Diva wider Willen - Deutsche Oper Berlin
Ein Essay von Julia Spinola
Diva wider Willen
Julia Spinola war bis 2013 Musikredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seitdem lebt sie in Berlin und arbeitet als Musikkritikerin hauptsächlich für „Die Zeit“, die „Neue Zürcher Zeitung“, den Deutschlandfunk und den RBB.
Leos Janáceks Oper DIE SACHE MAKROPULOS hat viele verschiedene Gesichter und Identitäten, so wie ihre Protagonistin, die 337 Jahre alte Operndiva Emilia Marty. Handelt es sich um eine Komödie, wie die gleichnamige literarische Vorlage von Karel Capek? Oder doch eher um einen ziemlich morbiden Opernkrimi, auf dessen Auflösung der Zuschauer bis zu Emilia Martys großer Schlussszene warten muss? Vordergründig geht es um einen Gerichtsprozess, um den Erbanspruch auf ein beträchtliches Vermögen, um Testamente, Vaterschaftsfragen und die Echtheit von Dokumenten. Die gefeierte Opernsängerin Emilia Marty platzt im Prag der Zwanziger Jahre in die Kanzlei des Anwalts Kolenatý, dem eine Niederlage im nunmehr einhundertjährigen Erbschaftsstreit „Prus gegen Gregor“ droht – und sie offenbart ein erstaunliches Detailwissen. Kolenatý bleibt skeptisch, während nacheinander alle anderen Männer zunehmend der geheimnisvollen Diva verfallen. Diese manipuliert sie ihrerseits, um an ein altes Dokument aus dem Besitz der Familie Prus heranzukommen. Jaroslav Prus bietet ihr das Dokument im Tausch für eine Liebesnacht an und treibt auf diese Weise seinen eigenen Sohn Janek in den Selbstmord, der sich in Emilia verliebt hat. Am Ende improvisiert Kolenatý eine Gerichtsverhandlung, die Emilia als Betrügerin entlarven soll. Sie enthüllt ihr Geheimnis: Das rätselhafte Schriftstück ist die „Sache Makropulos“, eine Formel für eine dreihundert Jahre dauernde Jugend, die einst an ihr selbst erprobt wurde. Aus Angst vor dem nahenden Tod sucht sie nun erneut nach der Formel, weist sie dann aber doch von sich und überlässt sie der jungen Sängerin Krista – die aber das Dokument kurzerhand verbrennt. Das Setting der drei Akte: eine Anwaltskanzlei, eine leere Theaterbühne, ein Hotelzimmer.
Die Handlung vollzieht sich in raschem dialogischem Schlagabtausch. Janácek lässt seine Figuren dabei in einem variantenreichen Konversationston aufeinander ein- und förmlich aneinander vorbeisingen. Er komponierte eine unbarmherzig getriebene Musik, in der die Hektik des modernen Großstadtlebens eingefangen erscheint – bis hin zum einkomponierten Telefonklingeln. Haben wir es also mit einem frühen Beitrag zur Zwanziger-Jahre-Mode der „Zeitoper“ zu tun?

Ein tieferliegender Sinn des Werks, und damit der Figur der quasi unsterblichen Diva, lässt sich in einem philosophischen Gedankenexperiment finden. Libretto und Komposition stellen eine Reflexion über die Zeit an, über jenes „sonderbare Ding“, das fünfzehn Jahre vor Emilia Marty schon die Marschallin im ROSENKAVALIER wehmütig werden ließ. Sie trägt bei Janácek allerdings umgekehrte Vorzeichen: Während Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal sich im Jahr 1910 dreivierteltakttrunken in die Plüschkulisse eines künstlichen Rokokos zurücksinken ließen, treibt Janácek seine Komposition schonungslos und rabiat einer dystopischen Zukunftsvision entgegen.
Mit der geheimnisvollen Formel der „Sache Makropulos“ soll sich der Menschheitstraum vom ewigen Leben erfüllen. Doch er offenbart in der Figur der bis zum Zynismus desillusionierten Emilia Marty seine zerstörerische, ja lebensverachtende Seite.
