Vasily Barkhatov – Mein Seelenort: Russische Literatur - Deutsche Oper Berlin
Aus Libretto #4 (2023)
Vasily Barkhatov – Mein Seelenort: Russische Literatur
Vasily Barkhatovs Zuhause ist die russische Literatur. Als Kind war sie ihm Tor zur Welt, heute ist sie Quell der Inspiration. In Berlin inszeniert der junge Regiestar nun die Verdi-Oper SIMON BOCCANEGRA
Ich habe keinen Seelenort. Ich habe auch keine Heimat, ich war nie mit einem Stück Land verbunden. Vielleicht habe ich Angst davor, einen solchen Ort zu definieren, weil ich fürchte, durch ihn eine Achillesferse zu haben, einen Punkt, der mich verletzlich macht.
Ich lebe seit zehn Jahren nicht mehr in Russland. Trotzdem habe ich das Land immer bei mir, denn mein Russland war immer schon die russische Literatur. Ich liebe Bücher, seit meiner Kindheit. Ich bin echt süchtig nach Papier. Mein Vater ist Journalist und Autor und wir hatten eine riesige Bibliothek in unserer Moskauer Wohnung. Ich spielte vor ganzen Wänden von Lexika und den Gesamtausgaben von Puschkin, Tschechow, Gogol, Schiller. Diese Einbände, golden, silbern, bunt, auf den Buchrücken die geprägte kyrillische Schrift. Für mich war diese Bibliothek orthodoxer Altar und Schatzkammer zugleich. Diese unfassbare Masse an Buchstaben, Worten, Sätzen, Gedanken! Ich konnte das mit meinem Verstand gar nicht erfassen. Rückblickend verstehe ich, dass ich vor dieser elterlichen Bibliothek stand wie vor einer ägyptischen Pyramide. Wie können Menschen bloß so ein Wunder erschaffen? Und wann haben sie all das geschrieben? Mir war intuitiv klar, dass ich niemals im Leben all diese Bücher würde lesen können, auch wenn ich jeden einzelnen Tag mit Lesen verbringen würde.
Bücher sind für mich Partner, um Menschen und die Welt zu entdecken. Diesen Gedanken habe ich von Alexander Sokurow geborgt, das ist einer der bekanntesten russischen Filmregisseure und politischer Aktivist. Er erzählte mir einmal, dass er aus Büchern all seine Inspirationen nähme. Das ist das komplette Gegenteil von den Ratschlägen meiner Professoren an der Akademie, die immer sagten, alle Inspiration käme aus Erfahrungen. Aber ich muss nicht alles selbst erleben, in Büchern steckt das konzentrierte Erleben der Menschheit. Ein Lieblingsbuch habe ich nicht, nicht einmal einen Lieblingsautor. Jede Zeit und jeder Ort zeigen mir das passende Buch. Trotzdem gibt es Kontinuitäten: Am häufigsten habe ich wahrscheinlich »Moskau – Petuschki« von Wenedikt Jerofejew gelesen, ein Beispielwerk absurder postmoderner russischer Literatur. Wir folgen dem Ich-Erzähler auf einer Bahnfahrt von Moskau in die Kleinstadt Petuschki, von Station zu Station wird er immer betrunkener. Ein wunderschönes, magisches, hartes Stück.
Außerhalb von Russland ist es gar nicht so einfach, russische Bibliotheken zu finden. Manchmal sehe ich russische Bücher in Antiquariaten. Gerade bin ich für eine Inszenierung in Frankfurt, da gehört die russische Bibliothek zur Botschaft – und da möchte ich gerade nicht in der Nähe sein. Ich bin gegen jede Art von Krieg und speziell gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Es ist schwer für mich, darüber zu sprechen, denn alles, was ich dazu sagen kann, klingt erbärmlich im Vergleich zu dem Leid, das dieser Krieg erzeugt, für beide Länder. Wann immer ich versuche, objektiv darüber nachzudenken, verlässt mich mein Verstand. Es ist wie ein Systemfehler in einem Computer, ich kann mir das Ausmaß der Zerstörung nicht vorstellen. Ich gefriere innerlich vor Angst, die diese Gedanken auslösen. Es ist wie bei Friedrich Nietzsche: Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Auch meine Inszenierung von Giuseppe Verdis SIMON BOCCANEGRA handelt von Abgründen. Es ist eine sehr politische Oper, sie erzählt davon, wie Machtstrukturen sich in Menschen hineinfressen. Ich will zeigen, wie sich Glück und Familie einerseits und die politische Karriere andererseits gegenseitig ausschließen. Du musst dich entscheiden, beides zusammen geht nicht. Eine Seite wird immer leiden, und in 99 Prozent der Fälle leidet die Familie. Du wirst sie verlieren – physisch oder seelisch.
Zu Beginn nutzen wir die Ouvertüre aus Verdis erster Fassung des Stücks und zeigen den Patrizier Fiesco, der mit Frau und Tochter in den Dogen-Palast zieht, also so etwas wie das Weiße Haus. Wir sehen, wie er seine Frau und seine Tochter verliert. Dann fokussieren wir auf den Dogen Simon Boccanegra, der bereits alle um sich herum verloren hat und niemals eine Familie gründet. Am Ende sehen wir Gabriele Adorno, einen Edelmann, und seine Frau Amelia, wie sie voller Hoffnung in den Dogen-Palast einziehen – und wir ahnen, wie die Geschichte ausgehen wird.
Manchmal frage ich mich, warum wir immer noch Theater machen. Es ist so kindisch im Vergleich zu diesem Desaster, das in der Ukraine passiert. Ich mache alles genau wie vor dem Krieg, stehe im Probensaal, gebe Anweisungen. Jeden Tag denke ich: Was tue ich hier eigentlich? Und wofür? Vielleicht will ich einfach ein Gleichgewicht herstellen. Daran erinnern, dass es nicht nur russische Raketen und Panzer gibt, sondern auch die Welt der wunderschönen russischen Literatur, der Musik, des Theaters. Ich möchte mich nicht schämen, Russe zu sein.
Aufgezeichnet von Jana Petersen