Ein Essay von Christian Schröder

Ein Theater der Inbrunst und Hysterie

Meyerbeers LE PROPHETE schlägt eines der spektakulärsten Kapitel der Reformationsgeschichte auf: die Herrschaft der Münsteraner Wiedertäufer. Doch was geschah damals wirklich?

Christian Schröder, Jahrgang 1965, beschäftigt sich im Feuilleton des „Tagesspiegel“ vor allem mit Popmusik, Film und historischen Themen. Er hat Kunstgeschichte studiert und eine Biografie über Hildegard Knef geschrieben.

Das Ende war nah, und die Erlösung auch. Das Ende kam, die Erlösung nicht. Jan Matthys, ein Bäcker aus Holland, der sich zum Anführer der Täuferbewegung und zum Herrscher von Münster aufgeschwungen hatte, prophezeite die Apokalypse für Ostern 1534. Ins Himmelsreich eingehen würden nur diejenigen, die wirklich gottgefällig gelebt hatten. Für Matthys und seine Anhänger, die schon vor seiner Ankunft erst den Bischof und dann die Lutheraner vertrieben hatten, war Münster, eine westfälische Hanse- und Handelsstadt mit 11.000 Einwohnern, das neue Jerusalem. In dieser christlichen Republik zeigte sich bereits, so der Hauptprediger Bernd Rothmann, die „bisher verborgene Herrschaft Christi“.

Matthys hatte dazu aufgerufen, die Gottlosen hinzurichten, um die Stadt „von aller Unsauberkeit“ zu reinigen. Am Ende wurden sie nur gezwungen, Münster zu verlassen. Die Dagebliebenen mussten sich taufen lassen, zum zweiten Mal, also als Wiedertäufer. Es wurde eine Gütergemeinschaft eingeführt, Lebensmittelvorräte und jeglicher Geldbesitz mussten abgegeben werden, Urkunden und Schuldscheine wurden vernichtet. Bis auf die Bibel sind alle Bücher verbrannt worden. Diesem militanten Protokommunismus ging es allerdings nicht um Klassenkampf, sondern um den Wunsch, so wie die Frühchristen zu leben. „Es gehört einem Christen alles, was die christlichen Brüder und Schwestern haben, das gehört dem einen so gut wie dem anderen“, verkündete ein Prediger namens Stutenbernt.

Demut und Bescheidenheit galten als höchste Tugenden, hinzu kam der göttliche Auftrag, sich zu vermehren und hinauszugehen in alle Welt. Letzteres erwies sich zunehmend als schwierig, weil die Stadt von katholischen und protestantischen Truppen belagert wurde. Ersteres war mehr eine Frage der Biologie. Die Polygamie, in der die Gegner der Wiedertäufer eine besonders verabscheuungswürdige Form der Sünde sahen, sollte helfen, den Frauenüberschuss zu lindern. Rund 8000 Frauen lebten in der Stadt, aber nur 3000 Männer. Jan van Leiden, ein weiterer Anführer, war mit sechzehn Frauen verheiratet. Zwei davon ließ er wegen Ungehorsams enthaupten.

Die Wiedertäufer entfesseln einen Bildersturm gegen Klöster und Kirchen.
 

Das Münster der Wiedertäufer muss man sich wie eine Freilichtbühne vorstellen, in der ein Theater der Inbrunst und Hysterie, der Angst und des Blutes aufgeführt wurde. Der Kulturhistoriker Richard van Dülmen unterscheidet drei Entwicklungsphasen, die von der Anerkennung der Reformation 1532 über das Zerwürfnis von Evangelischen und Radikalen und der Ablehnung der Kindstaufe bis zur Machtübernahme durch die Täufer 1533 reicht. Der Zeitstrahl führt dabei immer weiter in die Eskalation. Sich selbst nennen die Täufer Christen, von den anderen sprechen sie als Gottlosen. Deren Geist soll vollständig aus der Stadt verschwinden, ein Bildersturm, der sich gegen Klöster und Kirchen richtet, macht mit der Vergangenheit Tabula rasa. „Die Reliquienbehälter brachen sie auf, nahmen Gold, Silber und Perlen, mit denen die Gebeine geschmückt waren, weg, streuten die Knochen auf die Straße und traten sie mit Füßen“, berichtet ein Augenzeuge.