In keiner anderen Opernpartitur Janáceks brodelt, rast und stampft die Musik so ekstatisch wie hier. Musikalisch führt der Blick ins Unendliche Janácek dazu, seine der tschechischen Sprache abgelauschte Satztechnik einer minimalistischen Repetition kleinster Motivpartikel riskant auf die Spitze zu treiben. Bis kurz vor dem Ende der Oper fügt sich diese Musik nicht einmal ansatzweise zu geschlossenen Formen. Es gibt keine Arien, keine Duette, keine Ensembles und keine Chöre. Und abgesehen von ein paar Takten Instrumentalmusik im dritten Akt und einem etwas längeren Zwischenspiel am Ende des ersten Akts, wird der Verlauf der Oper auch nicht durch Zwischenmusiken gegliedert, wie noch im unmittelbar vorher entstandenen SCHLAUEN FÜCHSLEIN. Ein Ereignis treibt das nächste aus sich hervor. Erst Emilia Martys Tod in der letzten Szene des Werks erlöst die Musik aus dieser Getriebenheit. Die expressionistische Härte weicht dann dem Lyrismus eines gelöst strömenden Schlussadagios. Die Männerstimmen vereinigen sich zu einem Chor. Die Wirkung ist ungeheuerlich.
„Man kann nicht über dreihundert Jahre hinweg lieben“, klagt Emilia Marty. „Und man kann auch nicht über dreihundert Jahre hinweg hoffen, Dinge erschaffen und sie angaffen.“ So, wie das Leben im Angesicht der Unsterblichkeit seinen Wert verliert, fragt in DIE SACHE MAKROPULOS auch Janáceks Musik danach, wie in dem unentwegt vorwärts drängenden, veränderlichen Strom musikalischer Gestalten Zusammenhang und Kontinuität herzustellen seien. Denn ein ins Unendliche gerichteter, bloß chronometrischer Verlauf duldet keine musikalisch erfüllte Zeit. Die Voraussetzung jeder musikalischen Form ist eine Begrenzung des Zeitverlaufs. Und so steckt in DIE SACHE MAKROPULOS auch ein Künstlerdrama, eine Oper über die Oper. Emilia Marty alias Ellian MacGregor alias Elina Makropulos tritt daher nicht zufällig als eine Kunstfigur auf: als hoch dramatische Primadonna, die sich unter wechselnden Namen zunehmend perfekter, aber auch seelenloser durch die Jahrhunderte singt.

Vor allem aber ist DIE SACHE MAKROPULOS eine der großen, tragischen Frauenopern Janáceks. Sie erzählt vom verzweifelten Befreiungskampf einer ungeschützt im Rampenlicht stehenden Diva. Von ihrem 16. Lebensjahr an wurde sie dazu verdammt, sich jahrhundertlang als ein Objekt der Männerbegierden durchs Leben zu schleppen. Janáceks Emilia Marty ist eine der sonderbarsten und widersprüchlichsten Frauenfiguren der Opernbühne. Sie ist zugleich steinalt und in ewiger Jugend festgefroren. Sie ist eine makellose Schönheit, der die Männer zu Füßen liegen, und zugleich das traurigste Opfer all dieser Männer. Als Operndiva steht sie im Rampenlicht und funktioniert als eine allseits bewunderte Repräsentationsfigur, als Fetisch. Zugleich lebt sie als Wesen aus einer anderen Sphäre tief vereinsamt und isoliert wie ein Fremdkörper unter den Menschen. Man rufe sich nur die entsetzliche Einsamkeit der Callas in ihren letzten Lebensjahren ins Gedächtnis: Während der Mythos um „die Göttliche“ bereits begann, ein lukratives Eigenleben zu führen, fristete die reale Person tablettensüchtig, mit ruinierter Stimme und, – wie später mit einer großen Operngeste der Anteilnahme gerne betont wurde – mit gebrochenem Herzen, ein trauriges Dasein in ihrer Pariser Wohnung. Die nicht enden wollenden Wiederholungsschleifen des Lebens haben Emilia Marty hart und gefühllos gemacht.
