Ganz schön radikal - Deutsche Oper Berlin
Ein Essay von Martina Helmig
Ganz schön radikal
Claus Guth inszeniert „Salome“ als surreales Seelendrama über den Missbrauch hinter bürgerlicher Fassade
„Lauter perverse Leute“ treten in der Oper SALOME auf. So hat es Richard Strauss selbst formuliert. Der mächtige Herodes wirft lüsterne Blicke auf seine Stieftochter Salome, während der gefangene Prophet Jochanaan aus der Zisterne ruft. Salome tanzt für ihren übergriffigen Stiefvater und wünscht sich als Belohnung das Haupt des Propheten. Sie liebkost den abgeschnittenen Kopf, und Herodes ist so schockiert, dass er Salome töten lässt. Das klingt alles schon sehr pervers, und die Aufführungstradition der Oper steckt voller Inszenierungen, die einen Haufen exzentrischer oder verrückter Kunstfiguren auf eine düster und surreal ausgestattete Bühne stellen.
Von solchen Ideen möchte sich Claus Guth in seiner neuen Inszenierung für die Deutsche Oper Berlin ganz lösen. Er denkt eher an die Filme von Claude Chabrol, in denen das Grauen unter einer scheinbar perfekten bürgerlichen Oberfläche brodelt. Da ist eine Familie, die sich nach außen ganz bieder gibt, obwohl im Keller oder hinter dem Vorhang etwas Unvorstellbares vorgeht.
Das Thema Kindesmissbrauch spielt eine Rolle, auch wenn der Frankfurter Regisseur den Vorgang nicht auf der Bühne zeigen wird. Vor allem ist es die Geschichte einer schwierigen Pubertät. Sie erzählt die Loslösung einer jungen Frau von der übermächtigen Vaterfigur. Im Lauf des Kampfes wird das Opfer zur Täterin. „Die Figuren müssen schon pervers sein, aber man soll es nicht gleich merken“, findet Claus Guth. „Man darf nicht mit der Tür ins Haus fallen.“
„Salome“ gilt als eine der ersten Literaturopern, musikalisch als Prototyp der modernen Oper und Tor zur Neuen Musik. Oscar Wildes biblisches Drama und das darauf basierende Werk von Richard Strauss waren aber auch von Anfang an Skandalstücke. Nach der Dresdener Opern-Uraufführung von 1905 reagierten die Kritiker mit Verrissen, aber das Publikum war gefesselt.
Mit den Tantiemen konnte der Komponist den Bau seiner Villa in Garmisch finanzieren. Bei einem Werk wie „Salome“ muss man sich als Regisseur Gedanken über Klischees und Aufführungstraditionen machen. Als Femme fatale, Hure Babylons oder Lolita kann man die Titelheldin heute nicht mehr ungebrochen sehen. Die schwüle Erotik im orientalischen Ambiente, die Verbindung von Laszivem und Morbidem traf den Zeitgeist des Fin de Siècle. Heute ist mit nackter Haut und roher Gewalt nicht mehr so leicht Aufsehen zu erregen. Trotzdem sind der Schleiertanz und der abgeschlagene Kopf wahrscheinlich die ersten Motive, die Opernfreunden zur „Salome“ in den Sinn kommen. Claus Guth interessieren beide Motive nur als Symbole. Er will sich nicht an einem Wettbewerb beteiligen, den Schleiertanz noch etwas erotischer wirken zu lassen und den Kopf noch realistischer darzustellen: „Man sollte alte Hüte nicht immer wieder neu aufbügeln.“
Claus Guth gilt als analytischer Denker, als Spezialist für psychologische Tiefenlotung, überzeugende Symbole und perfekte Personenchoreografie. Er zählt zwischen Bayreuth, Paris und Wien zu den gefragtesten Opernregisseuren. Der zweifache „Faust“-Preisträger hat sich anfangs vor allem mit modernen Musiktheaterproduktionen einen Namen gemacht, bevor er sich den großen Werken von Richard Wagner und Richard Strauss zuwandte. „Ariadne auf Naxos“ war 1996 in Bremen seine erste Strauss-Oper. Die Kostüme entwarf damals Muriel Gerstner, die jetzt bei „Salome“ die gesamte Ausstattung übernimmt. Der Dramaturg jener frühen Produktion war ein gewisser Dietmar Schwarz, heute Intendant der Deutschen Oper Berlin. Es ist wohl auch seinem Einsatz zu verdanken, dass Claus Guth nach mehreren Produktionen an der Staatsoper nun zum ersten Mal an der Deutschen Oper Berlin inszeniert. Seit etwa zehn Jahren werden Strauss-Opern im Terminkalender von Claus Guth immer zahlreicher. Spätestens seit der Wiederentdeckung der späten „Daphne“ ist er fasziniert von den feinsinnigen, komplexen Frauenporträts. Erst im Mai hat er in Frankfurt einen ungewöhnlich düsteren, melancholischen „Rosenkavalier“ auf die Bühne gebracht. „Ich sage bei Angeboten von Strauss-Opern schon fast reflexartig Ja. Die Musik von Strauss führt mich in die unglaublich spannenden inneren Welten einer Frau“, verrät der Regisseur. Nur „Die schweigsame Frau“ hat er abgelehnt – „wegen des grauenhaften, chauvinistischen Frauenbildes“. Über Salome hat er dagegen gern intensiv nachgedacht.
