Oh, don’t ask why - Deutsche Oper Berlin
Oh, don’t ask why
Benedikt von Peters Inszenierung AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY macht unser Opernhaus zum Vergnügungstempel. Es wartet ein Abend voller Rausch und Gesang und aufgehobener Grenzen
Wer kein Geld hat, ist tot. Wer liebt, ist ebenfalls tot. Dies sind die ungeschriebenen Gesetze in Mahagonny. Die Gründung einer Stadt in der Wüste bedeutet für Bertolt Brecht und Kurt Weill zugleich die Gründung einer neuen Gesellschaft. Sie fragen nach den Werten, auf denen diese Gemeinschaft fußt und schufen mit ihrer Oper ein Modell, das heute noch Gültigkeit besitzt: ein Labor, in dem wir die Spätfolgen unseres liberalisierten Kapitalismus reflektieren können. Und an dieser zeitlosen Reflexion möchte ich das Publikum beteiligen, so direkt wie möglich.
Der Körper ist immer schneller als der Kopf. Inmitten eines Geschehens machen wir andere Erfahrungen, als wenn wir im Dunkeln sitzen und auf eine Bühne schauen. Deswegen inszeniere ich AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY im gesamten Gebäude der Deutschen Oper Berlin. Die Besucherinnen und Besucher treten ins Haus ein und sie betreten die »Netzestadt«, wie es bei Brecht heißt – und verfangen sich in diesen Netzen. Das Orchester sitzt auf der Bühne, sein Spiel wird im ersten Teil des Abends in die Foyers übertragen, es gibt Screens, auf denen die Ankunft der Arbeiter aus Alaska mit dem Taxi live zu verfolgen ist, alle Sängerinnen und Sänger und die Mitglieder des 80-köpfigen Chors bewegen sich unter den Gästen.
Überall ist was los, Leute tanzen, Seifenblasen schweben, auf Rollwägen wird Mahagonny-Sekt angeboten, der Preis fällt nach dem Börsenprinzip, es wird einen Run auf die Getränke geben. Doch gleichzeitig fühlt man sich ein wenig verloren, sucht das Zentrum dieses dauererregten Spektakels vergebens, stellt fest, »etwas fehlt«, für mich der zentrale Befund des Stücks. Auch Holzfäller Jim ergeht es so. Er kam aus Alaska in die vermeintliche Paradiesstadt, um nach der harten Arbeit Spaß zu finden (wohlgemerkt: Spaß, nicht Freude), und merkt schnell: Das Eigentliche fehlt. Er stellt fest, es gibt keine Werte, die kapitalistische Maschine hat keinen ideellen Kern, sie besteht nur aus blankem Sozialdarwinismus: »Und wenn einer tritt, dann bin ich es. Und wird einer getreten, dann bist du’s«. Statt einer Gemeinschaft findet er sich mitten in einem Kampf Mensch gegen Mensch.
Also lehnt Jim sich auf gegen Mahagonny und sein Prinzip. Zu Hilfe kommt ihm ein Taifun, der sich nähert und die Stadt zu verwüsten droht. So wird der zweite Teil des Stücks zu einem nihilistischen Projekt, wie man es von Karl Kraus’ »Die letzten Tage der Menschheit« oder Marco Ferreris Film »Das große Fressen« kennt: Eine Gesellschaft feiert ihre Selbstzerstörung. Nach der Devise: Wenn es nichts mehr gibt, dann huren und saufen wir uns eben zu Tode. Diesen zweiten Teil erlebt das Publikum gemeinsam auf der Bühne, auf einem Matratzenlager, wie in einer Turnhalle. Und in diesem Moment der Selbstabschaffung erleben alle ein Beieinandersein, eines, das Sinn stiftet – so hat es Brecht schon extrem gedankenscharf angelegt – und gleichzeitig suchen wir nach Auswegen, um den Nihilismus und die Zerstörung aufzuhalten.

Inszenierungen, die inmitten des Publikums stattfinden, folgen eigenen Gesetzmäßigkeiten, sie sind gleich mehrfach herausfordernd. Man arbeitet und probt außerhalb der gewohnten Abläufe des Opernbetriebs, allein schon die Probenpläne sind andere, wenn die Oper sich aufs Gebäude verteilt. Im Fall von MAHAGONNY ist die Gleichzeitigkeit des Geschehens das Komplexe, ich muss praktisch in mehreren Räumen parallel inszenieren, das ist auch technisch anspruchsvoll. Die Sängerinnen und Darsteller wiederum müssen sich auf das Unwägbare des Spiels inmitten von Menschen vorbereiten, auf Situationen, die sie live lösen werden – und die sich Abend für Abend verändern.
Ich verstehe Brechts und Weills AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY als Aufforderung, das Theater als Vergnügungstempel zu hinterfragen. Ich möchte erforschen, was Musiktheater leisten kann, wie es uns ideell zu nähren vermag. Wenn alle zusammen auf etwas Neues hinarbeiten, entsteht eine gesellschaftliche Utopie im Kleinen. Dann wird Theater als Gemeinschaftserfahrung wirksam, die unsere Wahrnehmung der Welt verändern kann.