Komponierte Nahtoderfahrung - Deutsche Oper Berlin
Komponierte Nahtoderfahrung
Ein Gespräch von Isabel Herzfeld mit Georg Friedrich Haas über seine Oper MORGEN UND ABEND
Isabel Herzfeld … studierte Soziologie und Psychologie an der FU Berlin, sowie Musikwissenschaft bei Helga de la Motte-Haber an der TU Berlin. Sie arbeitet als freie Autorin für Printmedien und Rundfunk. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Zeitgenössische Musik, Klaviermusik, sowie NS-verfolgte Komponisten. Seit 2014 verstärkte Mitarbeit bei Spectrum Concerts Berlin zum Aufbau musikpädagogischer Arbeit an der Musikschule Prizren im Kosovo.
Herr Haas, alle Ihre Opern behandeln Themen der Transzendenz, es geht um Nacht in einem sehr umfassenden Sinne, um unlösbare Verstrickungen mit der Vergangenheit, um Tod und Sterben. Ihre Oper MELANCHOLIA von 2008 auf ein Libretto des norwegischen Autors Jon Fosse zeigt, wie ein Mensch in den Wahnsinn getrieben wird. Hatten Sie damals schon die Idee, noch einen Schritt weiter zu gehen und MORGEN UND ABEND zu vertonen?
Fosse machte mir selbst den Vorschlag, das Libretto zu schreiben. Er war wohl sehr beeindruckt davon, wie ich den Schluss von MELANCHOLIA gestaltet hatte. Ich fühlte zuerst die Versuchung, die Polizisten, die Lars Herterveg abholen und in die Irrenanstalt einliefern, militaristisch zu überzeichnen. Stattdessen wurden sie plötzlich so etwas Ähnliches wie Engel, die ihn von einer Welt in die andere führen. Fosse meinte, dass die nächste Oper das, was hier nur angedeutet war, in den Mittelpunkt stellen sollte.
Es geht um den Übergang vom Leben zum Tod?
Es geht um einen Menschen, den Fischer Johannes, aber von seinem Leben bekommen wir nur das Davor und das Danach zu sehen, also im ersten Teil die Geburt, gesehen aus der Perspektive des Vaters, der vor der Türe des Raumes, in dem das Kind geboren wird, steht und wartet. Im zweiten Teil wird der Tod dieses Menschen gesehen, aus der Perspektive des gerade Gestorbenen, der noch nicht begreift, dass er gestorben ist. Fosses Regieanweisung stellt gleich am Anfang klar, dass wirklich nur diese beiden Stationen, der „Morgen“ und „Abend“ des Lebens, die „Handlung“ ausmachen: Nachdem die Geburt vollbracht ist, verlässt der Vater die Szene und geht in den Raum hinein, in dem das Kind geboren ist. Zur selben Zeit kommt ein alter Mann zur anderen Tür herein, das ist er, Johannes, und legt sich hin, legt sich aufs Bett.
Sie sagten aber, dass er nicht weiß, dass er gestorben ist.
Er trifft seine Frau Erna und seinen Freund Peter, der mit ihm zum Fischen aufs Meer fahren will. Beide sind schon lange tot. Er begegnet Signe, seiner Tochter. Sie ist neben der Hebamme die einzige lebende Person in diesem Spiel. Beide müssen von derselben Sängerin gesungen werden, Signe und die Hebamme sind eigentlich eins, die einzige Person auch, die in beiden Teilen der Oper vorkommt. Sie hält Johannes im Leben. Zum Schluss aber geht sie, der Novelle nach, durch ihn hindurch; da begreift er, dass er tot ist.
Sie stellen die beiden Teile aus unterschiedlichen Perspektiven dar, der des Vaters und der des Johannes. Auf welche Weise machen Sie das dem Zuhörer deutlich?
Opernschreiben bedeutet für mich immer, mich in die Position einer bestimmten Person auf der Bühne zu begeben. Also in MELANCHOLIA ist das Lars Hertervig, und die ganze Oper ist gesehen und gehört aus der Perspektive dieses Menschen. Oder in BLUTHAUS ist alles gehört und gesehen aus der Perspektive der Nadia, der missbrauchten Tochter. Oder in THOMAS, das ist alles gehört und gesehen aus der Perspektive des Liebenden, dessen Geliebter gerade gestorben ist. Und hier ist im ersten Teil alles aus der Perspektive des Vaters gesehen, und da traf ich sehr bald die Entscheidung: Das wird nicht gesungen, das muss ein Schauspieler sprechen. Denn da hat das Wort so eine zentrale Rolle, dass ich das als Melodram setze, und wenn dann die Hebamme kommt und ihm sagt: „Du hast einen Sohn“, dann sind das zwar nicht die ersten gesungenen Töne – die hat der Chor, aber der Chor steht hinter der Bühne und wird wie ein Musikinstrument verwendet – aber auf der Bühne wird zunächst nur gesprochen. Wenn dann zum ersten Mal auf der Bühne gesungen wird, dann ist das ein besonderer Augenblick.