Claus Guth inszeniert „Salome“ als Seelendrama. Die religiösen und politischen Aspekte des Werks stehen bei ihm nicht im Vordergrund. Es gibt keine Flüchtlinge und keinen Hochsicherheitstrakt wie bei Kirill Serebrennikov kürzlich in Stuttgart. Claus Guths „Salome“ spielt in der scheinbar heilen Welt der fünfziger Jahre. Er möchte nicht zu viel über das Bühnenbild verraten, aber es zeige einen „sehr konkreten Ort, wo sich Privates und Öffentliches kreuzen können“. Dort lässt er Salomes surreale, traumhafte Innenwelt lebendig werden.
In der Vorbereitungszeit dachte er öfter an eine Nachbarsfamilie aus seiner Jugendzeit: „In dem Haus wohnten drei Kinder der verstorbenen Mutter und zwei Kinder der neuen Mutter. Es hat alle Fantasien übertroffen, wie dort die Gräben verliefen und Kriege geführt wurden. In der Pubertät kann ein Kind sehr radikal werden.“ Mit einem Stiefvater wie dem in der Oper kann es keine normale Pubertät sein. Kindesmissbrauch hat Claus Guth schon in seinem Bayreuther „Fliegenden Holländer“ und in der Frankfurter „Daphne“ zum Thema gemacht. Damals zerrte der Vater Daphne in einen Schrank. Was dort geschah, konnte man nur vermuten. Auch bei „Salome“ kann man ahnen, dass eine eindeutige Grenzüberschreitung stattgefunden hat.
Die Inszenierung zeigt eine Frau mit Narben aus der Kinderzeit, die verschiedene Stadien des Erwachsenwerdens darstellt. Wie so oft bei Claus Guth gibt es Doppelgängerinnen der Titelheldin. Sieben Salomes sind es, wie die sieben Schleier im Schleiertanz. Es gibt Rückblenden, die aber nicht so klar definiert sind wie im Film. „Ich möchte Realität, Traum und Erinnerung nicht sauber trennen“, erklärt der Regisseur. „Als Strauss seine Oper komponierte, waren schon wichtige Schriften von Sigmund Freud erschienen. Man spürt, wie gut sich der Komponist in der Welt des Unterbewussten auskannte.“ Die Mutter Herodias schaut weg. Claus Guth lässt sie symbolisch erblinden. Ungewöhnlich ist die Darstellung des Jochanaan, dessen Stimme als moralische Instanz und Artikulation von Verdrängtem, von Ängsten oder Hoffnungen, ständig zu hören ist. Bei Claus Guth ist der Prophet aber keine reale Figur, sondern eine Fantasiegestalt, die sich Salome als Bekämpfer des Vaters erträumt.
„Wenn man von den kleinen Rollen absieht, begegnet nur Salome dieser Figur auf der Bühne. Herodes und Herodias hören sie immer nur und sehen am Ende einen abgeschnittenen Kopf“, erläutert Claus Guth. So kam er zu der Interpretation, dass Salome die Figur für sich erfindet, eine Gegenfigur zum Stiefvater, die es schaffen soll, diesen festgefahrenen, sich hermetisch abschottenden Zirkel zu sprengen. Sie nutzt den erfundenen Jochanaan als Katalysator. „Dieser Homunculus, dieses Frankenstein-Monster ist etwas zutiefst Anarchisches, Wüstes, Hochemotionales“, sagt Claus Guth. Das Wesen, das Salome kreiert, gewinnt eine Eigenständigkeit und kann sich schließlich auch gegen seine Schöpferin wenden. Der Kopf des Propheten symbolisiert den Machtkampf zwischen Salome und ihrem Stiefvater, den Salome gewinnt. Auch das Ende der Oper gestaltet Claus Guth etwas anders als gewohnt. Es ist schon eine Weile her, dass Claus Guth, gemeinsam mit der Ausstatterin und den Dramaturgen, diese Inszenierung erarbeitet hat. Nach der Bauprobe vor etwa einem Jahr verschwanden alle Aufzeichnungen in der Schublade. Als er sie vier Wochen vor Probenbeginn wieder hervorholte, war er nach eigenen Angaben selbst ziemlich überrascht über das, was er dort las: „Hui, ganz schön radikal – na dann mal los!“
Erschienen in der Beilage der Deutschen Oper Berlin in der Berliner Morgenpost, Januar 2016