„Provokation zum Selbstzweck ist heiße Luft!“ - Deutsche Oper Berlin

Ein Interview von Ronald Klein

„Provokation zum Selbstzweck ist heiße Luft!“

Rodrigo García über sein Operndebüt, museales Musiktheater und die Schönheit Mozartscher Kompositionen

Die Entführung aus dem Serail
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Die Entführung aus dem Serail
Deutsches Singspiel in drei Aufzügen von Wolfgang Amadeus Mozart; Text nach Christoph Friedrich Bretzner von Johann Gottlieb Stephanie d. J., bearbeitet von Rodrigo García
Musikalische Leitung: Daniel Carter
Inszenierung: Rodrigo García
Mit Annabelle Mandeng, Flurina Stucki, Georgina Melville, Michael Kim, Matthew Grills, Patrick Guetti u. a.
7., 20., 25. November 2021

Im Alter von 20 Jahren ging der argentinische Autor und Regisseur Rodrigo García 1984 nach Spanien. Mit der für seine Arbeit charakteristischen, sehr physischen und brachialen Bühnensprache machte er sich einen Namen. In den vergangenen Jahren wurden seine Produktionen unter anderem zu den Festivals „F.I.N.D.“ an der Schaubühne und „Foreign Affairs“ im Haus der Berliner Festspiele eingeladen. Mit der Mozart-Oper „Die Entführung aus dem Serail“ feiert er nun nicht nur seine Musiktheater-Premiere: Zum ersten Mal überhaupt inszeniert der künstlerische Leiter des Theaters „Humain trop humain“ in Montpellier einen Text, den er nicht selbst verfasst hat.

Sie haben bisher ausschließlich für das Sprechtheater gearbeitet. Warum fiel die Entscheidung bei Ihrem Operndebüt auf eine Mozart-Oper?
Das wurde mir von der Deutschen Oper Berlin so vorgeschlagen. Hätte man mir einen anderen Komponisten vorgeschlagen, hätte ich das Angebot keinesfalls angenommen. Als Theaterautor und -regisseur fehlt mir der Bezug zur Oper. Ich kenne zwar das Repertoire von Wagner oder Verdi, aber um ehrlich zu sein: Es sind sehr oberflächliche Kenntnisse. Mozart hingegen ist der einzige Komponist, zu dessen Werk ich seit meiner Jugend eine sehr innige Beziehung habe. Besonders zu den Werken, die nicht permanent aufgeführt wurden, wie z. B. „Il sogno di Scipione“ (1771) oder „Lucio Silla“ (1772).

Was fasziniert Sie an den Werken?
Das lässt sich ganz einfach auf den Punkt bringen: die Musik. Ich kann das auch nicht theoretisieren. Ich kann keine Noten lesen. Mein Zugang ist sehr unbedarft. Sie haben in der Vergangenheit mit Nachdruck darauf beharrt, niemals eine Oper zu inszenieren. Es ist erstaunlich, wie man sich selbst ad absurdum führt. Der Opernbetrieb war mir viel zu elitär. Irgendwann fängt man aber an, das eigene Wirken zu reflektieren und dabei habe ich festgestellt, dass dieses genauso elitär ist. In meine Stücke kommt ein Publikum, das ohnehin gewohnt ist, ins Theater zu gehen. Darüber hinaus verfügt dieses Publikum über das nötige Kleingeld, um sich die Eintrittskarten zu leisten.

