Ronnita Miller … Mein Seelenort

Die Mezzosopranistin Ronnita Miller singt in DER FLIEGENDE HOLLÄNDER und im RING. Hier erzählt sie, warum sie das Ufer liebt – und was Wagner mit Wasser verbindet

Wo auch immer ich bin, ich suche das Wasser. Vielleicht liegt es daran, dass ich am Wasser aufgewachsen bin, in Florida. Hier in Chicago, wo ich gerade ein Engagement habe, gehe ich oft hinunter zum Fluss, dem Chicago River. Ich schaue hinein und öffne mich der Strömung, seinem Geruch, seinem Klang, seinem Wesen. Das Wasser schenkt mir eine Weite, die ich nirgend anders spüre. Ufer sind meine Lieblingsorte, sei es am Fluss, am Meer, am See. Irgendetwas in meiner Seele braucht diese Nähe zum Wasser.

Jedes Wasser riecht anders. Das Meer in Florida hat diesen besonderen Geruch, gesättigt vom Salz. Der Ozean in San Francisco ist natürlich auch salzig, aber er hat einen frischeren Duft, den ich aus Florida nicht kenne. Jedes Wasser klingt anders. Der Fluss hier in Chicago hat einen sanften Klang, schhhhhh, schhhhh … Er schlängelt sich durch die Häuserfluchten der Stadt, mit gezähmten Wogen, wie ein Wiegenlied. Der Ozean klingt härter, tttttschhhhhuuu, tttschhhhhhuuu, die Wellen brechen gewaltig an Land, die Gischt schäumt. Das Wasser ist wie ein Wesen, das zu mir spricht. Ich höre sein Lied, wenn ich in ihm schwimme, es singt zu mir wie eine Mutter, tief, ruhig, nährend.

Ronnita Miller am Chicago River. Sie spürt eine besondere Weite, wenn sie aufs Wasser blickt – selbst mitten in der Stadt, zwischen Häusern und Brücken © Nikki Segarra
 

Vielleicht liebe ich den Blick auf das Wasser so, weil es mich an die Zeit erinnert, in der ich im Bauch meiner Mutter schwamm? Umgeben von Flüssigkeit, durch die ihr Herz regelmäßige Schallwellen schickte. Vielleicht bin ich so gern am Wasser, weil da so viel drinsteckt, von dem wir noch nichts wissen. Es gibt so viel in den Tiefen des Wassers zu entdecken. Es ist wie ein großes Unterbewusstes, das erkannt werden will. Jemand hat einmal gesagt: Wir wissen viel mehr über das Weltall, als über das Meer. Dabei ist ein Großteil der Erde von Wasser bedeckt, so wie der Mensch zum größten Teil aus Wasser besteht. Vielleicht ist es einfach eine menschliche Konstante: Überall auf der Welt, zu allen Zeiten haben Menschen am Wasser gesiedelt, nahe Seen, Meeren, Flüssen.

Wenn ich am Wasser bin, kann ich nicht arbeiten. Gewiss, ich denke über Rollen nach, mir schwirren Dinge durch den Kopf. Aber Musik hören für eine neue Oper? Die Texte für meine Rollen üben? Melodien lernen? Das kann ich nicht am Ufer. Es ist ein Ort, an dem ich das Bedürfnis zu arbeiten völlig ausblende, an dem ich vergesse, an dem ich nur bin. Und trotzdem passt die ausdehnende Natur von Oper und klassischer Musik genau dorthin, in diese Weite.

Auch Wagner passt hervorragend zum Wasser. Das Vorspiel vom RHEINGOLD etwa spiegelt genau den Charakter von Wasser. Es beginnt mit einem Es, und in diesem einzigen Ton steckt schon die ganze Ruhe eines Ozeans und gleichzeitig der Tumult, der in ihm wohnt. Jedes Mal, wenn ich den RING höre oder singe, fühle ich die Musik über mich rauschen wie eine dieser Riesenwellen, die einen Sog entfaltet, der alles verschlingt. Nachdem ich diesen Zyklus zum ersten Mal komplett gehört hatte, vom ersten Es im RHEINGOLD bis zum letzten Ton der GÖTTERDÄMMERUNG, verstand ich, warum Menschen dieser Musik hinterherreisen, warum sie fanatisch verehrt wird.

Wenn ich die letzten Töne der GÖTTERDÄMMERUNG höre, weine ich jedes Mal. Es ist, als würde sich eine große Sehnsucht erfüllen, die in uns allen steckt: der Wunsch, alles möge wieder auf Anfang geschoben werden, alles wäre an seinem Platz. Als würde jemand den reset-Knopf drücken – und wir alle wären in Sicherheit, die gesamte Menschheit. Diese Takte sprechen von der universalen Hoffnung, alle unsere Entscheidungen wären richtig, und egal, was gerade in der Welt vor sich geht, wie schlimm es da draußen ist, welche Opfer wir bringen müssen: Uns wird nichts geschehen. Sehnen wir uns nicht alle nach dieser Person oder diesem Ort, an dem wir uns sicher fühlen? Für mich steckt sowohl in Wagners RING als auch im Wasser das ozeanische Gefühl von Frieden und Geborgenheit – trotz all der Tiefe.

Ronnita Miller vor der Wells Street Brigde in Downtown Chicago. Wasser gibt ihr Kraft, sagt sie – eine Energie, die sich auch in Wagners Musik spiegelt © Nikki Segarra
 

In Berlin singe ich nun wieder die Mary in DER FLIEGENDE HOLLÄNDER. Auf hoher See kannst du verloren gehen, über Bord gehen, zermalmt zwischen den Wellen – und dann ist da Mary, eine Figur wie ein Leuchtturm. Der Mezzosopran ist meistens der Charakter, der Sicherheit und Beständigkeit verkörpert. Sie bringt Stabilität in all das Wanken zwischen dem heimatlosen, verfluchten Seefahrer, der entwurzelten Senta und den Träumen, die sie spinnen.

Zwölf Jahre habe ich jetzt Wagner gesungen, ohne längere Pause. Und jedes Mal lerne ich etwas Neues, höre etwas, das ich nie zuvor gehört habe. Dabei war Wagner für mich eine komplette Überraschung! Ich hätte nie gedacht, dass ich ihn singen würde. Die Melodien sind so berühmt – aber ich habe mich nie in seinen Stücken gesehen. Und dann habe ich meine Karriere mit Wagner begonnen. Seitdem begleitet er mich, nach Chicago, San Francisco, Los Angeles, Berlin. Aber ich habe mir Wagner nicht ausgesucht. Die Musik hat mich gewählt.

Newsletter

Aktuelles zum Spielplan
und zum Vorverkaufsbeginn
Persönliche Empfehlungen
Besondere Aktionen ...
Seien Sie immer gut informiert!

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie 25% Ermäßigung bei Ihrem nächsten Kartenkauf

* Pflichtfeld





Newsletter