Hochseilakrobatik für die Stimme - Deutsche Oper Berlin

Hochseilakrobatik für die Stimme

»Wir geben einander Raum, hören zu, ein bisschen wie beim Jazz.«

Frau Lin, Gioachino Rossini gilt vielen ausschließlich als Komponist leichter Stoffe. Erwartet uns ein heiterer Abend?
Bei SEMIRAMIDE kann man sehen, wie Opera seria und Opera buffa Hand in Hand gehen: Rossini hat sie zwar als »ernste Oper« komponiert, aber wenn man genauer hinschaut, entdeckt man viele komische Elemente. An manchen Stellen ist der Text dramatisch, aber die Musik fast heiter; das ist theatralisch, öffnet Raum für eigene Interpretationen.

Wieviel Spielraum lässt Rossini Ihnen?
Die Partitur gibt viel vor, aber eben nicht alles. Bei der Spielweise und der Ausgestaltung der Koloraturpassagen können Orchester und Sänger*innen in gewissen Grenzen eigene Entscheidungen treffen. Wenn Melodien als Wiederholungen notiert sind, wissen die Sänger, dass sie eine Variation anbieten müssen, und die sollte natürlich zum Inhalt passen. Zu Rossinis Zeiten waren sie in dieser Technik so versiert, dass es keiner weiteren Erklärung bedurfte.

Wie entscheiden Sie, wie Sie eine Passage interpretieren?
Für mich steht an erster Stelle der Text. So entstanden ja die meisten Opern, der Text kam zuerst. Und so bereite ich mich auf neue Dirigate vor: Ich lese erst nur das Libretto. Dabei stelle ich mir vor, wie die Szenen aussehen und die Musik dazu klingen könnte – vor meinem inneren Auge entsteht so ein konkretes Bild. Erst dann schaue ich in die Partitur und lasse mich überraschen, wie der Komponist es umgesetzt hat. Und manchmal bin ich tatsächlich überrascht!

Wie kommt Ihre Lesart mit der der Sänger*innen zusammen?
Wir diskutieren und improvisieren, das macht es so spannend. Wir einigen uns auf Motive und Formen, geben einander aber auch Raum, hören zu, ein bisschen wie beim Jazz. Wenn man mit guten Rossini-Sänger*innen arbeitet, kann man an vier Abenden vier Varianten einer Passage hören – alle sind fantastisch. Die Verzierungen sind Spielplätze, auf denen virtuose Sängerinnen sich zeigen können.

Gibt es auch Momente, in denen Sie nicht zufrieden sind?
Dafür sind die Proben da. Wenn ich denke, dass eine Kadenz an einer bestimmten Stelle nicht zum Text passt, dann reden wir darüber. Das macht für mich den Reiz aus: Jeder legt etwas von sich in eine solche Aufführung hinein, so entstehen einzigartige Momente.

 

Neu hier? - Bass Riccardo Fassi gibt in SEMIRAMIDE einen skrupellosen Machtmenschen – für ihn eine willkommene Abwechslung zu seinen bisherigen Rollen

Riccardo Fassi © Nicola Allegri
 

Assur ist eine Traumrolle, für einen Bass vielleicht die Paraderolle überhaupt. Sie ist anspruchsvoll, vor allem wegen der vielen Koloraturen. Da ich kein Experte dieser Technik bin, muss ich mich noch intensiver vorbereiten als sonst. Heutzutage kommen derart virtuose Verzierungen bei Männerstimmen nur noch selten vor, sie gehören nicht mehr zum Standardrepertoire eines Sängers. Beim Einüben der Passagen gehe ich mechanisch vor: Ich starte mit der reinen Rhythmik, überlege, wie ich die Vokale der einzelnen Wörter setze und artikuliere. Erst danach schaue ich auf die Tonhöhen, beginne mit der eigentlichen Melodie – zunächst ganz langsam und nach und nach schneller. Es ist wichtig, dass alle Noten in diesen Koloraturphrasen perfekt intoniert sind. Wenn man nur an einer Stelle unsauber singt, kann es passieren, dass man aus dem Tritt gerät und die gesamte Passage nicht richtig hinbekommt. Und noch etwas muss ich berücksichtigen: Seit der Rossini-Renaissance in den 1980er Jahren gibt es die Tendenz, seine Werke immer schneller zu spielen; ich sollte also darauf gefasst sein, dass es rasant werden kann. Inhaltlich ist Assur eine schöne Abwechslung für mich. Die meisten meiner Rollen waren bisher eher positiv konnotiert, nun spiele ich einen echten Bösewicht. Assur ist ein Machtmensch, skrupellos, ausschließlich am eigenen Fortkommen interessiert. Es reizt mich, einmal das absolut Böse zu verkörpern.

 

Wieder hier? – Mezzosopranistin Beth Taylor singt in Rossinis SEMIRAMIDE einen General der babylonischen Armee. Männerrollen lassen sie die Vielschichtigkeit der menschlichen Seele ausloten

Beth Taylor © Studio 52 London
 

Arsace ist meine zweite Rossini-Rolle überhaupt, ich erschließe mir diese Welt gerade erst. Die andere war Falliero in BIANCA E FALLIERO, ein ähnlicher Charakter. Beide sind autoritäre Menschen, entstammen dem Militär mit seinen Hierarchien, und sie sind ganz offensichtlich – Männer. Ich mag diese Rollen, sie sind vielschichtig und geben mir die Möglichkeit, die Schattierungen der menschlichen Natur zu erkunden. Sie müssen bedenken: Wenn Rossini diese Charaktere klassisch männlich hätte konnotieren wollen, dann hätte er sie wohl als Tenorpartien konzipiert. Ich glaube, es ging ihm darum, die Facetten einer Persönlichkeit herauszuarbeiten, zwischen stark und schwach, leicht und schwer, dunkel und hell. Daher versuche ich erst gar nicht, einen Mann zu verkörpern, das wäre unglaubwürdig. Auch musikalisch besteht die größte Herausforderung darin, ein Gleichgewicht zu finden – zwischen der subtilen Melodramatik der Figuren und der puren Schönheit ihres Gesangs. Es ist ein schmaler Grat. Wenn ich nun für die SEMIR AMIDE nach Berlin zurückkehre, dann schließt sich in gewisser Weise ein Kreis: Mein Debüt an der Deutschen Oper Berlin war auch eine konzertante Aufführung, ich fühle mich dem Haus und seinem Ensemble seitdem sehr verbunden. Auch wenn ich die klassische Oper und das Schauspiel sehr liebe, für mich hat diese Form auch Vorteile; man kann sich hinter keinem Kostüm oder Requisit verstecken, der Fokus liegt voll und ganz auf der Musik. 

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