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Schämen Sie sich nicht, russisch zu tanzen? - Deutsche Oper Berlin

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Schämen Sie sich nicht, russisch zu tanzen?

In Pjotr I. Tschaikowskijs Musik hören wir die russische Seele. Meinen wir zumindest. Dabei wurde Tschaikowskij zu Lebzeiten in seiner Heimat als Europäer verlacht. Dramaturg Lars Gebhardt über Russland­-Stereotype

Die Klischees von Russland sind so vielfältig, wie das Land groß ist: Folklore und Trachten, Schwermut und Seelenpein, der Wodka fließt in Strömen, die Winter sind kalt. So alt diese Bilder anmuten, so jung sind sie in Wirklichkeit. Zementiert haben sie sich erst im 19. Jahrhundert, als sich die Königreiche Europas in Nationalstaaten verwandelten. Die Verfestigung der Staatsgrenzen ging einher mit der Suche nach Eigenständigkeit, nach einer Sprache und einer Kultur. Im riesigen Russischen Reich mit seinen Subkulturen, Völkern, Religionen und Traditionen wurde besonders konsequent auf die eine Kultur geachtet. Dies gelang vor allem durch Abgrenzung: Sprach man im frühen 18. Jahrhundert noch Französisch am Hof, kleidete sich nach europäischer Mode und komponierte polyglott, so bereitete Katharina die Große dem schon zur Jahrhundertwende ein Ende und förderte russische Kultur.

Noch 1862 wird in St. Petersburg ein Konservatorium gegründet, an dem Musiker und Komponisten im europäischen Stil ausgebildet werden. Doch in Opposition dazu bildet sich das so genannte »mächtige Häuflein« unter dem Mentorat des Kunstkritikers Wladimir Stassow. Junge Komponisten, etwa Alexander Borodin, Modest Mussorgskij und Nikolai Rimskij­Korsakow, setzen sich für eine »echt russische« Kunstmusik ein. Sie prangern die Orientierung an mitteleuropäischen Standards an und versuchen stattdessen, einen russisch­slawischen Ton zu entwickeln: mit Bezügen zur Volksmusik und altrussischer Kirchenmusik, fernab akademischer Ausbildung.

Diesen nationalprogressiven russischen Komponisten ist der europaorientierte Pjotr I. Tschaikowskij ein Dorn im Auge. Als einer der ersten nimmt er ein Kompositionsstudium an jenem St. Petersburger Konservatorium auf, lernt »akademisch­richtig« zu komponieren. In Europa jedoch treffen seine Werke zunächst auf wenig Gegenliebe: Die Emotionalität seiner Themen, das Pathos seiner musikalischen Sprache, der Verzicht auf thematisch­motivische Arbeit in den sinfonischen Werken, aber auch der gelegentlich national­folkloristische Tonfall werden bis ins 20. Jahr­hundert abgewertet.

Wie tragisch: Tschaikowskij wird in seiner Heimat als Europäer geschmäht. In Europa aber gilt er als zu rus­sisch. Wo liegt nun die Wahrheit? Wie so oft ist sie in den Grautönen verborgen. In Tschaikowskijs Oper PIKOWAJA DAMA etwa gibt es eine Szene, die sich wie ein ironischer Kommentar zum Nationalmusikdiskurs lesen lässt. 1. Akt, 2. Bild: Lisa ist traurig. Zwar ist sie frisch verlobt mit dem Fürsten Jeletzkij, aber sie spürt bereits, wie sich der mysteriöse Außenseiter Hermann in ihr Herz stiehlt. Lisas beste Freundin Polina versucht sie mit ihrem Lieblingslied aufzumuntern – eine schwermütige Ballade, nur vom Klavier begleitet. Doch Polina stimmt ein anderes Lied an: »Etwas Fröhliches, Russisches!« Und so fallen alle mit off-beat­Klatschern und »Aj Lyuli, lyuli«­Juchzern ins Tanz­Liedchen ein. Nur um sogleich von der Gouvernante unterbrochen zu werden: »Mademoiselles, was ist das hier für ein Lärm. Schämen Sie sich nicht, russisch zu tanzen?« Librettist Modest Tschaikowskij, Bruder des Komponisten Pjotr I. Tschaikowskij, hatte die von Puschkins gleichnamiger Novelle inspirierte Handlung sehr bewusst in den frankophilen St. Petersburger Adelskreisen des ausgehenden 18. Jahrhunderts angesiedelt. Hier war es nicht schicklich, in primitive Volks­ und Bauernmusik zu verfallen: Man sprach, sang und tanzte französisch.

 

Klischeepuppen: Bilder des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des US-Präsidenten Donald Trump auf »typisch russischen« Matrjoschkas © Jorgen Haland | unsplash
 
 

Und so ist vieles an dieser Oper als Kommentar zum aufkeimenden Nationalismus zu verstehen. Auch Lisas Großmutter, die titelgebende Pique Dame, steht für ein gen Europa gewandtes, nostalgisches Lebensbild, verklärt die gute alte Zeit des prärevolutionären französischen Absolutismus. Eine Obsession, die in ihrem zerbrechlich­schauerlichen Sologesang mitten in der Nacht gipfelt – hier bedient sich Tschaikowskij wortwörtlich bei einer Oper des Franzosen André Grétry. Und er legt offen, dass die Zitate genuin mitteleuropäischer Musik nicht ihrer Verherrlichung dienen, sondern vielmehr Charaktere beschreiben, etwa die Nostalgie und Weltvergessenheit der Gräfin. Und die russischen Folklore­Einsprengsel sind Lokalkolorit­Zitate, nicht etwa Anbiederung an das »mächtige Häuflein«.

Achtet man aber auf die Musik der beiden Liebenden – Lisa und Hermann – findet man dort wenig russische Idiome. In den Arien und Duetten der beiden hört man Tschaikowskijs universelle Emotionalität: Lisas bedingungslose Liebe und Hermanns bedingungsloser Wahn spiegeln sich in einer Musik jenseits nationalistisch­chauvinistischer Klischees.

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