Leidenschaft und Kalkül - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
Leidenschaft und Kalkül
Ein Essay von Kadja Grönke
Als Alexander Puschkin 1834 seine Erzählung „Pique Dame“ veröffentlichte, war Prosa in Russland noch nicht recht angesehen. Für Puschkins Zeitgenossen schien es nur schwer nachvollziehbar, warum der anerkannte russische Dichter aus dem Höhenflug seiner Poesie in die Niederungen der Alltagssprache herabstieg. Denn schöne Literatur war zu jener Zeit gleichbedeutend mit Versen – oder zumindest mit üppigem rhetorischem Aufwand. Gut drei Jahrzehnte, bevor das große, psychologisch abgründige Romanschaffen eines Tolstoi oder Dostojewskij einsetzte, warf Puschkin in „Pique Dame“ mit einem Minimum an sprachlichem Aufwand ein Netz von Beziehungen und Anspielungen aus und erzählte in provozierender Knappheit die Geschichte des spielsüchtigen Offiziers Hermann und der von Liebessehnsucht verblendeten armen Waisen Lisaweta Iwanowna. Ohne Um- und Abwege verdeutlichte der Autor, wie das Gerücht, dass die alte Gräfin angeblich drei im Glücksspiel stets gewinnbringende Karten kenne, Hermanns lange unterdrückte Spielsucht anstachelt. Als er zufällig von der armen Pflegetochter der Gräfin erfährt, täuscht er Liebe vor, um über die junge Frau an das Geheimnis zu kommen. Doch die Gräfin stirbt, bevor sie die Karten verraten kann, Lisaweta Iwanowna erkennt, dass Hermann sie nur benutzt hat, Hermann verspielt all sein Geld, landet im Irrenhaus, und die junge Frau ehelicht, ganz unspektakulär, einen braven jungen Mann.
Von der Erzählung zur Opernhandlung
Was Puschkin aus spöttischer Distanz umreißt, wird in Tschaikowskijs Bühnenwerk also hochemotional durchlebt und durchlitten. Ein kleines, aber signifikantes Zeichen für diese Umdeutung gibt der Namenswechsel der weiblichen Hauptfigur. Aus Lisaweta Iwanowna wird Lisa – eine vertraute, vertrauliche Anrede, die aber zugleich auch die Heldin einer seinerzeit vielgelesenen Erzählung bezeichnet: 1792 hatte der Dichter Nikolai Karamsin in „Die arme Lisa“ den Inbegriff einer im wahrsten Sinne totunglücklichen, vom Geliebten betrogenen Frauenfigur geschaffen. Indem Tschaikowskij ihren Namen aufgreift, macht er auf den ersten Blick deutlich, dass die unstandesgemäße Liebe seiner Opernheldin nur, wie bei Karamsin, tragisch mit dem selbstgewählten Tod Lisas enden kann. Und auch Tschaikowskijs Herman ist deutlich nicht mehr der Hermann Puschkins: Seine Namensschreibung wird russifiziert, er verliert den letzten Buchstaben, der bei Puschkin noch auf die (für die Erzählung leitmotivisch bedeutsame, in der Oper aber irrelevante) deutsche Herkunft des männlichen Helden hinweist.
Warum entschied sich Russlands anerkanntester Komponist 1890 für eine derart gravierende Umdeutung von Puschkins kleinem Prosawerk? Missachtung oder gar parodistische Intentionen scheiden für eine Erklärung aus. Tschaikowskij hat Puschkin immer ernstgenommen und verehrte seine Dichtung. Doch er deutete sie auf seine eigene Weise und vor dem Hintergrund seines eigenen Lebens und Liebens. Und damit war ihm jede spöttische Distanz unmöglich – ganz gleich, wie humorvoll-distanziert Puschkin selbst sich seinen Figuren angenähert hatte. In nur sechs Wochen, zwischen Ende Januar und Mitte März 1890, komponierte Tschaikowskij in einem wahren Schaffensrausch seine umfangreiche Partitur, die – zumindest außerhalb des slawischen Kulturraums – das Wissen um Puschkins Prosawerk rasch weit in den Schatten gedrängt hat.