Für die Sprechrolle wurde Klaus Maria Brandauer verpflichtet. Warum fiel die Wahl gerade auf ihn?
Brandauer hat eine enorme Erfahrung mit Melodramen, kann sich rhythmisch und stimmlich hervorragend in das musikalische Geschehen einbringen. Sein Part ist hier allerdings völlig frei notiert, macht keine Vorgaben an Rhythmen oder Tonhöhen. Wichtig ist dabei noch, dass die gesprochenen Stellen in die Landessprache übersetzt werden müssen, wenn das Stück in einem nicht deutschsprachigen Land aufgeführt wird. Beim Dialog zwischen dem Vater und der Hebamme bedeutet das für die Londoner Aufführungen, dass sie in deutscher Sprache singt und er spricht auf Englisch. Natürlich kann man den Gesangspart nicht übersetzen; ich glaube aber, wenn ich zwei Menschen miteinander kommunizieren lasse, von denen einer spricht und einer singt, dann ist die Mauer zwischen ihnen so riesengroß, dass die Sprache letztlich irrelevant wird, weil sich dazwischen Welten auftun. Und die Wahl fiel auch deswegen auf Brandauer, weil er ein perfektes Englisch spricht, so ist er für London und Berlin einfach ideal. Übrigens habe ich mich noch bei einer anderen Stelle entschieden, die Sängerin sprechen zu lassen, ein Dialog zwischen Johannes und seiner Tochter, wo er wohl noch am Leben ist – eine gewisse Unschärfe im Text.
Sprache ist für Sie also ein musikdramatisches Mittel, um besondere Positionen oder Situationen im Libretto kenntlich zu machen. Wie gehen Sie musikalisch vor, um die existenzielle und auch transzendente Dimension des Bühnengeschehens auszudrücken? Kann die Aufmerksamkeit des Publikums mit bestimmten Tricks und Kniffen darauf gelenkt werden, etwa indem man seine Erwartungen nicht erfüllt?
Das gilt vor allem für den Anfang. Wie beginnt man so eine Oper? Zunächst lag die Versuchung nahe, etwas zu machen, was irgendwie aus der Geisteshaltung eines Orgelvorspiels zu einer Taufzeremonie herkommt. So etwas Besinnliches, Feierliches, es geht ja um Leben und Tod. Doch mir war sehr bald klar, dass das so nicht geht. Die Lösung fand ich dann in etwas Überraschendem, was man bei einem solchen Thema nicht unbedingt erwarten würde: In den wuchtigen Schlägen der großen Trommeln und der Pauke im dreifachen Fortissimo. Das symbolisiert für mich die Gewalt des Hineingeworfenwerdens in das Leben und genauso diese Gewalt des Herausgerissenwerdens aus dem Leben. Danach setzt eine sehr zarte, leise Musik ein, zum Sprechen des Vaters, und die großen Trommeln tauchen wieder auf, wenn man die Schreie der Mutter bei der Geburt des Kindes hört. Beim Übergang vom ersten zum zweiten Teil vollziehen die Streicher ein kontinuierliches Glissando nach oben, und bevor sie am Ende sind, setzen sie unmerklich tiefer wieder ein, dadurch nimmt man eine unendliche spiralartige Bewegung wahr. Die Akkorde, die dabei entstehen, führen aber abwärts und werden von den Bläsern verstärkt, so dass man sich entscheiden muss, ob man sich auf die Streicher oder auf die Bläser konzentrieren will. Das ist genau die Stelle, wo der Vater ins Geburtszimmer hinübergeht und der alte Mann von der anderen Seite kommt. Der Freund Peter wird durch eine spiralartige Abwärtsbewegung charakterisiert, was auch wie ein unendliches Kreisen wirkt – er ist ja derjenige, der Johannes an die Hand nimmt und in eine andere Welt führt.
Für Ihre Musiksprache ist die Verwendung von Mikrotönen typisch, also Viertel- und Sechsteltöne, die sich zwischen den Halbtönen der zwölftönigen Skala befinden, und auch Obertöne, die ja ebenfalls von der bei uns gebräuchlichen temperierten Stimmung abweichen. Wie wird ein großes Opernorchester, das ja im Alltagsbetrieb nicht daran gewöhnt ist, mit einer solchen Herausforderung fertig?
