Was mich bewegt

Sie tragen das Kreuz

Blut, Schmerz, Tränen, Zerstörung. Und am Ende stirbt ein Mensch, damit eine Idee weiterlebt. Regisseur Benedikt von Peter wagt einen erhellenden Blick auf Bachs MATTHÄUS-PASSION

Die MATTHÄUS-PASSION erzählt die letzten Tage von Jesus Christus, bis zum Moment der Kreuzigung – danach ist Schluss, es folgt keine Beisetzung, keine Wiederauferstehung, hier steht einzig die Symbolik des Leidens und des Schmerzes im Vordergrund.

Die Frage ist: Warum? Opern des 19. und 20. Jahrhunderts sind voll von ähnlichen Narrativen. Es wird von Tod und Märtyrern erzählt, Körper werden zerstört, damit eine Idee größer wird. Ein Liebespaar stirbt, damit die Liebe lebt. Ein Held wird hingerichtet, die Revolution blüht auf. Diese Erzählungen umgeben uns, wir sind mit ihnen aufgewachsen, sie sind Kultur und Geschichte, der Boden, auf dem wir stehen.

Die MATTHÄUS-PASSION ist mit 2.000 Jahren eine der ältesten dieser Geschichten; die Zerstörung spielt sie als Stationendrama durch. Auf dem Weg zur Kreuzigung schreitet Jesus Szenen ab, in seiner Reaktion (und Nicht-Reaktion) erwachsen archaische Werte: Demut, Hingabe, Vergebung, Erbarmen. Über Jahrhunderte ist aus dem theatralischen Abschreiten des Wegs ein Gemeinschaftsritual entstanden – eine Wertemaschine von einer Geschichte, wie es im Abendland nur wenige gibt. Wie schafft man es, diese Erzählung erlebbar zu machen, inklusive ihrer Ambivalenz?

Die Antwort gibt Johann Sebastian Bach selbst, der für sein Oratorium den Leidensweg nicht nur vertonte, sondern auch räumlich inszenierte. Bei der Uraufführung 1727 in der Leipziger Thomaskirche hat er Orchester und Chor geteilt und einander gegenüber im Raum platziert. Die Menschen befinden sich inmitten dieses musikalischen Texts und in der Musik, im Ritual bildet sich eine Gemeinschaft. Diese theatrale Architektur haben wir verdichtet, Chöre und Orches ter kreuzförmig im Raum platziert, an vier Positionen.

Wir haben Mitglieder von Laienchören eingeladen; sie befinden sich im »Publikum«, singen von dort aus mit. Und auf den Sitzen liegen Text- und Notenblätter, an zwei Stellen laden wir das Publikum ein mitzusingen. Nach Bachs Tod geriet die MATTHÄUS-PASSION in Vergessenheit, die Märtyrer-Geschichte wurde in der Oper weitererzählt und variiert. Ihre Renaissance erlebte die Passion durch Singgruppen, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts im jungen Bürgertum Berlins bildeten und das Oratorium feierten. In vielen dieser Gemeinschaften entstanden dann auch unterschiedliche Ideen vom Nationalen, erwuchs der junge Nationalismus und später auch Antisemitismus.

Um also die ganze Ambivalenz betrachten zu können, die in diesem Ritual steckt, in seiner Historie und der Frage, warum die Opferthematik so grundlegend ist für unsere Kultur, was das bedeutet – lassen wir die Szenen der Passion von Kindern spielen. In der Mitte des Saals, im Zentrum des Kreuzes, das Orchester und Chor bilden, befindet sich eine Bühne. Dort spielen sie die Stationen nach, bis zur Kreuzigung Jesu, der ebenfalls von einem Kind gespielt wird. Ein Teil der Kinder hinterfragt irgendwann den Ablauf, bricht aus der Installation, aus dieser Wertefeier aus und lehnt das Opferprinzip ab. So wie die aktuelle Generation rund um Greta Thunberg ihre eigene Opferrolle verweigert.

Die Kinder als Akteure schaffen die Distanz, die es braucht, um die Erzählung zu betrachten. Aber sie schaffen auch Nähe, Empathie – und erhöhen die Wirkmacht des Rituals, öffnen die ganze Ambivalenz.

Bei den Aufführungen in Basel ist viel passiert, es war beeindruckend, teilweise sogar richtig spooky. Der Saal war voller Menschen, Musik und Gesang – und vorne, in der Mitte des Geschehens die Kinder, die die Inszenierung mit Konzentration, Vertrauen und Hingabe getragen haben. Manche Menschen, viele ältere, waren bewegt, fanden es rührend, eine „Matthäus-Passion“, die ihnen viel bedeutet, von Kindern gespielt zu sehen und zu erleben, wie ernst sie »das Spiel« nehmen.

Andere Menschen, viele von ihnen anti- oder nichtreligiös eingestellt, fanden es schwer zu ertragen, dieser brutalen Geschichte überhaupt nur beizuwohnen und zu realisieren, was das für eine Geschichte ist, die wir uns da immer wieder erzählen. Eine vom ewigen Kreislauf des Märtyrertums. Ein Ehepaar kam hinterher erschrocken auf mich zu und sagte: »Es ist unser Bach, den wir kennen und lieben, wir singen dazu und vorne die Kinder – die tragen das alles aus.«

Benedikt von Peter ist Intendant der Oper am Theater Basel, mit dem diese MATTHÄUS-PASSION in Koproduktion entstand. Das Berliner Publikum schätzt ihn für seine Inszenierung von AIDA, wo Chormitglieder aus dem Publikum sangen © Christian Knoerr
 

Newsletter

Aktuelles zum Spielplan
und zum Vorverkaufsbeginn
Persönliche Empfehlungen
Besondere Aktionen ...
Seien Sie immer gut informiert!

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie 25% Ermäßigung bei Ihrem nächsten Kartenkauf

* Pflichtfeld





Newsletter