Wie sehr ihm dabei die Distanz zu seinen Figuren schwerfiel, zeigen seine regelmäßigen brieflichen Kommentare zum Kompositionsprozess und speziell zur Gestaltung des Herman, für den der Tenor Nikolai Figner und damit ein von Tschaikowskij sehr geschätzter Sängerdarsteller vorgesehen war. „Als ich beim Tod Hermans angekommen war, tat er mir in einem solchen Maße leid, dass ich spontan stark zu weinen begann. [...] Da ich niemals zuvor wegen des Schicksals eines meiner Helden in Tränen ausgebrochen bin, versuchte ich zu verstehen, warum ich so sehr weinen wollte. Es scheint, dass Herman für mich nicht nur ein Vorwand war, diese oder jene Musik zu schreiben, sondern die ganze Zeit über ein wirklicher, lebendiger Mensch, und mir dabei sehr sympathisch. Weil Figner mir sympathisch ist und weil ich mir die ganze Zeit Herman wie Figner vorstellte, nahm ich allerlebhaftesten Anteil an seinem Los“, wie der Komponist seinem Bruder und Co-Librettisten Modest am 15. März 1890 schrieb. „Ich denke“, fügte er lakonisch hinzu, „dass diese warme und lebhafte Anteilnahme am Helden meiner Oper sich vermutlich förderlich auf die Musik ausgewirkt hat. Insgesamt scheint mir die Oper derzeit recht gelungen.“
Liebe und Tragik in Tschaikowskijs Puschkin-Opern
Die Emotionalisierung und die Fokussierung auf Liebe und Tragik erweisen sich als eine folgerichtige Weiterentwicklung dessen, was Tschaikowskij bereits in seinen früheren Bühnenwerken auf Vorlagen von Alexander Puschkin praktiziert hat. Bevor Tschaikowskij sich 1890 dem Prosawerk „Pique Dame“ zuwandte, hatte er nämlich 1879 bereits den Versroman „Eugen Onegin“ als Opernvorlage genutzt und 1884 nach Puschkins Erzählgedicht „Poltawa“ seine Oper MASEPA komponiert. Keine der drei literarischen Vorlagen ist eigentlich so recht für die Musiktheaterbühne geeignet: Puschkins „Eugen Onegin“ bietet eine facettenreiche „Enzyklopädie des russischen Lebens“, die im Tonfall der sogenannten leichten Poesie einen ebenso spöttischen wie tiefgründigen Einblick in die russische Adelskultur der nach-napoleonischen Epoche und in das russische Seinsverständnis im ersten Drittel des 19. Jh.s gibt. Das Versepos „Poltawa“ verbindet russische Historie zur Zeit Peters des Großen mit einer Reflexion von Macht und Machtmissbrauch, und „Pique Dame“ lässt in seiner schnörkellosen, intensiven Prosa-Kürze kaum Raum für eine psychologische Ausgestaltung der Figuren (die ohnehin nicht in Puschkins Absicht lag). Um aus diesen literarischen Lesetexten überzeugende Bühnenwerke zu machen, musste der Komponist eingreifen und Schwerpunkte setzen; und Tschaikowskij legte diesen Schwerpunkt auf sein großes Lebensthema: die Liebe – und zwar die ausschließliche, übergroße, aber unerfüllbare Liebe einer Frau zu einem Mann, der diese Liebe nicht mit gleicher Ausschließlichkeit erwidert. Das steht in keiner Weise im Widerspruch zu seinen Affekten in Bezug auf Herman, sondern ergänzt sie, da in PIQUE DAME nun erstmals ein auch musikalisch ebenbürtiger männlicher Held an die Seite der von Tschaikowskij gestalteten weiblichen Hauptrolle tritt.