DIE SCHÖNE WUNDE und BLUTHAUS waren Kammeropern, die von Spezialensembles für Neue Musik ausgeführt wurden. Für das große Orchester habe ich weitgehend auf Mikrotöne verzichtet. Das ist mir bei einer relativ geringen Probenzeit intonationsmäßig einfach zu heikel. Außerdem möchte ich gerne vermeiden, dass man, wenn man den Namen Haas im Programmheft liest, krampfhaft auf den ersten Obertonakkord wartet. Aus dieser Schublade möchte ich ganz gerne heraus. Es gibt ein paar wenige Stellen – langsame Glissandi, die zwangsläufig mikrotonal sind, und einige, wo das Orchester die Töne der Sängerin Sarah Wegener übernehmen muss, die wirklich in der Lage ist, Sechsteltöne zu intonieren. Da müssen die Musiker eben spielen, was sie hören. Zum anderen verwendet jedes Orchester ohnehin mikrotonale Schwankungen, nicht in dem Sinne, dass es falsch spielt, sondern als Ausdrucksmittel. So kommt am Anfang der Oper nach diesen starken Fortissimo-Schlagzeugklängen eine langgestreckte Passage nur mit den Tönen D und A, für die ich die leeren Saiten der Celli, Bratschen und Violinen verwende. Am Ende der Oper kommt das wieder. Da werden sich aber die Saiten nach anderthalb Stunden Musik verstimmt haben. Und diese Verstimmung bringt mir automatisch diese Verwitterung oder diesen Bezug zwischen Geburt und Tod. Das muss ich dann gar nicht mehr bewusst komponieren, nur zulassen.
Das Einbeziehen von optischen Elementen ist ebenfalls Bestandteil Ihres Stils. So gibt es in Ihrem Orchesterstück „in vain“ eine zentrale Stelle, die bei absoluter Dunkelheit zu spielen ist; das dritte Streichquartett „In iij. Noct.“ findet sogar gänzlich bei völliger Finsternis statt; das Orchesterstück „Hyperion“ besitzt eine regelrechte „Lichtstimme“ als strukturierendes Musikinstrument; der Oper DIE SCHÖNE WUNDE ist neben Dunkelszenen ein „Lichtcrescendo“ einkomponiert. Erleben wir so etwas auch in MORGEN UND ABEND?
Ja, an der absoluten Schlüsselstelle des Werkes, zunächst aber auf klanglicher Ebene. Wenn es dann wirklich ernst wird und Peter, der Freund, Johannes abholt, erklingt Folgendes: extrem hohe Töne auf der einen Seite und extrem tiefe Töne auf der anderen Seite. Dann verschwinden die extrem tiefen Töne und es bleiben nur die extrem hohen übrig. Das ist so laut, dass die Spieler mit Ohrenschutz spielen müssen. Dahinter steckt eine reale Erfahrung: Ich hatte mit vierzehn Jahren eine Operation, etwas ganz Banales, eine Warze an der Zehe oder so. Die Operation wurde im Krankenhaus in Schruns durchgeführt, und die Anästhesie bestand aus einem Wattebausch, der in eine Flasche Äther getaucht und mir auf das Gesicht gedrückt wurde. Bei Äther verliert man halt das Bewusstsein, und plötzlich war mir ganz klar: Ich bin tot. Mein Ich hat den Raum verlassen, ist aufgestiegen in eine Art virtuellen Raum. Da waren viele andere so wie ich dabei, und einer nach dem anderen wurde in einen anderen Raum gerufen und durfte dort hingehen, und ich musste als einziger wieder zurück. Erst viel später habe ich begriffen, dass das eine Art Nahtoderfahrung war. Zwei Dinge waren dabei ganz klar wahrzunehmen: extreme Helligkeit einerseits und ganz extrem laute, hohe Töne andererseits. Diese Erinnerung habe ich an dieser Stelle verarbeitet. Was mir daran besonders gefällt, ist die Tatsache, dass diese hohen Töne die Sänger, die ja drei Oktaven tiefer singen, nicht zudecken können. Andererseits verlieren die Stimmen ihre Strahlkraft, so dass man an dieser Stelle das Gefühl haben wird, dass die Sänger hinter einem Vorhang oder hinter einer Maske verschwinden.
Das würde dann ja dem Verlust der Lebendigkeit, dem Eintritt in das Totenreich entsprechen.
Ja, dem Verlust der lebendigen Ausstrahlung. Und das Ende ist dann ein Monolog der Tochter, die vom Begräbnis spricht. Ob das auf der Szene allerdings so stattfinden wird, weiß ich nicht, denn ein Regisseur muss sich ja nicht an meine Vorstellungen halten.
Ist das Ihre Erfahrung, dass Ihre Vorstellungen als Komponist bei der szenischen Realisierung nicht berücksichtigt werden?
Wenn man eine Oper schreibt, muss man den Kompromiss eingehen, sich dem auszusetzen, dass szenisch infrage gestellt wird, was man gemacht hat. Ich halte Regietheater für ältere Werke für sehr wichtig, aber ein zeitgenössisches Stück braucht den Regisseur als Interpreten, nicht anders als den Dirigenten. Mein Musiktheater ist kein soundtrack für eine ad-libitum- Inszenierung, sondern will die Emotionen wecken, die mir beim Komponieren vorschwebten – für mich ist Oper das Theater der Emotionen.
Dieses Interview von Essay von Isabel Herzfeld ist der Beilage der Deutschen Oper Berlin zum Tagesspiegel, Februar 2016, entnommen.