Lange Zeit wurden Opern am Hof in Auftrag gegeben, so auch „Die Entführung aus dem Serail“. Ende des 19. Jahrhunderts brach die Richtung des Verismo mit der Ständeklausel und wenig später prägte Kurt Weill den Begriff der Zeitoper, mit der konkreten Prämisse, gesellschaftskritische Stoffe auf die Bühne zu bringen. Was interessiert uns denn heute noch an dem „Serail“-Stoff?
Das ist in der Tat eine Herausforderung für die Regie. Wer sich dem Werk ohne Idee nähert, behandelt „Die Entführung aus dem Serail“ wie ein altes Museumsstück und das Publikum kann dann lediglich die schöne Musik genießen. Sie können sich vorstellen, dass mich das gar nicht reizt. Gleichwohl komme ich bisweilen in die Versuchung, einfach das Licht zu löschen, das Theater in absolute Dunkelheit zu hüllen und in der Schönheit der Musik zu schwelgen. Mir ist klar, dass ich mehr anbieten muss als Dunkelheit. Als Regisseur habe ich die unbedingte Verantwortung, einen anderen, neuen Blickwinkel anzubieten. Das Werk wurde stets als Bild einer idealen, vielleicht auch idealisierten Liebe wahrgenommen. Ich hingegen möchte zeigen, wie schwierig es ist, tatsächlich zu lieben. Wann kann man sicher sein, den richtigen Partner gefunden zu haben? Vielleicht verliebt man sich morgen in jemand anderes. Oder man verliebt sich in zwei Personen gleichzeitig. Dem Werk wurde vorgeworfen, dass die Figuren wenig psychologische Tiefe besäßen.

Wie sind Sie damit umgegangen?
Ganz ehrlich: Diese stereotypen Figuren respektiere ich gar nicht. Aus der Figur der Blonde, der Kammerzofe, habe ich eine avantgardistische Feministin gemacht. Das ist alles andere als die klassische Sichtweise, aber diese Umdeutung fand ich dringend geboten.

War es schwierig, die Sängerinnen und Sänger von Ihrer Sichtweise zu überzeugen?
Zumindest war es für sie nicht ganz leicht. Ich bin noch dabei, die Figuren kennenzulernen und ihnen Tiefe zu verleihen. Das geschieht übrigens nicht dadurch, dass sie völlig verständlich werden. Die Sängerinnen und Sänger erwarten, dass ein Regisseur eine Figur genau erklärt. Das kann ich gar nicht! Mich interessiert gerade das Widersprüchliche eines Charakters, das dazu führt, dass die einzelnen Handlungen nicht monokausal erklärt werden können. Das ist doch das Spannende auf der Bühne!

Damit vollziehen Sie einen Bruch zur bisherigen klassischen Interpretation?
Ja. Hinzu kommt, dass die Sängerinnen und Sänger das Werk natürlich viel besser kennen als ich. Ich gehe da viel unbedarfter, man könnte auch sagen naiver heran, was aus meiner Sicht ein Vorteil ist. Ich kann dadurch entdecken, was anderen – mit einem vorgefertigten Blick – verborgen bleibt.

Haben Sie sich denn mit der Rezeptionsgeschichte der Oper befasst?
Bewahre! Diese musiksoziologische Annäherung würde mir gar nicht helfen. Den Schritt habe ich bewusst ausgeklammert.

Neben der von Ihnen beschriebenen idealisierten Liebe gibt es noch einen anderen wichtigen Aspekt, der immer wieder hervorgehoben wurde: Die Nähe zu Lessings Drama „Nathan der Weise“, das nur drei Jahre zuvor uraufgeführt wurde.
Dass es kein blutiges Ende gibt, die Rache ausbleibt und der Muslim Bassa Selim den Christen Konstanze und Belmonte die Freiheit schenkt, ist die Stelle, die ich im Werk am meisten mag. Das ist für mich das Zeitlose am Werk: Die Fähigkeit eines Menschen, sich von seiner Vergangenheit zu lösen und Gutes zu tun, egal welcher Religion man angehört. Das ist für mich auch ein wichtiger Zugang. Denn grundsätzlich ist die Arbeit mit einem fremden Text für mich enorm schwierig. Das hat nichts mit dem Musiktheater zu tun. Ich hätte auch große Schwierigkeiten, mich in das Universum von Shakespeare hineinzudenken. Ich habe 30 Jahre lang nur meine eigenen Stücke inszeniert. Andere Kollege sähen die Inszenierung eines Klassikers als gute Fingerübung, für mich handelt es sich um eine große Herausforderung.

