Familientherapie mit Verdi - Deutsche Oper Berlin
Familientherapie mit Verdi
AIDA, DON CARLO, NABUCCO und LES VÊPRES SICILIENNES. Verdis Opern sind voller schwieriger Vaterfiguren, an denen sich die Söhne und Töchter abarbeiten. Wir finden: höchste Zeit für einen Besuch beim Operntherapeuten
Nabucco
Nabucco (ca. 50), Fenena (ca. 25), Abigaille (ca. 30)
Überweisungsgrund Dysfunktionale familiäre Machtdynamiken, Geschwisterrivalität, unklare Vaterrolle, Identitätskonflikte
Anamnese Vater und Töchter betreten die Praxis – sofort bricht Chaos aus. Abigaille am lautesten, Fenena zurückhaltend, Nabucco wirkt überrascht, überhaupt hier zu sein. »Ich bin König von Babylon. Ich brauche keinen Therapeuten!« Abigaille fällt ihm ins Wort: »Er ist nicht mal ein richtiger König! Und ich nicht mal eine richtige Tochter!« Fenena seufzt. Die Familiendynamik folgt einem klaren Muster: Nabucco bevorzugt seine leibliche Tochter Fenena, Abigaille, die Adoptivtochter, kämpft um Anerkennung, flüchtet sich in aggressive, destruktive Strategien.
Tiefes Misstrauen und der Wunsch nach Liebe eskalieren in einem musikalischen Extremstil: Während Fenenas Partien kantabel und weich sind, prescht Abigaille mit furiosen Koloraturen und fast wahnhaften Intervallsprüngen nach vorn. Nabucco selbst schwankt zwischen überheblicher Arroganz und völliger Desorientierung. Das spiegelt sich musikalisch in seinen abrupten Stimmungswechseln.
Diagnostische Einschätzung
— ICD-10: Z63.8 (Familiäre Dysfunktion), F60.3 (Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Abigaille), narzisstische Kränkung, Nabucco
Therapieplanung und Zielsetzung
— Reduktion des Konkurrenzdrucks zwischen den Schwestern, Reflexion von Nabuccos wechselndem Rollenverständnis als Vater und Herrscher
Prognose Herausfordernd. Fenena könnte sich stabilisieren, wenn sie sich von der familiären Unruhe distanziert. Abigaille zeigt hohes Destruktionspotenzial, würde aber vermutlich von einer Einzeltherapie profitieren – falls sie nicht vorher Babylon niederbrennt. Nabucco? Erst nach Klärung seiner akuten Wahnvorstellungen therapierbar.

Don Carlo
König Philipp II. (ca. 50), Don Carlo (ca. 25)
Überweisungsgrund gravierende Vater-Sohn-Konflikte, gestörte Kommunikation, Misstrauen, Rivalitätsgefühle, Eifersucht
Anamnese Philipp erscheint mit Sohn Don Carlo, der eindeutig unfreiwillig hier ist (»Das ist doch lächerlich, wir brauchen keinen Therapeuten, sondern eine klare Thronfolge!«). Vater wirkt dominant, distanziert. Sohn zeigt Anzeichen ausgeprägter Unsicherheit und affektiver Labilität. Zentral ist die Konkurrenzsituation um Elisabeth, Carlos ehemalige Verlobte, die nun Philipps Ehefrau ist. Im Gespräch wird schnell deutlich, wie das konfliktreiche Verhältnis von Vater und Sohn musikalisch verdichtet wurde: Philipps tiefe Basslinien (düster, getragen, nahezu unbeweglich) stehen der fiebrig aufgewühlten, impulsiven Gesangslinie seines Sohnes entgegen, dessen Seelenlage changiert permanent zwischen Aufbegehren und Resignation.
Diagnostische Einschätzung
— ICD-10: F60.7 (abhängige Persönlichkeitsstruktur, Don Carlo), Z73.1 (Burnout, Philipp II.)
Therapieplanung und Zielsetzung
— Bearbeitung der dysfunktionalen Beziehungsmuster, Abbau von Rivalität, Aufbau emotionaler Grenzen
Prognose Kritisch. Beide Patienten verharren stur auf ihren Positionen. Philipp II. zeigt geringe Einsicht (»Ich muss gar nichts ändern, ich bin König!«), Don Carlo hingegen scheint nach anfänglicher Abwehr willig, ist aber emotional instabil. Fortschritte möglich – solange keine neuen Hinrichtungen erfolgen.

