›Don Giovanni‹ ist der Raum - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
›Don Giovanni‹ ist der Raum
Roland Schwab im Gespräch mit Stückdramaturgin Miriam Konert
Wie kommt es, dass eine übermächtige Bühnenerscheinung wie Don Giovanni mit all ihren Facetten und Möglichkeiten immer wieder auf die Casanova-Projektion männlicher Sexualität reduziert wird?
Die Frage ist eher: Wie kommt es, dass männliche Sexualität in der Darstellung immer auf Grabschen – Fummeln – Rammeln reduziert wird? Körperliche Erotik ist ein heikles Thema auf der Bühne. Meistens geht es daneben. Darstellerisch missglückt es, und dann wird es auch noch inflationär gezeigt: Ich kann das nicht mehr sehen. Nein: Ich will das nicht mehr sehen!
Ich plädiere mit meiner Inszenierung absolut auch für männliche Erotik, die ohne diese plakative »Primärgymnastik« auskommt. Seit längerem setze ich mich mit dem russischen Komponisten Alexander Skrjabin und seinem Ekstase-Begriff auseinander, habe zwei Drehbücher geschrieben, die sich mit indirekten Darstellungsformen von Erotik befassen. Die Möglichkeiten geistiger Sexualität sind doch viel interessanter, viel gefährlicher, viel abgründiger. Aber das wird selten gezeigt.
Als meine wichtigste Aufgabe sehe ich es, meinem Don Giovanni genau diesen mysteriösen Kosmos aufzubauen, den so viele Aufführungen schuldig bleiben. Ich kämpfe für das Geheimnis. Das Geheimnis schafft die Erotik, aber es wird nicht gehütet. Niemand wird faszinierend durch gut geratene Gesichtszüge und Körperproportionen, seien sie gewachsen oder geschneidert. Warum haben manche Menschen, die keine Hollywoodschönheiten sind, eine so ungeheure Wirkung? Weil sie ein Geheimnis haben, das sie nicht preisgeben. Das ist Erotik, nicht das ausgespielt Körperliche. So ist es auch bei Don Giovanni: Wer ist dieser Mann? Was hat dieser Mann? Und jeder Zuschauer wird in ihm Anderes vermuten – andere Höhen, andere Tiefen, andere Abgründe.
Geht es Don Giovanni tatsächlich noch um das erotische Spiel, um Verführung?
Nein. Verführung hat er schon abertausende Male gehabt. Physiologischer Vollzug ist nicht mehr nötig. Ihm geht es um Schmerz. Schmerz von Frauen, damit spielt er. Er weiß genau um den Punkt, wie viel sie gerade noch ertragen können. Und das Umkreisen dieses bestimmten Punktes macht ihn zum Virtuosen. Hierin ist er der sinnliche Bruder von Marquis de Sade; und weil er der souveränste Hasardeur seines sadistischen–philosophisch-psychologisch-physischen–Denk-Schach ist, spielt er mehrere Partien synchron.
Für Don Giovanni sind Frauen niemals Selbstzweck, sondern stets Instrumente für das Erreichen eines Höheren. Es lohnt sich, hier den ersten Titel ernst zu nehmen: IL DISSOLUTO PUNITO – DER BESTRAFTE WÜSTLING. Das heimliche, unbewusste Verlangen nach Strafe ist für mich zunehmend ein Thema von DON GIOVANNI: Die Grenzen werden überschritten, um Strafe zu erlangen, fast sogar, um zur Strafe zu gelangen – das ist wahrhaftige Sehnsucht nach einem Jüngsten Gericht.
Sein Ziel ist Transzendenz. Gleichgültig, ob er ein Monster ist oder nicht: In der Verneinung ist er eigentlich Gottsucher und Unerlöster–Unerlöster, weil ständig ohne Echo bleibender Gottherausforderer. Das Verlangen nach Strafe, die apokalyptische Sehnsucht, ist ein Phänomen der Metropolen wie Berlin. Don Giovanni ist damit der Großstadtmensch schlechthin. Nicht Woody Allens Stadtneurotiker, sondern der von Peter Fox: »Die Affen feiern auch, wenn sie traurig sind«. Überall und pausenlos wird gefeiert, mit oder ohne Grund. Diese Feiern werden immer bizarrer, ihre Kicks immer rarer, immer gefährlicher, immer krimineller. Eine Lustspirale – nicht nur erotischer Lust, sondern auch vermeinter Lebenslust, die immer neuartigere Sensationen braucht. Diese Spirale steckt auch in Don Giovanni und in dieser Spirale steckt auch Don Giovanni. Der Mythos, alles, was ihm an Erwartung und Deutung anhaftet, beschwert ihn und zieht ihn in dieser Spirale immer weiter nach unten. Er ist im Würgegriff seines eigenen papiermächtigen Mythos.
