Enrique Mazzola - Deutsche Oper Berlin
Mein Seelenort
Enrique Mazzola
Er lebt in Paris und leitet als Erster ständiger Gastdirigent der Deutschen Oper Berlin auch Offenbachs LES CONTES D’HOFFMANN. Enrique Mazzola führt uns an seinen Lieblingsort: die Île Saint-Louis
Wenn ich mich entspannen will, mache ich einen kleinen Spaziergang, trete aus meinem Haus, gehe an der Place de la Bastille vorbei, hinunter zur Seine. Ich laufe über die kleine Brücke Pont de Sully und dann bin ich da: auf der Île Saint- Louis, im Herzen der Stadt – hier wurde Paris geboren.
Ich kenne die Île in allen Jahreszeiten. Im Frühling liebe ich die Natur, wenn alles wiedererwacht. Die allerschönsten Farben zeigt der Oktober, wenn das Licht sanfter wird und die Blätter sich verfärben. Im Winter liebe ich den frühen Abend auf der Île, so gegen sieben Uhr. Dann gehen die Straßenlaternen an, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammen. Die Szenerie ist in ein warmes, dunkeloranges Licht getaucht und wirkt plötzlich wie eine Opernkulisse. Es ist, als hätte der beste Lichtdesigner der Welt das speziell für mich arrangiert. In solchen Momenten spüre ich so etwas wie Schöpfung: den großen Konstrukteur der Welt.
Meist laufe ich an einem Dienstag oder Mittwoch abends hinunter zur Insel, denn an diesen Tagen proben wir mit meinem Orchester. Das ist praktisch, denn unter der Woche ist es viel ruhiger als am Wochenende. Ich spaziere am Wasser entlang, genieße den Blick vom Quai d’Orléans auf die Rückseite der Kathedrale Notre Dame, die auf der Île de la Cité steht, der anderen Seineinsel. Um Notre Dame herum wimmelt alles von Touristen – aber gegenüber, auf der kleineren der beiden Inseln, ist es ruhig, fast still, die Stimmung ist sanft. Ich setze mich in eines der Cafés, in denen man wunderbar lesen kann. Dort sehe ich bekannte französische Schauspieler sitzen, wahrscheinlich schätzen auch sie die zarte Atmosphäre. Ich schlendere an den kleinen Boutiquen vorbei, den familiären Galerien, alles hat eine besondere Ästhetik, sehr sophisticated. Die Île Saint-Louis erwartet nichts von mir. Dort kann ich einfach sein. Ich atme die Atmosphäre der Stadt ein und kann sie auf meinen vielen Reisen hinaus in die Welt mitnehmen und teilen.
Ich bin erst vor ein paar Jahren nach Paris gezogen. Davor habe ich in Berlin gewohnt. Ich liebe die deutsche Hauptstadt noch sehr. Wenn ich zu Besuch bin, verbringe ich viel Zeit in Charlottenburg, in der Nähe der Deutschen Oper Berlin. Dort dirigiere ich LES CONTES D’HOFFMANN, die Oper des Komponisten Jacques Offenbach, der einen Großteil seines Lebens in Paris verbrachte. Die Städte haben viel miteinander gemein, sie sind Metropolen, international. Natürlich gibt es Unterschiede. Paris wurde nie bombardiert, es hat eine starke architektonische Seele, die Schönheit des 19. Jahrhunderts, die du an jeder Ecke spürst. Google Maps kannst du dort ausschalten, denn es ist völlig egal, wohin du läufst. Es ist überall schön. Die Schönheit Berlins wiederum ist seine Widerstandsfähigkeit. Es wurde zerstört, geschunden, getrennt. Die Stadt hat ihre Seele wiederaufgebaut.
Wenn ich in Berlin ankomme, leihe ich mir ein Fahrrad und fahre zum Gendarmenmarkt. Ich fühle eine besondere Energie auf dem Platz, ich bin auf fast spirituelle Art mit ihm verbunden. Wenn ich ihn betrete, spüre ich eine besondere Stille. Es ist eine bestimmte majestätische Ausstrahlung, die mich an den Häusern des Platzes fasziniert. E.T.A Hoffmann, der die literarische Vorlage zu LES CONTES D’HOFFMANN schrieb, liebte diesen Ort und hat dort viel Zeit verbracht. Auch wenn sich der Platz seitdem verändert hat – vielleicht schwebt der Geist Hoffmanns dort noch herum. Gleichzeitig hat der Gendarmenmarkt für mich eine Analogie zur Île Saint-Louis, denn die Stadt öffnet sich an diesem weiten Platz wie eine Insel der Ruhe.