Aida
Aida, ca. 20 Jahre
Überweisungsgrund Belastungsreaktion durch einen schwerwiegenden Loyalitätskonflikt im familiären und partnerschaftlichen Umfeld
Anamnese Patientin stellt sich eigeninitiativ in der Praxis vor. Eine gemeinsame Sitzung mit dem Vater ist nicht möglich, da er jegliche therapeutische Intervention ablehnt. Patientin berichtet von emotionalem Stress, innerer Zerrissenheit und der Unfähigkeit, eine klare Ich-Position zu formulieren. Starkes Gefühl der Fremdbestimmung. Akut ist ihr anhaltender Konflikt zwischen der Loyalität zu ihrem Vater, Amonasro, und der Liebe zu Radames, einem ägyptischen Heerführer, dem größtem Feind des Vaters.
Auffällig ist die musikalische Manifestation ihres inneren Konflikts. Die Erzählweise oszilliert zwischen weichen, klagenden Kantilenen, wenn sie ihre Zerrissenheit beschreibt, und abrupten Stimmbrechungen, wenn sie ihren Vater zitiert – dann wird ihre Stimme scharf und sie spricht in kantigen, militärisch gedrängten Phrasen.
Diagnostische Einschätzung
— ICD-10: F43.2 – Anpassungsstörung mit ausgeprägtem Loyalitätskonflikt, fehlende Abgrenzungsfähigkeit gegenüber Autoritäten
Therapieplanung und Zielsetzung
— Förderung der Differenzierungsfähigkeit zwischen fremden Erwartungen und eigenen Bedürfnissen, Erarbeitung einer stabileren Ich-Identität, Reduktion dysfunktionaler Schuldgefühle
Prognose Patientin zeigt eine ausgeprägte Reflexionsfähigkeit, aber auch eine hohe Selbstaufgabe. Ihre Erfolgsaussichten hängen davon ab, ob sie sich von der Idee lösen kann, eine »richtige« Entscheidung für alle zu finden.

Les Vêpres Siciliennes
Guy de Montfort (ca. 50), Henri (ca. 25)
Überweisungsgrund Massive Vater-Sohn-Entfremdung, nicht aufgearbeitetes Trauma, Identitätskonflikt durch späte Vaterschaftsaufdeckung
Anamnese Patienten stellen sich gemeinsam vor, jedoch mit deutlich unterschiedlicher Motivation. Montfort ruhig und gefasst. Henri zeigt ausgeprägte Abwehrhaltung, verweigert zunächst Blickkontakt, verbalisiert klare Ablehnung der familiären Verbindung (»Ich bin nicht sein Sohn«). Der Konflikt: Henri wuchs ohne Wissen um seine Herkunft auf, bis sich herausstellte, dass sein schlimmster Feind – der Gouverneur der französischen Besatzungsmacht – sein eigener Vater ist. Seitdem schwankt er zwischen Wut, Abscheu und Verunsicherung.
Musikalisch spiegelt sich diese Kluft: Während Montfort mit kontrolliertem, legato-geführtem Gesang auf Versöhnung drängt, kämpft Henri mit sprunghaften, aufgewühlten Phrasen dagegen an. Ihre Duette sind keine Dialoge, sondern Konfrontation unterschiedlicher Klangideale. Die orchestrale Begleitung verdichtet den Konflikt: Montforts Phrasen werden von majestätischen, stabilen Bläserakkorden gestützt, Henris Linien schweben über unruhigen Streicherfiguren – Musik für einen Sohn, der nirgends Halt findet.
Diagnostische Einschätzung
— ICD-10: F43.1 (Posttraumatische Belastungsstörung, Henri), F60.2 (Emotional distanzierte Persönlichkeitsstruktur, Guy de Montfort)
Therapieplanung und Zielsetzung
— Validierung von Henris Identitätskonflikt ohne erzwungene Annäherung, Förderung eines Perspektivwechsels auf beiden Seiten
Prognose Die therapeutische Arbeit wird durch das starre Bindungsmuster des Vaters und Henris tiefgreifende Ablehnung erschwert. Eine vollständige Versöhnung erscheint unwahrscheinlich, eine funktionale Beziehungsebene mit langfristiger therapeutischer Begleitung jedoch möglich. Momentan jedoch starke Reaktanz bei beiden. Weitere Sitzungen indiziert.