Die Schlüsselszene - Deutsche Oper Berlin

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Die Schlüsselszene

Mit ANNA BOLENA beginnt in der Opernwelt eine neue Zeit: An historische Stoffe erhebt man von nun an den Anspruch der Faktentreue. Jörg Königsdorf über das erste Biopic der Opernliteratur

Mit ANNA BOLENA beginnt in der Opernwelt eine neue Zeit: An historische Stoffe erhebt man von nun an den Anspruch der Faktentreue. Jörg Königsdorf über das erste Biopic der Opernliteratur

Eigentlich hätte Gaetano Donizetti Ende 1830 im siebten Himmel schweben müssen. Mit seiner 30. Oper war es ihm gelungen, das kritische Mailänder Publikum zu erobern. Angesichts des enormen Premierenerfolgs seiner ANNA BOLENA zeichnete sich ab, dass dieses Werk den Durchbruch für den 33-jährigen Komponisten aus Bergamo bringen würde.

Doch statt sich im Erfolg zu sonnen, nimmt sich Donizetti das Werk umgehend wieder vor, ändert schon während der nächsten Aufführungen ein kleines, doch markantes Detail: Wo das ursprüngliche Libretto es noch vorgesehen hatte, dass die Titelheldin einfach tot auf der Bühne zusammenbrechen sollte (und mithin einen genretypischen Operntod erleidet), lässt er nun Henkersknechte erscheinen, um die Königin und ihre Mitverurteilten zum Schafott zu führen.

Der Grund für diese Änderung: Donizetti ist sich der gewandelten Erwartungshaltung des Publikums bewusst geworden. In dem Moment, in dem er ein bekanntes historisches Schicksal auf die Bühne bringt, muss er sich an Fakten halten. Ebenso wenig wie heute ein Film über Rudi Dutschke das Attentat ausließe, konnten Donizetti und sein Librettist Felice Romani es sich bei der Veroperung des Lebens von Anne Boleyn leisten, die Hinrichtung der zweiten Ehefrau des englischen Königs Heinrich VIII. zu unterschlagen. Dass ein erfahrener Opernkomponist wie Donizetti dies erst nach der Premiere feststellt, deutet an, wie brandneu der Anspruch auf Wirklichkeitstreue seinerzeit gewesen sein muss. Bislang hatte es das Publikum akzeptiert, wenn historische Hintergründe von Opernhandlungen nur schön gemalte Bühnenbilder liefern. Hier aber kommt ein Ereignis auf die Bühne, dessen Hergang dem Publikum bestens vertraut ist, dessen Bestandteile daher gezeigt werden müssen.

Somit ist ANNA BOLENA wohl das erste Biopic der Operngeschichte. Noch wenige Jahre zuvor hatte Gioacchino Rossini für seine tragischen Opern wie OTELLO und TANCREDI Alternativversionen mit gutem Ausgang geschrieben, mit Rücksicht aufs Publikum. Nun aber hätten Besucher sich betrogen gefühlt, wenn Anna auf der Bühne begnadigt worden wäre.

Für die Oper ist dies ein Paradigmenwechsel: An die Stelle des »lieto fine«, der Versöhnung aller, an die nach Jahrzehnten des Kriegs, Terrors und der Repression in Europa ohnehin niemand mehr glaubte, tritt die Identifikation mit dem Opfer – erst recht, wenn der Täter einer jener damals allgegenwärtigen feudalen Herrscher ist. Nicht von ungefähr fällt die Uraufführung in ein Jahr, in dem sich von Polen über Belgien bis Frankreich etliche Völker gegen absolutistische Monarchen und Fremdherrscher aufgelehnt hatten.

Mit ANNA BOLENA erzählt Donizetti eine »echte« Geschichte, blutrünstig und bewegend zugleich, sie bedient sowohl den dunklen Zeitgeist als auch die Sehnsucht nach Romantik. Entscheidend für ihren Erfolg aber ist, dass Donizetti eine musikalische Sprache findet, die das Einfühlen in die Figuren und ihre Schicksale ermöglicht. ANNA BOLENAs Erfolgsrezept liegt also weniger in den virtuosen Arien, die es nach wie vor gibt, sondern darin, dass hier der Belcanto-Gesang in einem nie dagewesenen Ausmaß den Erfordernissen des Theaters untergeordnet wird. Die Musik verstärkt und überhöht den dramatischen Ausdruck des Wortes, statt den Text nur als Impuls für gesangliche Ausschmückungen zu nehmen.

Das Operngenre macht mit ANNA BOLENA einen Riesenschritt in Richtung Musiktheater, die Musik öffnet das Tor zu einem neuen Realismus der Gefühle. Nicht das Staunen über die Stimmakrobatik steht im Vordergrund – die Musik zeichnet psychologische Charakterporträts, stellt sich ganz in den Dienst des packenden Theatermoments: Wir erleben einen völlig seinen Trieben unterworfenen König, Annas um Ausgleich bemühte Nebenbuhlerin Giovanna und den hoffnungslos in Anna verliebten Pagen Smeaton. Die Tragödie entwickelt sich von selbst, aus dem dramatischen Aufeinanderprallen ihrer Leidenschaften.

Vor allem die innigen Kantilenen Annas bewegen uns in ihrer Unschuld und machen sie zur Königin der Herzen. Und auch die brutale Folie hinter der Geschichte ist nach fast 200 Jahren nicht minder aktuell.

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