Für sein Liebes-Thema muss der Komponist in EUGEN ONEGIN das komplexe Zeitbild des Versromans auf die Geschichte der Landadeligen Tatjana und des Großstadt-Dandys Onegin herunterbrechen – und kein Komponist vor oder nach ihm hat in seiner Musik jemals so viel über den Reifungs- und Selbstfindungsprozess einer weiblichen Seele ausgesagt. Aus Puschkins Erzählgedicht „Poltawa“ sucht Tschaikowskij diejenigen Passagen heraus, in denen die junge Maria in Liebe dem alten und machtgierigen Kosakenführer Masepa verfällt, und macht Maria zur tragischen Heldin seiner Oper MASEPA. Und in PIQUE DAME steigert Tschaikowskij die Fallhöhe seiner Lisa, indem er aus Puschkins armer Waisen nicht nur eine Adelige, sondern eine reiche und angesehene Verlobte macht, die unmittelbar vor ihrer Ehe mit Fürst Jeletzkij steht. Zudem ist eine solche konkurrierende Männerfigur bei Puschkin schlichtweg nicht vorhanden. Tschaikowskij aber braucht diese zusätzliche Gestalt dringend, um den Konflikt zu verschärfen.
Klassenunterschiede
Für Lisa ist es der Konflikt zwischen der gesellschaftlich erwarteten Pflichtheirat mit einem – von ihr respektierten und geschätzten – Mann auf der einen Seite und ihrer abgründig aufbrechenden Leidenschaft für den sozial niedriggestellten Herman auf der anderen Seite. Für Herman verschärft die Verlobung die Unerreichbarkeit Lisas, die er nur dann umgehen zu können glaubt, wenn er „Berge von Gold“ besitzt (wie er im Libretto fantasiert). Dass er sich über Lisas Verlobung schlichtweg hinwegsetzt, ist nicht allein ein schlechter Charakterzug: Tschaikowskij zeigt damit, dass Hermans allesverzehrende Liebe sich an Lisa nur entzündet, in Wahrheit aber und bis zum Tod den sagenhaften „goldenen Bergen“ gilt.
Die Konstellation, in der sich Tschaikowskijs Lisa befindet, ist folglich eine ganz andere als bei Puschkin: Sie liebt, mit Leidenschaft und ausschließlich, einen nicht standesgemäßen Mann. Aber sie hat jederzeit die Alternative, zu ihrem Verlobten zurückzukehren, der ihr eine selbstlose, ganz auf ihr Glück ausgerichtete und gesellschaftlich akzeptierte Verbindung anbietet. Damit greift Tschaikowskij erneut ein dramaturgisches Modell aus seinen früheren Puschkin-Opern auf: Auch Tatjana hat eine Alternative zu Eugen Onegin, und anders als Lisa entscheidet sie sich dafür, diese Liebesalternative tatsächlich zu heiraten, ihre Gefühle für Onegin tief in sich zu verbergen und eine angesehene Petersburger Fürstin zu werden. Zu diesem Zweck macht Tschaikowskij aus Puschkins Randfigur von Tatjanas namenlosem Ehemann die Operngestalt des Fürsten Gremin, dessen Name so viel bedeutet wie „laut ertönen“, „gerühmt werden“, „einen guten Klang haben“, und für den er die einzige große Arie seiner Oper komponiert. Ebenso ist Maria, die Protagonistin von MASEPA, eigentlich dem jungen, gefühlvollen Andrej zugedacht, der aus Sicht ihrer Eltern sehr viel besser zu ihr passen würde als der alte, jähzornige Kosakenführer. Parallel zu PIQUE DAME entscheidet sich aber wie Lisa auch Maria gegen das Naheliegende und für eine Liebe, die am Ende ihr Leben zerstört.
Tote, Geister und Visionen
Doch vorher muss – ebenso wie in Tschaikowskijs anderen beiden Puschkin-Opern – ein nahestehender Mensch sterben: In MASEPA führt Marias Liebeswahl letztlich zur Hinrichtung ihres Vaters, in EUGEN ONEGIN löst Tatjana unabsichtlich den Duelltod Lenskijs, des Geliebten ihrer Schwester, aus und in PIQUE DAME ermöglicht Lisa den Tod der alten Gräfin. Denn erst als Lisa Herman zum Stelldichein auf ihr Zimmer bittet und ihm dafür den Schlüssel überreicht, erhält er überhaupt die Möglichkeit, sich ins Boudoir der Gräfin zu schleichen, woraufhin die alte Frau erschrocken durch den Eindringling stirbt, ohne ihm die drei magischen Karten genannt zu haben. Lisas Entsetzen, als sie ihn und die tote Großmutter entdeckt, berührt Herman in diesem Moment nicht; von Schuldbewusstsein zeigt er keine Spur. Seine Verzweiflung gilt einzig der Unmöglichkeit, der Toten das Geheimnis der drei Spielkarten zu entlocken.