Als Konsequenz dieser Mythos-Falle wird Don Giovanni in modernen Inszenierungen oft als jemand dargestellt, der von seinen Exzessen ausgelaugt, zerstört ist.
Auf diese Seite schlagen sich viele. Kriegt er nichts mehr hin? Ist er ein Angeschossener, der nur noch dahin siecht? Diese Lesart hat ihre Berechtigung, aber das Stück sagt mir etwas anderes. Ich will den Don Giovanni, der nie stolpert, nie gestört ist, der – ganz im Gegenteil – Hindernisse sucht und Störung elementar braucht. Wenn ihn jemand aus dem Konzept bringen könnte, wäre er gerettet. Aber die Menschen um ihn herum können ihm diesen Widerstand, dieses Chaos der Erlösung, nicht bieten.
Kann das Paradox sich einstellen, dass Don Giovanni mit seiner Sehnsucht nach dem Jüngsten Gericht, der Abschaffung seines eigenen Mythos, das Gegenteil erreicht? Sich und seiner Geschichte wieder Relevanz gibt? Letztlich erschafft er sich damit neu und gerät in eine Endlosschleife.
Endlosschleife ist ein gutes Stichwort. Er ist eine mythische Unterweltserscheinung, eine Tartarusgestalt, zu ewigen Qualen verurteilt. Wie schon vorhin gesagt: Gleichgültig, wie monströs er auch sein mag – er ist ein Märtyrer! Die Stimme des Komturs steht für Transzendenz. Sie verlässt ihn, stößt ihn ab. Er hört sie einen Moment, will daran glauben, und nachdem die Stimme verschwindet, ist klar, dass es keine Erlösung für ihn gibt, daß keine Hölle je ihn aufnehmen wird. Vielleicht zieht er am Ende weg, verlässt diese Metropole, sucht sich die nächste Stadt und sorgt dort wieder für Exzess und Verödung. Die Leidenseruptionen Anderer benötigt er essentiell, um sich selbst Lebensenergien zu geben. Das ist emotionaler Vampirismus, der sehr menschlich ist und in jeder Paarbeziehung vorkommen kann – aber nur den wenigsten gelingt es, dabei ihr gesamtes Umfeld seelisch ausbluten zu lassen.
Das klingt nach schwerer Kost.
Meine größte Sorge: Bleierne Themen bleiern servieren? Nichts ist schlimmer für mich! Natürlich ist die Aussage bedrückend, aber die Darstellungsform muß leicht sein. Die Idee, DON GIOVANNI quasi als Polyphonie, als komplexes mentalerotisches System auf die Bühne zu bringen, dient diesem Dualismus, sowohl der Abgründigkeit als auch dem Spielwitz. Obwohl die schwärzesten Löcher einer Gestalt thematisiert werden, schwebt das Ganze; nicht zuletzt durch die Energien der Sänger und Darsteller. Don Giovanni hat diese unglaublichen dämonischen Momente … im nächsten Augenblick biegt er sie um in leichte Komödiantik. Da tun sich schizophrene Situationen auf, böse Spielereien, die ich sehr mag. Für Mozart gibt es kein noch so düsteres Thema, dem er nicht auch einen Witz entlocken kann. Deshalb tut er uns als dieser in Selbstmitleid verliebten Spezies so gut. Das einzig wirklich tragische Menschheitsthema für Mozart wäre: Humorlosigkeit.
Was für einem Raum braucht dieser Don Giovanni, um seine Wirkung, seine Aura zu entfalten?
Kein Raum kann Don Giovanni einfassen, nichts kann ihn reduzieren. Der Geist spannt den Raum auf, den Denkraum, den Lustraum, den Leidensraum. Das ganze Bühnengeschehen soll wie ein Blick in seine seelische Synapsenwelt sein, in eine schwarze Wüste. Es kann sein, dass er etwas heraufbeschwört – vielleicht eine Fata Morgana, vielleicht eine architektonische Bizarrerie. Aber im Grunde gilt: DON GIOVANNI ist der Raum.