Tönt es durch die Lüfte... - Deutsche Oper Berlin
Essay von Martina Helmig
Tönt es durch die Lüfte...
Zu Weihnachten haben die Chöre an der Deutschen Oper Berlin gut zu tun – bleibt da noch Zeit für besinnliche Stimmung?
„Besonders freuen wir uns auf ‚La Bohème‘. Alle im Chor lieben diese tolle Götz-Friedrich-Inszenierung. Es ist so ein richtiges Weihnachtsstück“, sagt Natalie Buck, die im Chor der Deutschen Oper Berlin im Sopran singt. Puccinis Meisterwerk schmückt fast immer das Dezemberprogramm, diesmal auch am ersten Weihnachtsfeiertag. Schließlich spielen der erste und zweite Akt am Weihnachtsabend. Die Ausstattung schlägt die Besucher in ihren Bann. Wenn sich der Vorhang zum zweiten Mal öffnet, bekommt Peter Sykoras Bühnenbild oft schon Applaus, bevor überhaupt ein Ton gesungen wurde.
„Im Kinderchor hatten wir einen Jungen, der sagte, die ‚Bohème‘- Vorstellung sei der schönste Abend seines Lebens gewesen“, erzählt Andrea Schwarzbach, die ebenfalls Sopran im Opernchor singt. Jeder hat wohl seinen besonderen „Bohème“-Moment im Leben. Sie selbst erinnert sich daran, wie sie bei einer Vorstellung im Publikum saß und so ergriffen war, dass sie weinen musste, und Natalie Buck fügt hinzu: „Ich bin wegen ‚La Bohème‘ überhaupt Sängerin geworden. Ich stand mit elf, zwölf Jahren im Kinderchor auf der Bühne. Da fing die Musetta in ihrem schönen roten Samtkleid an zu singen, und ich dachte nur: Das will ich auch können.“ Auch an der Deutschen Oper Berlin trägt die Musetta ein rotes Samtkleid, da fühlt sich die Chorsängerin immer wieder an ihren Schlüsselmoment erinnert.
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In der Advents- und Weihnachtszeit gibt es für die Chöre im Opernhaus immer besonders viel zu tun. Denn Dezember ist der Opernmonat. „Dann haben wir besonders viel Publikum im Raum, auch viele Familien mit Kindern, da nehmen wir eine ganz spezielle Stimmung wahr“, so Natalie Buck. Viele Kinder sitzen zum ersten Mal in der Oper. Auf dem Spielplan stehen besonders viele populäre Opern: Ob bei „Aida“ oder „Die Zauberflöte“, „Die Entführung aus dem Serail“, „Eugen Onegin“ oder „Lohengrin“ - die Chöre sind im Dezember fast überall dabei. Leicht ist es sicher nicht, zwischen so vielen Vorstellungen hinter den Kulissen noch Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. Aber der Chor, der unter der Leitung von William Spaulding vielfach preisgekrönt wurde und nun sehr gern mit Raymond Hughes arbeitet, bringt auch das immer wieder fertig. Die Sänger organisieren jedes Jahr eine Weihnachtsfeier, und auch die Garderoben werden festlich geschmückt.
In Katharina Thalbachs turbulenter Inszenierung von „Der Barbier von Sevilla“ sind nur die Chorherren gefragt, dafür aber zu Silvester gleich in zwei Vorstellungen. „Eugen Onegin“ ist neben „La Bohème“ die zweite Oper, auf die sich die Choristen besonders freuen. Die lange, russische Chorpartie ist eine Herausforderung, die sehr gern angenommen wird. Am Anfang spielen die Sänger Bauern in weißen Kostümen, später in der Ballszene dürfen manche tanzen, andere lästern oder einander nachstellen. „Wir haben es gern, wenn ein Regisseur uns nicht als große Masse, sondern in kleineren Gruppen inszeniert“, verrät Natalie Buck.

Eine Inszenierung wie Benedikt von Peters „Aida“ ist allerdings auch für die erfahrenen Chorsänger etwas ganz Spezielles. Da sitzt ein großer Teil des Chors im Zuschauerraum. „Ich bin immer wahnsinnig gespannt darauf, wer wohl neben mir sitzt“, sagt Natalie Buck. „Manche zucken zusammen, wenn man anfängt zu singen.“ Andere reisen wegen der besonderen Inszenierung nach Berlin und achten beim Kartenkauf darauf, möglichst dicht bei einem Chorsänger zu sitzen. „Bei der Premiere sah ich jemanden aus meinem Fitness-Studio in der Reihe vor mir, das war schon merkwürdig“, erzählt Andrea Schwarzbach.