Anschließend komponiert Tschaikowskij die wohl packendste Geisterszene der Operngeschichte: Der zutiefst aufgewühlte Herman, allein mit sich und seinem Gewissen, erinnert sich an die Beerdigung der alten Gräfin und – ist es eine Wahnvorstellung oder ein Traum? – erlebt das nackte Grauen, als ihm daraufhin ihr Geist erscheint. Wie es sich für romantische Operngeister gehört, rezitiert der Geist der Gräfin auf einem einzigen Ton und gibt dabei Herman das, wonach sein Unterbewusstsein verlangt: die magischen Kartennamen Drei, Sieben und Ass. Dass Hermans drei Karten beim Glücksspiel gewinnen werden, knüpft die Gräfin (oder Hermans Unterbewusstsein) an die Bedingung, Lisa zu heiraten. In Hermans überreiztem Hirn hat dauerhaft aber nur das Kartengeheimnis Platz. Die daran gebundene Bedingung ist aus seiner Wahrnehmung verschwunden. Auf dem Weg zum Spielsaal begegnet er zwar Lisa, aber er erkennt sie nicht mehr, so sehr ist er von dem Gedanken an die vermeintlich vor ihm liegenden „goldenen Berge“ besessen. Tatsächlich siegt er sowohl mit der Drei als auch mit der Sieben. Doch bei der dritten, alles entscheidenden Runde, die Tschaikowskij zum Kartenduell zwischen den Kontrahenten Herman und Jeletzkij zuspitzt, setzt Herman statt auf das Ass auf die Pik Dame. Herman glaubt, in ihr das Ebenbild der alten Gräfin zu sehen und nimmt sich das Leben. Vor seinem Tod jedoch singt er noch eine berührende Liebeserklärung an Lisa – in der er seine „Göttin“, seinen „Engel“ zum allerersten Mal im gesamten Libretto tatsächlich mit ihrem Namen anspricht. Was er nicht wissen kann, ist, dass Lisa sich am Tod der Gräfin und an Hermans Verblendung mitschuldig fühlt und bereits voller Verzweiflung ins Wasser gegangen ist. Fazit: Drei Tote bei Tschaikowskij, statt eine bei Puschkin.
Zur Partitur von PIQUE DAME
Die Musik der Oper ist eine fesselnde Mischung aus leidenschaftlicher Emotionalität und kompositorischem Kalkül. Hermans Begehren blüht bereits am Ende des kurzen Orchestervorspiels auf: In sechs in überwältigendem Streicherwohlklang „molto espressivo“ von leise zu laut ansteigenden Wellen erreicht diese Melodie einen strahlenden Höhepunkt, um dann in einer weitgespannten Linie wieder abzusinken. Wie könnte Lisa sich der emotionalen Wucht dieses Gefühls entziehen?
Das Orchestervorspiel erzählt alles, was das Publikum anfangs über Herman wissen muss: Es spricht von einer absoluten, einschränkungslosen und unwiderstehlichen Liebe und Leidenschaft. Aber wem gilt dieses mächtige Gefühl?
Als Herman zum ersten Mal auf der Bühne erscheint, gesteht er dem Freund Tomskij, verliebt zu sein. Aber diese Liebe quält ihn, da sie aufgrund des Standesunterschieds aussichtslos erscheint. Nur aus der Ferne betet er Lisa an, von der er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal den Namen kennt:
Die Musik dazu erinnert an das leidenschaftliche Begehren aus dem Orchestervorspiel – allerdings ohne dessen erste, hoffnungsvoll aufsteigende Phrase. Es besteht lediglich aus einer weitgespannten fallenden Linie, deren Länge gewissermaßen das Übermaß der Liebessehnsucht abbildet und deren Abwärtsrichtung zugleich das Unerfüllbare dieser Sehnsucht verdeutlicht. Verbunden ist diese Melodie mit kleinen Seufzergesten. – Ob Herman tatsächlich in Lisa verliebt ist oder nicht vielmehr in die Unerfüllbarkeit seiner Liebe? Tschaikowskijs Musik lässt das offen.