Wie Wedekinds und Bergs Lulu erscheint sie als eine bloße Projektionsfolie für die diversen Phantasien der sie begehrenden Männer. Wie Lulu trägt auch sie verschiedene Namen. Doch während Lulu ein pflanzengleiches Naturwesen ist, das mimetisch jeweils jene Gestalt annimmt, die sich die Männer von ihr erträumen, erscheint die Marty als eine unnatürliche Kreatur der Wissenschaft, ein durch und durch künstliches Geschöpf, ein Homunkulus wie Hoffmanns Puppe Olympia – oder wie ein radikales Opfer der Botox- und Lifting-Industrie. Unerlöst irrt sie durch die Zeiten wie Kundry oder der Fliegende Holländer.
Aber im Unterschied zu diesen Bühnenfiguren hat sie ihr Schicksal nicht durch ein wie auch immer geartetes Fehlverhalten selbst verschuldet. Sie mag eine grandiose Manipulatorin sein, die die Menschen um sich herum geschickt als Vehikel für ihre Ziele benutzt. Ihr Handeln mag zynisch und zweckorientiert wirken. Zugleich aber ist sie ein Opfer – und zwar das eines noch perverseren Verbrechens, als es ihrer kleinen Schwester Lulu als Halbwüchsiger widerfuhr. Lulu wurde von Doktor Schön als Kindfrau „von der Straße aufgelesen“, wie es heißt, unter seinen bürgerlichen Schutz gestellt und – was das Libretto nur andeutet – sexuell ausgebeutet: eine leider alltägliche Missbrauchsgeschichte.
Elina Makropulos dagegen fiel einem grausamen medizinischen Experiment zum Opfer, das freilich ebenfalls einer männlichen Allmachtsphantasie entsprang. Ihr Vater, der Kreter Hieronymus Makropulos, war Alchemist am Hofe des Kaisers Rudolf II., der ihn damit beauftragte, ein lebensverlängerndes Elixier für ihn zu mischen. Da der Kaiser seinem Lakaien nicht traute, befahl er, das Mittel zunächst an dessen sechzehnjähriger Tochter zu erproben. Sie fiel nach der Verabreichung ins Koma, woraufhin ihr Vater als Betrüger verhaftet wurde. Doch kam sie nach einer Woche wieder zu Bewusstsein und floh mitsamt der Formel. Ihre Bewusstlosigkeit war jedoch kein Dornröschenschlaf und ihr Erwachen glich nicht der Erweckung durch einen rettenden Prinzen. Vielmehr wurde sie durch die väterliche Droge in ihrem damaligen Reifestand für die folgenden dreihundert Jahre auf barbarische Weise fixiert: festgenagelt auf ihren biologischen Status quo und jeder weiteren Entwicklungsmöglichkeit beraubt. Und genauso irrt sie durch die Welt: als eine Leibeigene ihrer eigenen Jugendlichkeit, reduziert auf das Reklamebild ihrer selbst, verflucht dazu, die nächsten dreihundert Jahre das Next Topmodel zu spielen.

Elina perfektioniert sich als Sängerin, wird ein Star und verliebt sich in ihrer nächsten Identität, als Ellian MacGregor, ein einziges Mal aufrichtig und tief: in den reichen Baron Joseph Ferdinand Prus, um dessen Besitz im Erbprozess der Oper gestritten wird. Ihm schenkt sie die Formel für das ewige Leben. Aber er stirbt ihr trotzdem weg. Ellian wechselt wieder die Identität, raubt als spanische Zigeunerin Eugenia Montez einem Operettentenor den Verstand und heißt später auch schon einmal Ekaterina Myschkina oder Elsa Müller.
