A momentous affair - Deutsche Oper Berlin

Eine folgenreiche Affäre

Es war ihre zweite Zusammenarbeit und überhaupt erst die zweite Oper des Komponisten. Aus dem Stand wurde WRITTEN ON SKIN zum Welterfolg. Nun kommt die gefeierte Produktion nach Berlin

Die Leistung großer Kunstwerke besteht oft darin, selbst im zeitgenössischen Feld den vorhersehbaren Formen zu entwischen und das Publikum zu überraschen. WRITTEN ON SKIN ist eines dieser flinken Werke, die wenig Zeit brauchen und Erwartungen überholen. Diese Oper ist zeitgenössische Musik, die auch jene Musikfans fasziniert, die mit dem Genre sonst fremdeln; sie erzählt eine Geschichte, die komplex wie überschaubar bleibt; das Publikum wird entführt in eine ferne Zeit, die uns in Vielem dennoch gegenwärtig vorkommt.

Seit der Uraufführung 2012 in Aix-en-Provence reist das Werk des Komponisten George Benjamin (Libretto: Martin Crimp) durch die halbe Welt. Nun kommt es endlich in Berlin an, und zwar in der originalen Inszenierung von Katie Mitchell. Was macht WRITTEN ON SKIN so außergewöhnlich erfolgreich?

Probenarbeit kurz vor der Uraufführung 2012. WRITTEN ON SKIN erzählt eine Liebesgeschichte, die tragisch endet. Für Autor Martin Crimp und Komponist George Benjamin (beide nicht im Bild) war sie die erste große Opernarbeit © Pascal Victor
 

Vordergründig handelt der Plot von einer Dreiecksgeschichte, die im 13. Jahrhundert spielt. Der Protector, ein reicher Patriarch, beauftragt einen jungen Illustrator, ihm ein Buch zu malen, um der Nachwelt seine Größe zu überliefern. Agnès, die junge Frau des Protectors und in seinen Worten sein »Besitz«, entdeckt beim Betrachten der Bilder ihr eigenes Begehren – nach Sichtbarkeit. Sie benutzt den Maler, um ihren Platz in der Welt zu beanspruchen, gibt ihren Körper, er malt sie. Das Tauschgeschäft wird entdeckt, der Junge muss sterben und der Patriarch serviert seiner Frau das gebratene Herz des Liebhabers.

Die Dramatik des Geschehens wird durch einen formalen Kniff sogar verstärkt. Indem die Figuren in der ersten Person und dann doch wieder distanziert in der dritten Person reden und singen, als würden sie sich ans Publikum wenden, erscheint ihre Situation besonders unausweichlich. Sie können zwar aus der Geschichte heraustreten, aber ihrem Schicksal können sie nicht entkommen. Als würden sie in Zeitlupe einem tödlichen Unfall zuschauen, ihrem eigenen.

Hinzu kommen drei Engel, die zum einen eine chorische Funktion einnehmen, also kommentieren, zum andern sind sie Piloten, die uns aus der Gegenwart in das 13. Jahrhundert navigieren; die Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks, als die Mehrheit der Menschen weder schreiben noch lesen konnte, weshalb die Bilder so große Macht besitzen. Doch die historische Distanz schrumpft, wenn man die Geschichte als Allegorie auf die Kunst selbst versteht. Denn wohnt die scheinbar archaische Macht der Bilder und der Stimmen, die in diesem Werk die Handlung bestimmen, nicht auch generell der Gattung Oper inne?

Hintergründig ist WRITTEN ON SKIN also auch ein Abend über die Darstellenden Künste. Mit der englischen Skin, auf Deutsch »Haut«, ist erst einmal das Pergament des Buches im 13. Jahrhundert gemeint. Doch Skin bezeichnet auch die menschliche Haut: Im Theater erwecken die Darsteller das Geschriebene zum Leben, als sei es auf ihre Körper geschrieben. Wir sehen zu, wie die Vorstellungskraft das Papier verlässt und mit den Körpern eine so leidenschaftliche wie zerstörerische Geschichte erzählt.

Wer Bilder malen oder in Auftrag geben kann, gewinnt Einfluss. Im Mittelalter, aber auch heute. Die Kunst ist der Ort, wo diese magische Macht nicht nur hergestellt, sondern auch reflektiert wird. Das ist das Ideal einer modernen Kunst, die Sinnlichkeit und Komplexität vereinen kann. Und das erklärt vielleicht, warum WRITTEN ON SKIN so viel Zuspruch findet seit der Uraufführung von 2012. Im Vergleich zum Kanon der italienischen Oper ist die Geschichte rasch umrissen, aber die Erzählweise trägt den medialen Gewohnheiten des 20. und 21. Jahrhunderts Rechnung.

Die Malereien haben auf die Figuren dieser Oper einen ähnlich verwirrenden Effekt wie der endlose Bilderstrom auf uns, wenn wir mal wieder das Handy nicht weglegen können und ewig scrollen. WRITTEN ON SKIN zeigt die Nervosität 800 Jahre vor der Digitalisierung, stellt den Vorgang aber mit einer gespannten Ruhe dar, die jederzeit kippen kann. Diese Spannung kommt vor allem von der Musik.

Crimp, Mitchell und Benjamin bei der Uraufführung 2012 im französischen Aix-en-Provence. »Die beste Oper seit zwanzig Jahren«, schrieb »Le Monde« © Pascal Victor
 

Benjamin komponiert ganz nah an den Stimmen. Nicht etwa eigene Leitmotive charakterisieren die Figuren, sondern Klangfarben, die ihren psychologischen Zuständen entsprechen. Manchmal scheint es, als würde die Musik direkt aus den Sängermündern fließen, so untrennbar und organisch wirkt die Beziehung. Und auch wenn die Komposition fern den Gesetzen einer Verdi-Oper arbeitet, hören wir bei Benjamin deutliche tonale Zentren, die einige zeitgenössische Opern meiden würden.

Konventionen müssen nichts Schlechtes sein, sie helfen einer Gesellschaft, sich über Werte zu verständigen, sei es bejahend oder verneinend. Im mittleren bis späten 19. Jahrhundert sangen die Hauptpartien in der Regel eine Frau im Sopran und ihr Liebhaber im Tenor. Wir unterhalten uns heute anders über die Beziehung der Geschlechter, die Countertenöre des Barock erscheinen uns deshalb wieder näher, sie sind in vielen zeitgenössischen Produktionen der Opernhäuser zu hören. Wie bei der Rolle des Jungen, der zusätzlich einen der drei Engel singt, die uns auf der Zeitachse an die Hand nehmen. Die geschlechterfluide Stimme seiner Figur lässt die Gewalt und Archaik des Patriarchen wie auch seiner Frau umso klarer erscheinen. Ob da eine eher weibliche oder eher männliche Stimme singt, ist beim Countertenor nicht der Punkt. Sie kann vieles darstellen, die erotische Verführung, die Kreativität des Bildermalers, der die Fantasien der anderen in Gang bringt und sich damit selbst gefährdet. In Berlin wird Aryeh Nussbaum Cohen den Countertenor singen.

Im Januar 2023 gab die Ernst von Siemens Stiftung bekannt, Sir George Benjamin mit dem internationalen Ernst-von-Siemens-Musikpreis auszuzeichnen, quasi der Nobelpreis in der Musikwelt. WRITTEN ON SKIN ist das Werk, das ihm den Weg zu dieser höchsten Ehre geebnet haben dürfte.

 

Tobi Müller ist freier Kulturjournalist und Autor. Er schreibt und spricht über die Darstellenden Künste, Pop und digitale Themen.

 

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