Die Illusion von Liebe hat ein starkes Gegenelement: Alles Fatale der Bühnenhandlung entfaltet sich aus einem – vorrangig instrumental verwendeten – Motiv, das fest mit der alten Gräfin verbunden ist. Es besteht aus drei rhythmischen Dreiton-Gruppen im anapästischen Rhythmus kurz-kurz-lang, die auf einen Schlusston hinsteuern. Dieser letzte, markierte Schlusston, der das Motiv beendet, so wie die falsch gezogene Karte am Ende Hermans Leben beendet, fehlt anfangs noch. Das Motiv kann als starre Wiederholungsfigur erscheinen, oder sich (wie der Beginn der Melodie des Begehrens) nach und nach aufwärts schrauben. Schicksal und Leidenschaft sind damit musikalisch eng verbunden.
Wie prägnant Tschaikowskij das Schicksalsmotiv einsetzt, zeigt er (bühnendramaturgisch meisterhaft kalkuliert) unmittelbar nachdem Herman seinen Freunden seine heimliche Liebe gestanden hat: Sein Liebesunglück prallt auf die Freude Jeletzkijs über die eigene Verlobung, und als Herman den Fürsten nach dem Namen seiner Braut fragt, tritt wie zur Antwort Lisa an der Seite der alten Gräfin auf. Im Orchester erklingt dazu aber nicht etwa die Musik der Leidenschaft, sondern – psychologisch abgründig – das Schicksalsmotiv der alten Frau. Herman erkennt erstmals, dass seine Angebetete verlobt ist; sein Unterbewusstsein aber nimmt ausschließlich die alte Frau wahr – und damit die Hüterin des Kartengeheimnisses.
In einer eindrucksvollen Gewitterszene, in der das hereinbrechende Unwetter den Sturm in Hermans Innerem quasi nach außen kehrt, schwört er sich, Lisa zu erobern. Da das nur über gesellschaftlichen Aufstieg und dieser wiederum nur über Reichtum machbar scheint, umfasst sein Schwur implizit auch das Erringen des Kartengeheimnisses – und zieht ihn damit zur alten Gräfin. Diese taucht jedes Mal auf, wenn er sich Lisa zuwenden möchte, und gewinnt damit eine ähnlich erotische Anziehungskraft. Tschaikowskij zeigt das in zwei Schlafzimmer-Szenen: In Lisas Schlafzimmer wird Herman im I. Akt bei seinem Werben um Lisa fast von der Gräfin überrascht, was seiner Werbung sodann die letzte Überzeugungskraft verleiht. Und im Schlafzimmer der Gräfin, in das er sich im II. Akt anstelle von Lisas Zimmer schleicht, ist sein Ringen um das Kartengeheimnis nicht weniger von Eros und Leidenschaft erfüllt als zuvor sein Werben um Lisa. In beiden Szenen sind überdies Liebe und Tod, Eros und Thanatos signifikant verbunden: Herman erpresst Lisas Gegenliebe mit einer Selbstmorddrohung, und der Tod der alten Gräfin ist eine Folge von Hermans leidenschaftlichem Flehen, das, als die Gräfin nicht antwortet, bei Ablehnung in eine Morddrohung umschlägt.
Im Verlauf der Oper wird die Leidenschaft Hermans immer zwanghafter von Lisa zur Gräfin umgelenkt und damit von der Liebe zum Geld immer zwanghafter. Als Auslöser und musikalischer Stein, der die dramatische Handlung ins Rollen bringt, fungiert (wie auch in Puschkins literarischer Vorlage) Hermans Kamerad Tomskij. Er ist derjenige, der überhaupt erst die Sprache auf das Kartengeheimnis bringt: Im Freundeskreis berichtet er, warum die Gräfin den Spitznamen Pique Dame trägt und wie sie an das Geheimnis der drei Gewinnkarten gekommen sein soll. Tschaikowskij macht diese Ballade (ähnlich wie Wagner es mit Sentas Ballade im FLIEGENDEN HOLLÄNDER tut) zum musikalischen Zentrum seiner Opernpartitur: Refrainartig-obsessiv hört Herman in ihr immer wieder die Worte „drei Karten, drei Karten, drei Karten“ – eine markant rhythmisierte, abwärtsgerichtete Linie mit akzentuiertem Schlusston.