Wenn wir die Figur als Emilia Marty zu Beginn der Oper kennenlernen, hat sie bereits eine Unzahl an Beziehungen hinter sich. Und schenkt man ihren Worten Glauben, dann haben sich die Männer ihr gegenüber nicht gerade zimperlich verhalten. „Da schau, hier am Hals die Narbe!“, entgegnet sie dem vor ungestillter Besitzwut rasenden Albert Gregor, als er ihr androht, sie umzubringen. „Da hat mich auch einer töten wollen; und wenn ich mich nackt vor dir ausziehen wollte, zeigt’ ich dir die Unzahl von euren Andenken! Bin ich denn da, nur dass ihr mich totschlagt?“. Wie in Bergs LULU ersehnen die Männerfiguren der Oper in ganz unterschiedlicher Weise das Objekt ihrer Begierde. Gregor sucht in Emilia Marty die Mutter, die er früh verloren hat. Janek Prus gleicht als blindlings schwärmender Jüngling dem Gymnasiasten in LULU. Seine Freundin, die junge Opernsängerin Krista, hat ihm zuvor einen Korb gegeben, um sich im Rausch ihrer Emilia-Marty-Idolatrie zukünftig nur noch der Selbstperfektionierung zu widmen. Graf Hauk-Sendorf ist ein seniler Lustgreis, der in Emilia die Zigeunerin eines jugendlichen Liebesabenteuers wiederzuerkennen meint und mit ihr nach Spanien türmen möchte. Anwalt Kolenatý steht unter dem Zwang, Emilias Existenz aktenkompatibel zu machen und sie der Lüge zu überführen. Als Bürokrat kann er das Weibliche nicht anders verstehen denn als tendenziell kriminelle Abweichung.
Mit Jaroslav Prus wendet sich das Blatt. Er tritt als Gewaltmensch auf, wie Lulus Doktor Schön. Als einzige Figur der Oper hat Prus Macht über Emilia Marty, denn er kennt ihren wahren Namen und er ist im Besitz der „Sache Makropulos“. Wenn Emilia sich für eine Nacht an Prus verkauft, um von ihm das Dokument ausgehändigt zu bekommen, kommt das zuvor dissonant hochwogende musikalische Leben in einem banalen C-Dur-Dreiklang zum Stillstand.
Ähnlich hatte Alban Berg schon im WOZZECK einen eigentümlich hohl klingenden C-Dur-Klang als Chiffre für die Reduktion menschlicher Beziehungen auf einen Tauschwert verwendet. Er erklingt in dem Moment, wenn Wozzeck seiner Marie Geld in die Hand drückt. Der Handel mit Prus wiederholt das alte Unrecht, das Emilia als Sechzehnjähriger widerfahren ist. Dass Prus sich beschwert, es habe nicht genug Leidenschaft in dieser Liebesnacht gesteckt, und sich um ein zweifelhaftes Recht betrogen sieht, verdeutlicht diesen missbräuchlichen Handel. Von da an beginnt, ähnlich wie nach Lulus Heirat mit Doktor Schön, Emilias Abstieg. Kolenatý improvisiert eine Gerichtsverhandlung, die anderen Männer durchwühlen ihr Gepäck. Sie flüchtet, betrinkt sich und offenbart ihre ganze Geschichte. Ihr Tod ist, anders als der Lulus, die von Jack the Ripper ermordet wird, selbstbestimmt, und er wird musikalisch zu einer beinahe apotheotischen Befreiung überhöht. Trotzdem erscheint er als eine Art Notwehr, als letzte Chance Emilias, sich von den Zumutungen eines Lebens als öffentliche Figur zu befreien. Janáceks Sympathien waren ganz auf ihrer Seite. „Die Leute halten sie für eine Lügnerin, eine Betrügerin, eine hysterische Frau – und sie ist am Ende so unglücklich!“ schrieb er an Kamila Stösslová, die die – unerfüllte – Liebe seiner letzten zwölf Lebensjahre war. „Dabei wollte ich erreichen, dass alle sie gernhaben“.
Der Musikphilosoph Theodor W. Adorno attestierte der „Sache Makropulos“ das revolutionäre Potential eines Alterswerks und verglich das von Janácek eingegangene „Wagnis des Absurden“ mit der Dichtung Franz Kafkas. In seiner Kritik der deutschen Erstaufführung 1929 an der Frankfurter Oper schrieb er, die Oper gehöre „auf eine Experimentierbühne. Musikalische und szenische Interpretation müssten mit ihrer Deutung beginnen. Im normalen Opernbetrieb lässt sich daran nicht denken.“ Die Opernregie hat sich seither in einer Weise entwickelt, wie Adorno es sich nicht hätte träumen lassen. Eine Herausforderung wird die vielgesichtige Emilia Marty dennoch für alle zukünftigen Regisseure bleiben.
Ersterschienen in der Beilage der Deutschen Oper Berlin zum Tagesspiegel, Februar 2016.