Mein Seelenort: Chaya Czernowin - Deutsche Oper Berlin
Mein Seelenort: Chaya Czernowin
Chaya Czernowin ist die wohl sinnlichste Komponistin unserer Zeit. Mikroskopisch blickt sie auf die kleinen Dinge. Und dieser Blick steckt auch in ihrer Musik. Ein Hausbesuch in Harvard, USA
Chaya Czernowin:
HEART CHAMBER
Dirigent: Johannes Kalitzke; Inszenierung: Claus Guth; Bühne und Kostüme: Christian Schmidt; Video-Design: rocafilm; Mit Patrizia Ciofi, Noa Frenkel, Frauke Aulbert; Dietrich Henschel, Terry Wey; Uli Fussenegger; Ensemble Nikel; SWR Experimentalstudio; Orchester der Deutschen Oper Berlin; 1 DVD, auch als Blu ray-Disc erhältlich; Live-Aufnahme aus der Deutschen Oper Berlin vom 13., 26. und 30. November 2019
Außerdem:
I did not rehearse to say I love you; Dokumentarfilm von Uli Aumüller über die Uraufführungsproduktion (Dauer 90 Minuten)
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Dieses Haus musste ich erst einmal reinigen, im energetischen Sinne. Ich fand es wunderschön, doch das Paar, das vor uns darin wohnte, hatte sich getrennt. Zwischen den Wänden hing eine tiefe Traurigkeit, die habe ich vertrieben. Wie eine Hexe bin ich mit einer Schale voller getrockneter, glimmender Salbeiblätter durch jeden Raum gegangen, habe jede Ecke ausgeräuchert. Danach war die Atmosphäre frisch und klar. Und das Haus konnte mein Zuhause werden. Zehn Jahre ist das nun her, und ich freue mich noch immer über meine enge Verbindung zu diesem Haus – hoffentlich freut es sich auch. Ich kam mit meiner Familie im September hierher, um an der Harvard University in Boston Komposition zu lehren. In welchem Viertel wir wohnen würden, durfte unser Sohn bestimmen: Er war damals vierzehn, das ist eine sehr wichtige Zeit für Heranwachsende. Deshalb sollte er zuerst seine Middle School auswählen, danach suchten wir unser Zuhause in der Nachbarschaft. Mein Mann, der Komponist Steven Takasugi, war schon begeistert von den Fotos im Netz. Er rief mich ganz aufgeregt an: »Ich habe unser Haus gefunden.« Ich aber wollte das Haus erst mal anschauen. Und dann entdeckte ich gleich im Flur ein Poster des Komponisten Philip Glass. Ich bin zwar kein glühender Fan von Glass, aber das war ein gutes Zeichen: Hier wohnte die Musik!
Für mich ist dieses Haus mehr als ein Haus, es ist wie verwoben mit den Bäumen und Sträuchern der Außenwelt, durchlässig und beschützend zugleich. Manchmal meditiere ich in seinem Zentrum. Ich habe mal gelesen, dass dabei etwas Wunderbares passieren kann, ein Gefühl, als wenn aus dem Körper Äste wachsen, hoch hinaus bis durch das Dach, und draußen neigen sie sich wieder zu Boden und dringen tief in ihn ein, wie Wurzeln. Auf diese Art wächst eine tiefe Beziehung zu einem Ort. Leider meditiere ich viel zu selten; immerhin genieße ich die Stille am Morgen. Gleich nach dem Aufstehen gehe ich ins Erdgeschoss in mein Büro, um am Computer zu schauen, ob alles in Ordnung ist, wie es meiner Familie in Israel geht, den Freunden in aller Welt, meinem Sohn, der mittlerweile ausgezogen ist. Doch oft bleibe ich erst mal stehen und schaue aus den Fenstern, diesen wunderschönen großen Sprossenfenstern. Sie sind fast hundert Jahre alt und viel zu dünn für die Winter hier im Norden. Aber wir würden sie niemals austauschen!
Ich liebe das Licht, das durch sie hineinfällt, es hat eine ganz eigene Qualität, flirrend und ätherisch und zugleich sehr körperlich. Eigentlich ist dieses Licht mein Seelenort. Im Frühling und Sommer scheint es grün durch die Blätter, durch Schichten um Schichten von Laub, es ändert sich mit jeder Minute. Und ich stehe einfach da und schaue und schaue und schaue.
Später arbeite ich in meinem Zimmer oben, an einem Tisch ohne Computer. Dort komponiere ich, dort ist auch HEART CHAMBER entstanden. In diesem Stück durchdringt der Klang den Raum von allen Seiten und durchwandert ihn, ganz ähnlich wie bei mir zu Hause. Wenn es ganz still ist nachts, dringen Geräusche mit Leichtigkeit herein, wiederum in Schichten. Zuerst sind da die verschiedenen Zikadenarten in der Nähe, dann die Vögel. Weiter entfernt fahren Autos, doch das stört mich nicht, es klingt wie fernes Meeresrauschen, ganz weich und beruhigend.
Ohne die Nähe zur Natur könnte ich nicht leben und nicht komponieren. Ich bin ihre Schülerin – sie lehrt mich so viel. Oft gehe ich raus und mache Fotos mit dem Smartphone, von Gräsern und Tautropfen. Einmal saß ich während eines Sturms im Auto und filmte, wie die Blätter in Spiralen durch die Luft tanzten, logisch und magisch zugleich. Da wirkten viele Parameter zusammen, die diese Bewegung erzeugten, aber analysieren ließen sie sich nicht. Es war, als würden die Blätter Zeichen in die Luft schreiben, die ich entziffern sollte. Ich stellte sie mir als Klänge vor, mit Rhythmus und Tonhöhe und all ihren anderen Eigenschaften. Als Komponistin geht es mir jedoch nicht darum, solche Bilder einfach in Klang zu übersetzen.
Ich frage mich vielmehr, was empfinde ich hier, was interessiert mich daran? Und dieser Ahnung jage ich dann hinterher wie eine Detektivin, immer weiter in unbekannte Sphären. Ich suche das Unerhörte in meiner Arbeit, ein Risiko; ohne Wagnis erschiene sie mir bedeutungslos. Manchmal, wenn ich abends müde oder ein wenig traurig bin, fahre ich an einen See hier in der Nähe, den Crystal Lake. Er kommt mir vor wie ein Außenposten unseres Hauses, er ist auch so dicht umwachsen. Es gibt nur wenige Plätze direkt am Ufer, und selbst die sind ziemlich einsam. Die meisten Menschen kommen allein dorthin, höchstens zu zweit. Ich schätze, sie wollen Ruhe finden, so wie ich. In der Ferne fahren Züge, das Geräusch stimmt mich ein wenig wehmütig. Doch dort am Wasser zu sitzen ist tröstlich. Es ist ein lyrischer Ort.