Diese fallende Linie gibt es auch in Hermans Thema der anbetenden Liebe, und das Prinzip einer rhythmischen Gliederung in drei mal drei Noten mit deutlichem Schlusston stammt aus dem Schicksalsmotiv der alten Gräfin. Auf diese Weise offenbart Tschaikowskijs Musik, wie unlöslich Leidenschaft, Spielglück bzw. erhoffter Reichtum und die alte Gräfin in Hermans fiebrigem Hirn in eins verschmelzen. Tschaikowskijs Partitur ist fest um diese Ambivalenz von Hermans Begehren herum komponiert. Letztlich dominiert nicht das liebende Begehren, sondern der begehrte Reichtum. Seine Gier zieht ihn von Lisa fort und immer stärker zu der Gräfin hin, welche er im Zwiespalt von Anziehung und Abneigung mit geradezu leidenschaftlicher Besessenheit umwirbt. Diese Fixierung auf die alte Frau, die für Herman gewissermaßen die Inkarnation des Spielgewinns und seines künftigen Reichtums bedeutet, wird von Tschaikowskij musikalisch-dramaturgisch geradezu als klinische Obsession geschildert und führt Hermans Untergang mit einer sich immer mehr überstürzenden Fatalität vor Augen und Ohren. Am Ende sind Liebe und Tod nur Zwischenstationen auf dem Weg hin zu den „goldenen Bergen“, die Herman mit aller Kraft begehrt. Als er diese am Ende verfehlt und seine Liebe verloren ist, bleibt ihm aus dieser Dreieinheit tatsächlich nur noch der Tod.
Dennoch und trotz des in Tschaikowskijs Briefen und Tagebucheinträgen bekundeten Mitgefühls mit dem männlichen Protagonisten ist Herman nicht der alleinige Held. An ihm entzünden sich zwar – ganz wie in der antiken Tragödie – Mitleid und Schrecken. Tschaikowskijs tiefe Sympathie aber gehört Lisas unerfüllbarer, erst mit dem Tod endender Liebessehnsucht. Um das ganz deutlich zu machen, erfindet der Komponist das komplette sechste Bild und damit die hochemotionale letzte Begegnung am Kanal, Lisas Zurückweisung durch Herman, ihre Gewissensbisse und ihren Freitod zu Puschkins Erzählung neu hinzu. Hier wird Lisa, die im zweiten Bild nach hochemotionalem Ringen Hermans Liebeswerben nachgegeben hat, sich im dritten Bild ihrem Verlobten entzogen und Herman zu einem Stelldichein gebeten und ihn im vierten Bild angesichts der Leiche der alten Gräfin scheinbar unmissverständlich fortgeschickt hat, ein letztes Mal für ihre Liebe aktiv. Aber ihre Hoffnung, Herman zur Flucht und zu einem neuen, gemeinsamen Leben weit fort vom verhängnisvollen Sankt Petersburg zu überreden, schlägt fehl, da Herman inzwischen nur noch auf das Geld fixiert ist. Lisa, die sich vorwirft, diesen fatalen Weg ermöglicht zu haben, nimmt dies als Schuld auf sich: Sie sühnt ihren Abweg ebenso sehr wie seinen, indem sie ihrem Leben ein Ende setzt.
Mit großen, schmerzlichen und unerfüllbaren Lieben kannte Tschaikowskij sich aus. Den Tod hat er trotzdem nicht gewählt. Auf PIQUE DAME folgte in seiner letzten Oper, JOLANTA, die Utopie einer wesensveredelnden Liebe, die selbst das körperliche Gebrechen (Jolantas Blindheit) zu heilen imstande ist. In PIQUE DAME dagegen macht die Liebe blind, krank und führt letztlich mit der unaufhaltsam sich überstürzenden Kraft eines antiken Dramas in Wahnsinn, Selbstverlust und Tod.