War es aus diesem Grund auch eine Versuchung, das Libretto von Christoph Friedrich Bretzner zu verändern?
Na klar. Eine riesengroße Versuchung! Ich respektiere die Grundstruktur der Oper. Aber ich habe sämtliche Dialoge gestrichen. Es ist kein einziger übrig geblieben. Dafür habe ich zwei Monologe Bassa Selims neu geschrieben, der bei mir eine Frau ist. Konstanze zwischen zwei Männern – das schien mir einfach zu langweilig, so kam der Aspekt der homosexuellen Versuchung hinzu. Ein paar kleinere Dialoge habe ich ebenfalls hinzugefügt. Diese könnten auch in einer US-amerikanischen TV-Serie wie „Breaking Bad“ vorkommen, sie enthalten sehr viele Beleidigungen und Schimpfwörter.

Zitate aus der sogenannten Hoch- und Popkultur kennzeichnen auch Ihre bisherigen Werke im Sprechtheater.
Stimmt. Ich könnte kein klassisches Stück werkgetreu inszenieren. Während der Vorbereitung der Operninszenierung gab es sehr viele Gespräche mit dem Haus und es kam die Befürchtung auf, dass das Publikum meine Eingriffe als Provokation auffassen könnte. Das ist aber nicht mein Anliegen. Das wäre ja auch viel zu langweilig. Die Provokation als Selbstzweck ist nichts weiter als heiße Luft. Das Schreiben und Inszenieren muss mich selbst unterhalten. Das geht nur, wenn ich etwas mache, was es so zuvor nicht gab.

Apropos Skandal. Calixto Bieito inszenierte 2004 an der Komischen Oper „Die Entführung aus dem Serail“. Er thematisierte die sexuelle Ausbeutung, was heftige Reaktionen hervorrief. Besucher knallten beim vorzeitigen Verlassen des Saals empört mit den Türen. Ihre Erwartungshaltung wurde nicht erfüllt. Warum wünschen sich Besucher die Wiederholung des ewig Gleichen?
Eine sehr gute Frage, über die ich schon lange nachdenke. Ich glaube, viele Opernbesucher sind auf der Suche nach Sicherheit. Sie befürworten mehr Polizeipräsenz und Videoüberwachung. Dieses Bedürfnis setzt sich beim Kunstgenuss fort. Sie sehnen sich nach ästhetischer Sicherheit. Dabei hat Kunst doch genau die gegenteilige Funktion: Fragen stellen, Zweifel generieren. Wer schöpferisch tätig ist, den treibt etwas um, was er nicht so einfach beantworten kann. Aus den Fragen entsteht das Kunstwerk. Persönlich würde ich ja kein Geld dafür ausgeben, um etwas zu sehen, das keinen neuen Ansatz besitzt. Die Inszenierung von Calixto Bieito habe ich nicht komplett gesehen, ich kenne nur Ausschnitte des Videomitschnitts. Aber diese machen deutlich, dass es sich um eine sehr theatrale Aufführung handelt. Wie kann man sich darüber nur aufregen? Entweder ist man dumm oder zynisch. Denn die sexuelle Ausbeutung von Frauen, die aus Südamerika oder Osteuropa hierher gebracht werden, existiert ja tatsächlich. Darüber muss man sich doch aufregen!

Schließen wir die Klammer: Sie wollten nie Oper inszenieren. Können Sie sich eine Wiederholung des Abenteuers vorstellen?
Wenn man Drogen nimmt, sollte man über die Wirkung nicht nur urteilen, wenn man high ist. Die Frage ist doch, wie fühlt sich das Runterkommen an? Ich kann die Frage nur mit Abstand beantworten. Sprechen wir in einem halben Jahr noch einmal!

Ersterschienen in der Beilage der Deutschen Oper Berlin in der Berliner Morgenpost, Juni 2016. Übersetzt aus dem Spanischen von Simone Hess.

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