Der Furor richtet sich auch gegen Gebäude, man beginnt, Kirchen abzureißen. Ehe sie „das Papsttum und den Pfaffenmissbrauch“ wieder annähmen, wollten sie „das Kind im Mutterleibe essen und alle sterben“, sagen Einwohner dem Gesandten des Landgrafen von Hessen, der zu Verhandlungen in die Stadt gekommen ist. Aber sie bräuchten doch Kirchen, um die Predigt zu hören, insistiert der Besucher. „Wenn wir Predigt hören, wollen wir auf den Markt gehen, fürchten weder Hagel noch Regen“, lautet die Antwort. „Denn wir wissen wohl, dass uns unter der Predigt nichts Beschwerliches widerfährt.“ Die Täufer leben in der Gewissheit, behütet zu sein. Am Himmel zeigen sich Feuer. Sie lassen die Sonne so hell erstrahlen, dass alle Menschen, die auf dem Markt stehen, „in ihrem Angesicht den Anschein hatten, als wären sie vergoldet.“ Gotteskinder, Goldmenschen.

Was nicht eintritt, ist das Ende der Welt. Ein paar Wochen, nachdem das Osterfest von 1534 vergangen ist, ohne dass sich die Himmelstore öffneten, besteigt Jan Matthys sein Pferd und unternimmt mit einigen Gefährten einen Ausfall aus der eingeschlossenen Stadt, bei dem es sich um ein Selbstmordunternehmen handelt. Es kommt zu einem Gefecht, und der Prophet und Bürgermeister wird „mit einem Spieß durchstochen“. Da „hieben ihm die Landsknechte den Kopf ab und schlugen ihn in hundert Stücke und bewarfen sich damit. Das Haupt stecken sie auf einen Zaunpfahl in die Luft.“ Abschreckungsterror in der Art des „Islamischen Staats“.

Jan van Leiden ... Historischer Schnitt © akg Images
 

Zu Matthys Nachfolger steigt sein Schüler Jan van Leiden auf, ein ehemaliger Wirt und Bänkelsänger. Er lässt sich zum König krönen und macht Münster zum Königreich der letzten Tage. Leiden sieht sich als neuer König David und als Messias, er will „der Oberste von allen Obrigkeiten“ sein. Trotz beginnender Lebensmittelknappheit entfaltet er mit den 135 Personen seines Hofstaats größte Pracht. Der König „reite auf einem fahlen Pferde mit schwarzgrünem Samt bedeckt in der Stadt umher, habe eine goldene Krone auf seinem Haupt und wenig Vertrauen in seine Untertanen“, heißt es in einer zeitgenössischen Chronik.

Vom Ende des Wiedertäufer-Reiches künden heute drei eiserne Käfige, die am Turm der Lambertikirche hängen. Sie sind Symbole des Schreckens. Im Juni 1535 wurde Münster von den Belagerungstruppen erobert. Die Sieger verurteilen die Rädelsführer Bernhard Krechting, Bernd Knipperdolling und Jan van Leiden zum Tod. Das Urteil wird in einer mehrstündigen Prozedur ausgeführt, bei der ihnen „alles Fleisch mit glühenden Zangen von den Knochen abgerissen und dann Gurgel und Herz mit glühenden Eisen durchstoßen“ werden. Die sterblichen Überreste kommen in die Käfige. Luther freute sich, dass dank „Gottes großer Gnade“ der Teufel besiegt worden sei, der in Münster leibhaftig Haus gehalten habe. Der Traum, schon auf Erden den Himmel zu erschaffen, ist gescheitert. Zum ersten Mal. Aber er geht weiter. Bis heute endeten allerdings alle Beglückungsversuche im Blutvergießen.

Ersterschienen in der Beilage der Deutschen Oper Berlin zum Tagesspiegel, September 2017

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