In „La Bohème“, „Carmen“ und „Tosca“ steht der Kinderchor gemeinsam mit dem großen Chor auf der Bühne. Für die Chorkinder ist es bei „La Bohème“ spannend zu erfahren, was Kinder um 1900 für Kleidung trugen. In „Carmen“ spielen sie arme Dorfkinder mit völlig zerrissenen Kleidern, die statt eines Gürtels einen Schal um den Bauch gebunden bekommen. „In den Opern ziehen sie völlig freiwillig Sachen an, die sie unter normalen Umständen vehement ablehnen würden. In ‚La Bohème‘ tritt ein Mädchen mit einer Puppe auf, das wäre doch normalerweise megapeinlich, aber hier machen sie alles.“ Ohne Murren setzen die Kapellknaben in „Tosca“ die Perücken auf. „Die sehen schon ein bisschen aus wie tote Pudel“, lacht Andrea Schwarzbach.
Für den Kinderchor ist „La Bohème“ eine echte Herausforderung. Nicht, weil die Partien besonders lang sind, sondern weil die ganze Bühne voll von Leckereien ist und die kleinen Sänger nichts davon essen dürfen. Es gibt Zuckerwatte, Süßigkeiten und Gulaschsuppe. Natalie Buck bringt Kekse mit, ein anderer Kollege Wiener Würstchen und Senf. Die Choristen essen wirklich auf der Bühne, wenn sie gerade nicht singen müssen, und auch die Statisterie-Kinder dürfen naschen. Nur den Chorkindern ist das streng verboten, damit sie keine vollen Backen haben, wenn sie an der Reihe sind. „Die Bonbons sacke ich immer ein und bringe sie zur Kinderbetreuerin, damit sie sie hinterher verteilen kann“, sagt Andrea Schwarzbach.
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Einige Chorsänger haben Kinder im Kinderchor und stehen mit ihnen gemeinsam auf der Bühne. Private Worte dürfen allerdings nicht gewechselt werden. Während der Vorstellung spielen die Chorsänger ihre Rollen. Wenn sie im Stück miteinander reden, dann nicht über das Kantinenessen, sondern über das, was in der Oper gerade passiert – auch wenn das kein Zuschauer hören kann. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel: „Zu meinem Geburtstag haben wir ‚Carmen‘ gespielt. Ich bin ganz erschrocken, als drei Kinder mir beim Schlusschor ,Herzlichen Glückwunsch!’ zuflüsterten. Das war spieltechnisch aber so gut verpackt, dass es niemandem auffallen konnte“, erinnert sich Andrea Schwarzbach.
Was in der Weihnachtszeit nie fehlen darf, ist das Staatsballett mit „Der Nussknacker“ und Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“. Tschaikowskys Ballettklassiker spielt direkt am Heiligabend. Das Märchen von „Hänsel und Gretel“ hat dagegen eigentlich nichts mit Weihnachten zu tun, aber es spielt im Wald und vor allem gibt es das Lebkuchenhaus. Die Oper korrespondiert also gut mit der weihnachtlichen Stimmung. Bei diesem Stück tritt der Kinderchor ohne den großen Chor auf. Kinder dürfen erst mit sechs Jahren auf die Bühne. Natalie Bucks Tochter Frieda ist im Kleinen Chor, der Vorstufe zum Kinderchor.
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Beim Adventssingen ist sie aber jetzt schon dabei, da singen der Kleine Chor und der Kinderchor Weihnachtslieder mit dem Publikum in der Tischlerei, und zwischendurch werden Adventsgeschichten vorgelesen. „In den Jahren davor bin ich als Solistin in einem Elfenkostüm aufgetreten. Ich fand es sehr schön, wie die kleinen Besucher um uns herum auf Kissen saßen oder lagen“, erzählt Andrea Schwarzbach.
Natalie Bucks ältere Tochter Laura singt im Jugendchor, der seinen großen Dezember-Auftritt im Rahmen des Adventskalenders hat. Die Jugendlichen präsentieren weihnachtliche Lieder, auch Raritäten aus Schweden und Italien. Der Adventskalender hat Tradition am Opernhaus. Vom 1. bis zum 22. Dezember, immer montags bis freitags um 17 Uhr, gibt es im Rang-Foyer ein 20-minütiges Kurzprogramm bei freiem Eintritt.
Die Künstler des Hauses und Gäste haben wieder viel Besinnliches, Fröhliches und Originelles vorbereitet. Neben den Solisten und Instrumentalisten sind auch die Chorsänger des Opernhauses dabei. Natalie Buck singt mit ihrer Mezzosopran-Kollegin Jiwon Choi Arien und Duette von Händel. Andrea Schwarzbach präsentiert Weihnachtslieder von Komponisten wie Engelbert Humperdinck und Peter Cornelius, die auch Opern geschrieben haben – es begleitet sie der Pianist Christian Zacker. Die Choristen freuen sich darauf, sich dem Opernpublikum solistisch vorzustellen, schließlich sind sie alle ausgebildete Gesangssolisten. „Wir haben tolle Individualisten mit großem Opernwissen in unserem Chor“, erklärt Andrea Schwarzbach nicht ohne Stolz. „Wir sind keine Singmaschinen und Kopiergeräte. Wir singen mit Leib und Seele.“
Für die Beilage der Deutschen Oper Berlin in der Berliner Morgenpost, Dezember 2016.