Was kann schon Oper? - Deutsche Oper Berlin

Ein Kurzessay von Jörg Königsdorf

Was kann schon Oper?

»Oper kehrt das Archaische, Unwandelbare hervor, lässt uns Zeiten zeitgleich erleben.«

In ihrer Oper WRITTEN ON SKIN wagen der Komponist George Benjamin und sein Librettist Martin Crimp einen kühnen Zeitsprung. Aus einer geradezu provokant alltäglichen Gegenwart heraus beschwören drei Engel eine grausame Geschichte, die sich rund 800 Jahre zuvor zugetragen hat. Als zeitlose Geschöpfe schlüpfen die Engel in die Charaktere dieser Geschichte, und darin entspinnt sich wiederum ein kunstvolles Spiel um das Erzählen an sich.

Dieses Überlagern von Zeitebenen ist das jüngste Beispiel dafür, wie es Oper immer wieder versteht, sich die Ideen einer jeden Zeit zu eigen zu machen und auf ihre Weise zu etwas Neuem, Eigenständigen zu verarbeiten. Ähnlich wie »Taghaus, Nachthaus«, der Roman der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, in dem aus der Gegenwart eines schlesischen Dorfes der Neunziger Jahre auf die Geschichte einer mittelalterlichen Heiligen zurückgeblendet wird, wo sich Realität und Imagination auf kaum entflechtbare Weise durchdringen. Sowohl bei Tokarczuk wie bei Benjamin/Crimp geht es darum, das Archaische, Unwandelbare hervorzukehren – und es von Moden und Zeiterscheinungen abzusondern.

Doch während die Literatur ohne die Beschränkungen szenischer Umsetzbarkeit behände mit den Zeitebenen jongliert, kann die Oper etwas Anderes: Sie fügt dem Nacheinander des Erzählens eine simultane Präsenz verschiedener Zeiten hinzu. Und zeichnet so ein triftigeres Bild unserer Wahrnehmung.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist sogar eine konstituierende Grundeigenschaft des Musiktheaters. Wenn zum Beispiel Gaetano Donizettis ANNA BOLENA, deren historische Handlung im Jahr 1536 spielt, mit Musik aus dem Jahr 1829 in einer aktualisierenden Inszenierung aus dem Jahr 2021 gespielt wird, ist das quasi selbstverständlich. Mehr noch: Durch den Klang der Instrumente, die menschliche Stimme, Stil und Form der musikalischen Sprache sind in der Oper nicht nur die Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und das utopische Potenzial der Zukunft gegenwärtig.

Eine Verdi- oder Mozartarie erzählt uns nicht nur etwas über die Gefühle der singenden Figur im Augenblick des Dramas, ihre musikalische Gestaltung zeichnet auch Motivation und Perspektive nach, während das Orchester im selben Moment erzählt, welche unbewussten Antriebskräfte walten.

In dieser Informationsdichte spiegelt Oper unsere Wahrnehmung des Lebens. Musik, Text und Habitus so fremder Figuren wie Don Giovanni oder Prinzessin Turandot liefern uns den komplexen Subtext, den wir im täglichen Leben aus all den Details ziehen, die einen Menschen charakterisieren: Kleidung, Akzent, Gestik und vieles mehr. Doch anders als das Kino mit seinem Hyperrealismus bleibt Oper stets als künstlerische Form präsent. Selbst die verblüffendste szenische Interpretation auf der Opernbühne täuscht nie Realität vor, sondern präsentiert uns eine hochcodierte Wahrhaftigkeit.

Auch, wenn Oper historische Ereignisse zum Thema macht, ist allen klar, dass es ihr nicht darum geht, Fakten aufzuarbeiten, sondern dass hier das Geschehene genauso wichtig ist, wie das Nicht-Geschehene. Die subjektive Sicht der Figur hat genauso ihren Platz wie der große Rahmen der Erzählung. Natürlich hat sich Richard Nixons Besuch in China nicht so abgespielt wie in der Oper von John Adams. Und auch der Justizmord an der englischen Königin Anne Boleyn dürfte anders verlaufen sein als in Donizettis Oper. Und selbst INTERMEZZO, wo Richard Strauss so tut, als brächte er sein eigenes Leben auf die Bühne, ist ein Kristallisationsprodukt, das Alltägliches und Artifizielles, Komisches und Tragisches so untrennbar vereint, wie es sonst nur die Realität kann.

Oper saugt uns mit ihrer emotionalen und sinnlichen Kraft ein, schafft aber zugleich durch die künstlerische Form und den Theaterapparat eine Distanz, die es uns ermöglicht, eine Haltung einzunehmen. Diese Haltung basiert eben nicht bloß auf einer Handvoll simplifizierender Informationen, vielmehr kann sie sich auf einen ganzen Kosmos von Möglichkeitsräumen berufen. Indem wir das Angebot der Oper annehmen, diese Haltung zu gewinnen, entdecken wir immer wieder auch uns selbst. Ob wir wollen oder nicht.

 

Jörg Königsdorf ist seit August 2012 Chefdramaturg der Deutschen Oper Berlin und betreute unter anderem den Meyerbeer-Zyklus, die Uraufführungen von Aribert Reimann und Detlev Glanert sowie den neuen RING DES NIBELUNGEN von Regisseur Stefan Herheim. Königsdorf studierte Volkswirtschaftslehre und Kunstgeschichte und arbeitete ab 1995 als Musikkritiker unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, den Tagesspiegel und die Opernwelt.

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