicher: Es muss auch Opfer geben, damit man nicht im Egoismus endet. Und: Es kann eine Tröstungsgeschichte sein für den Gedanken an das eigene Sterben.

Dorothea Hartmann: Die Matthäus-Passion besteht wie ein Setzkasten aus den unterschiedlichsten Bausteinen: textlich und musikalisch. Zum Evangeliumstext kommen die Choralverse aus unterschiedlichen Zeiten, dazu die Lyrik des Bach-Zeitgenossen Picander. Auch musikalisch fügt Bach verschiedene Traditionen zusammen. Die Inszenierung geht ähnlich vor: Es gibt auch szenisch unterschiedlichste Bausteine, der Setzkasten der Partitur wird sogar erweitert: um das szenische Spiel der Kinder, um weitere Chöre und Ensembles. Welches Konzept steckt hinter diesen Erweiterungen und der Auffächerung auf den gesamten Raum?

Benedikt von Peter: Zunächst haben wir die Funktion des Stücks als ein Ritual ernst genommen. Ausgangspunkt sind Bachs Aufführungen in der Leipziger Thomaskirche. Damals saß die Gemeinde mitten im Text und in der Musik. Es fand ein regelrechtes Eintauchen in die Erzählung und in die Musik statt. Heute würde man sagen: ein immersives theatrales Erlebnis. Dieses „in der Musik sein“, im Körper der Passion – das hat uns als Grundsituation interessiert, daher wurde es verstärkt und ausgeweitet. Dazu kam der Baustein der tableaux vivants auf dem Spielpodest, auf einem Altar: Kinder, die sich immer wieder zu Bildern formieren. Um sie herum befinden sich die Solist*innen, in allen vier Himmelsrichtungen ein Orchester. Und wir gehen auch mit den Figuren und Orchestern musikalisch durch den Raum. Zu Bachs Doppelchörigkeit kommt bei uns ein dritter Chor und ein viertes Orchester oben im zweiten Rang hinzu. So entsteht insgesamt eine Art musikalisches Kreuz. Zusätzlich gibt es das partizipative Moment: Singvereine – die in Berlin natürlich gerade durch Mendelssohn eine besondere Verbindung zur Matthäus-Passion haben – sind eingeladen mitzusingen, ebenso wie das gesamte Publikum. Es ist ein Raum für Musik, aber auch ein Raum, der durch Musik entstehen soll.

Interessanterweise hat die Arbeitsweise der Proben viel mit diesen Bausteinen zu tun: Es gibt Einzelproben mit den Kindern, den Solist*innen, dem Evangelisten, den Chören, den Orchestern – und am Ende setzen wir das zusammen. Es sind ja oft nur ganz kurze Teile und Partikel. Jeder hat seinen eigenen Weg oder seine eigene Ausdrucksform. Zum Schluss setzen wir alles zusammen, es reagiert miteinander und ist doch eigenständig.

Dorothea Hartmann: So ist diese Inszenierung zunächst weniger eine subjektive Deutung. Vielmehr wird die musikalische und dramaturgische Architektur der Komposition auf die räumliche Architektur übertragen und erfahrbar gemacht. Dennoch gibt es auch eine subjektive Interpretation oder Lesart in den Momenten, in denen sich einzelne Figuren aus dem Erzählkontext lösen und sich gegen die „Architektur des Stücks“ wenden. Wie kam es zu dieser Idee?

Benedikt von Peter: Für uns gab es die zentrale Frage: Wie blickt ein Kind auf die Passionsgeschichte? Aus diesem Gedanken heraus haben wir eine Figur entwickelt: das „Mädchen“. Diese Figur hört vielleicht genauer zu und hinterfragt althergebrachte Geschichten. Sie betrachtet die Handlung in der Passion von außen, sie findet andere Bibelstellen, nicht nur jene von Matthäus und hadert vor allem mit dem Begriff des Opfers. Das ist ein zweiter Erzählstrang. Es gibt einerseits diese abstrakte Anordnung im Raum und andererseits natürlich eine Geschichte, die wir erzählen. Der Evangelist ist nicht nur der master of ceremonies für das Publikum, sondern in unserer Lesart auch der Lehrer für die Kinder. Man kann vermuten, dass er viel mit ihnen geübt hat, wie ich jetzt mit den Kindern übe. Dem widersetzt sich ein Kind, das „Mädchen“. Weitere Kinder schließen sich an: Sie identifizieren sich nicht mit der Geschichte, sie wollen nicht „Opfer“ spielen und sein.

