Parsifal–Tableaus: Zum Raum wird hier die Zeit - Deutsche Oper Berlin
Ein Essay von Thomas Macho
Parsifal–Tableaus: Zum Raum wird hier die Zeit
Szenische Verwandlungen – den darstellerischen Möglichkeiten der Filmkunst vorausempfunden – bilden das dramaturgische Skelett der Oper. Eine Waldlichtung verwandelt sich in den Saal der Gralsburg; Klingsors Turm versinkt hinter dem üppig blühenden Zaubergarten, der verdorrt, als Parsifal mit dem heiligen Speer das Kreuzzeichen schlägt; Wald und Wiese werden am Karfreitag verklärt. Die Szenen- und Lichtwechsel zwischen inneren und äußeren Räumen, zwischen Wald, Paradiesgarten und Burg, spiegeln auch die Verwandlungen der Gralsbotin Kundry, die in narkoleptische Ohnmacht fällt – „Schlafen – schlafen – ich muß“ –, die im Gefängnis Klingsors erwacht, im Zaubergarten als junges Mädchen wiedergeboren wird, und zum Schluss als Büßerin die Taufe empfängt, nachdem sie, wie die Sünderin im Lukasevangelium, die Füße Parsifals gesalbt hat. Zwischen den Veränderungen vergehen Jahre. Soviel bezeugt die Bemerkung des Gralsritters Gurnemanz, der zu dem vaterlosen Knaben sagt (als wollte er ihn adoptieren): „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“
Zum Raum wird hier die Zeit. Erfahrung gerinnt zur Anschauung, Bewegung erstarrt zum Bild. Der Satz des Gralsritters erinnert an die komplexen Arrangements lebender Bilder, tableaux vivants.
Solche Bilder waren im späten 18. Jahrhundert überaus populär. Unterstützt von Malern wie Jacques-Louis David soll die Comtesse de Genlis, Erzieherin der Kinder des Herzogs von Orleans, bekannte Gemälde mit lebenden, kostümierten Personen nachgestellt haben; zur selben Zeit posierte Lady Emma Hamilton, Mätresse des Admirals Nelson, nicht nur als Modell für Maler, sondern auch als Verkörperung antiker Skulpturen, in einer Umkehrung der Pygmalion-Erzählung aus Ovids Metamorphosen. Manchmal wurden tableaux vivants eingesetzt, um das Ende einer Theateraufführung oder einer artistischen Performance auszudrücken; Gruppenposen wurden eingeübt, etwa um Dank für den Beifall des Publikums zu erstatten. Hundert Jahre nach Lady Hamilton durften schließlich auf manchen Bühnen nackte Frauen erscheinen, sofern sie wie Statuen stillstanden und sich nicht bewegten.
Naheliegend ist die Assoziation mit den Techniken der Fotografie. Fotografen verlangen die Pose; und sie erzeugen sie auch. Eine Vorläuferin Kundrys – und das erste Fotomodell, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine beachtliche Prominenz erlangte – war Virginia Oldoini, Contessa di Castiglione, eine toskanische Aristokratin am Pariser Hof. Die Mätresse Napoleons III. zeigte sich gern in phantasievollen Kostümen und Kleidern, beispielsweise als ›Königin der Herzen‹. Ab 1856 begann sie eine obsessive Zusammenarbeit mit dem Fotografen Pierre-Louis Pierson, der in den folgenden Jahrzehnten mehr als siebenhundert Fotos der Gräfin produzierte; auf manchen Fotos zeigte sie – ungewöhnlich für die damalige Zeit – ihre nackten Beine oder Füße.
Der Dichter, Dandy und Kunstsammler Comte de Montesquiou-Fezensac war so fasziniert von der Contessa, dass er nicht nur – in dreizehnjähriger Arbeit – ihre Biographie verfasste, sondern auch einen Großteil der Fotos erwarb, die nach seinem Tod in den Besitz des Metropolitan Museum of Art übergingen.
Freilich sind die Techniken der Tableaux vivants wesentlich älter als das Zeitalter der Aufklärung oder der Fotografie. So berichtete etwa der römische Historiker Appian von den theatralischen Effekten einer öffentlichen Trauerfeier nach Caesars Ermordung. Damals wurde ein regelrechtes Zauberspiel veranstaltet, um die Emotionen des Publikums zu schüren: „Schon waren sie in dieser Stimmung nahe daran Gewalt zu brauchen, als jemand die Statue Caesars, aus Wachs geformt, über dem Lager emporhielt; denn der Leichnam war auf dem Lager so zurückgelegt, daß man ihn nicht sehen konnte. Die Statue wendete sich durch eine Vorrichtung nach allen Seiten; man sah an ihr die dreiundzwanzig Wunden, die sie ihm in wilder Wut an allen Teilen des Körpers, sogar ins Gesicht beigebracht hatten. Dieser Anblick schien dem Volke so bejammernswürdig, daß sie ihn nicht länger ertrugen; sie seufzten laut auf, umgürteten sich und verbrannten das Rathaus, worin Caesar ermordet worden war.“ Die sichtbaren Wunden des Imperators erzeugten das römische Kaiserreich.
Mit großem Aufwand wurden auch in den mittelalterlichen Kathedralen regelrechte Gesamtkunstwerke, etwa zur Feier von Christi Himmelfahrt, inszeniert. Alle Sinne sollten gleichermaßen beeindruckt werden. In der Karmelitenkirche Santa Maria del Carmine von Florenz wurde beispielsweise seit dem Himmelfahrtstag des Jahres 1422 auf der linken Seite des Mönchschors die Stadt Jerusalem, auf der rechten Seite der Ölberg aufgebaut. In Begleitung von vier Engeln und zwei Knaben (als Darstellerin der Maria und der Maria Magdalena) betrat Jesus die Stadt, um die Apostel abzuholen und mit symbolträchtigen Geschenken zu verabschieden, Andreas mit einem Netz, Petrus mit den Schlüsseln. Danach bestieg er den Ölberg, und als er den Gipfel erreichte, hörte die Gemeinde ein Donnern. Im Dachstuhl der Kirche öffnete sich eine Kugel mit Gottvater, Kerzen und Engeln; und eine Wolke schwebte ins Kirchenschiff hinab, um Jesus zur Himmelfahrt feierlich abzuholen. Verantwortlich für die Architektur und Konstruktion dieser Theatermaschine war Filippo Brunelleschi.
Erschienen im Beileger zum Berliner Tagesspiegel, September 2012