Dorothea Hartmann: Hat die Setzung auch etwas mit der Politisierung zu tun, die in den letzten Jahren bei jüngeren Menschen beobachtet werden konnte, und Bewegungen wie „Fridays for Future“ hat entstehen lassen?

Benedikt von Peter: Diese Bewegungen waren eine wichtige Folie für uns in der Vorbereitung. Mit Vertreter*innen wie Greta Thunberg entsteht ein neuer Typus Kind: die Figur des bedrohten, aber auch bedrohlichen Kindes. Mit Thunberg hat diese Figur die Bühne der Gesellschaft betreten. Die Werte der Passion – Demut, Verzicht, Nächstenliebe – sind eigentlich genau die, die jetzt und für diese Bewegung wichtig wären. Das Stück reflektiert diese Werte. Und in unserer Setzung stellen die Kinder die Frage, ob die älteren Generationen das, was sie den Kindern beibringen, überhaupt selbst leben.

Dorothea Hartmann: In den letzten Jahren ist die Frage nach den antisemitischen Tönen in der Matthäus-Passion in den Fokus der Forschung und des Diskurses gerückt. Wie geht die Inszenierung mit dieser Problematik um?

Benedikt von Peter: Wenn man den Text nicht kennt und ihn – wie etwa auch Kinder – unbedarft liest, dann nimmt man den Antisemitismus erstmal gar nicht so wahr. Daran sieht man, dass ein Stück immer nicht nur das Stück selbst ist, sondern auch die Geschichte seiner Rezeption. Die fehlgeleiteten Interpretationen beginnen ja schon mit der Luther-Übersetzung, die eine eindeutig antisemitische Lesart hat. Bach verwendet diesen Text. In der Folge wurde dann vor allem der Chor „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder“ benutzt, um, davon abgeleitet, eine angebliche Kollektivschuld der Juden am Tod Jesu und die Selbstverfluchung der Juden zu interpretieren und daraus antisemitische Verbrechen zu rechtfertigen. Manche Aufführungen in den letzten Jahren haben diesen Chor gestrichen. Auch wir haben das diskutiert und auch die Frage, ob man diesen Chor kommentieren soll auf der Szene. Aber er erklingt in einem so abstrakten Moment, dass jeglicher Kommentar sehr viel zusätzliche Informationen an dieser Stelle bedeuten würde. Das kann man so schnell gar nicht erzählen. Es ist aber wichtig, das Thema zu vermitteln. Wir tun das begleitend zur Aufführung, in Einführungsveranstaltungen oder mit einem Programmhefttext. Auf der Szene setzen wir an anderen Stellen kleine Akzente, zum Beispiel mit der Figur des Judas: In der Rezeptionsgeschichte verbreitete sich schon seit dem 4. Jahrhundert das antisemitische Bild des Judas als Personifizierung des bösen und hinterhältigen Juden, der Jesus verrät. Im Text erhängt sich Judas, es gibt kein Verzeihen für ihn. Anderen Figuren – Petrus etwa – wird sehr wohl verziehen. Wir inszenieren auch ein Verzeihen für Judas: Ein Mädchen reagiert, befreit Judas, umarmt ihn in dem Sinne: Du hast jetzt genug gelitten. Das ist ein sehr kleiner Moment. Aber wir konnten mit den Kindern darüber ausführlich sprechen, denn es lässt sich in der Handlung gut nachvollziehen.

Dorothea Hartmann: Am Schluss der Matthäus-Passion befinden wir uns an einem sehr dunklen Punkt. Der Karfreitagsgottesdienst und damit die Liturgie dieses Tages und die Passionserzählungen enden mit dem Tod. Es folgt erst zwei Tage später die Auferstehung und Bachs Osteroratorium. Was bedeutet das für die Inszenierung?

Benedikt von Peter: Der Schluss beschäftigt mich sehr. Die Matthäus-Passion endet mit dem Tod, aber es gibt die merkwürdige Wendung, dass mit dem Tod die Ruhe einkehren würde. Was heißt das? Wird man im Leiden festgehalten? Oder muss man im Leiden zur Ruhe kommen? Bach hat keinen unruhigen, aufgewühlten Schlusschor komponiert. Die Selbstopferung müsste einen doch aufrütteln. Nein, der Tod führt uns zur Ruhe – das ist die Aussage. Der Tod ist der Fluchtpunkt. Für uns ist es eine ziemlich depressive Ruhe, und wir haben uns gefragt: Kann diese Aussage wirklich für alle gelten? Wie gehen Kinder damit um? Ihre Fragen sind für uns der Schlusspunkt.

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