„Verdis DNA“ - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

„Verdis DNA“

Regisseur Vasily Barkhatov im Gespräch mit Dramaturg Sebastian Hanusa

Sebastian Hanusa
SIMON BOCCANEGRA existiert in zwei verschiedenen Versionen, der ersten, 1857 in Venedig uraufgeführten, und der zweiten, die zusammen mit Arrigo Boito entstand und die die weitreichendste Revision einer seiner Opern überhaupt darstellt. Diese 1881 in Mailand uraufgeführte Fassung steht am Beginn von Verdis Spätwerk mit OTELLO und FALSTAFF wie auch der Zusammenarbeit mit Boito. Die zweite Fassung gilt als die musikalisch wie dramaturgisch reifere und erklingt auch in unserer Neuproduktion. Gab es aber auch Überlegungen, die erste Fassung statt der zweiten zu spielen?

Vasily Barkhatov
Nein. Die erste Fassung ist in dramaturgischer Hinsicht unklarer, viele Dinge werden dort nicht wirklich deutlich. Insgesamt braucht man, wenn man sich mit diesem Stück beschäftigt, seine Zeit, um all die Themen und Motive, die Librettist und Komponist dort hineingeschrieben haben, zu sortieren. Es kommt mir ein wenig so vor, als hätten beide einfach zu viel zu sagen gehabt, sich aber nicht auf ein Thema konzentriert, sondern gleich auf zehn. Doch das Publikum braucht einfach Zeit, all diese Themen und Handlungsmotive zu erfassen, sie zu verfolgen und zu verstehen. Und da ist die zweite Fassung einfach deutlich besser.

Als ich jedoch darüber nachgedacht habe, dass ich am Beginn der Oper etwas Zeit brauche, um die Vorgeschichte Fiescos zu erzählen, kam die Idee, am Beginn des Stückes das Preludio der Erstfassung zu spielen. Musikalisch passt es und es enthält zudem in Form einer Potpourri-Ouvertüre die wichtigsten musikalischen Themen des Stücks: das Thema der politischen Katastrophe, das „Revolutionsthema“, bei dem es sich zugleich um eine Art „Lebensthema“ von Simone handelt, das „Tochterthema“ und das „Liebesthema“.

Zugleich finde ich es interessant, wenn es ein Stück in zwei Fassungen gibt, und ich beschäftige mich dann immer auch mit der ersten Fassung. Als ich zum Beispiel MADAMA BUTTERFLY in Basel inszeniert habe, habe ich vieles von der ersten Fassung des Stückes mit hereingenommen. Jetzt ist es so, dass bei SIMON BOCCANEGRA die Existenz der zwei Fassungen den meisten geläufig ist, bei BUTTERFLY eher weniger. Dort ist es indes so, dass man in der Erstfassung einiges über die Figuren erfährt, was später herausgeschnitten wurde, um das Stück zu straffen und es in eine gute Form zu bringen. Bei BOCCANEGRA ist es stellenweise vergleichbar. Als Regisseur findet man bestimmte Facetten der Figuren in der Erstfassung, die dann später gekürzt wurden. Es ist wie bei einem Film, der im Final Cut auf eine bestimmte Länge zusammengeschnitten wird, über dessen Figuren man aber auch mehr erfährt, wenn man sich den Rohschnitt ansieht.

Sebastian Hanusa
Unabhängig von der Fassung zeichnet sich das Libretto von SIMON BOCCANEGRA durch eine Fülle von komplex aufeinander bezogenen Einzelereignissen aus, einschließlich einer Häufung von Zufällen, die es, realistisch betrachtet, so nicht geben könnte. Wobei solch eine Kontrastdramaturgie, wie sie von Victor Hugo geprägt wurde, im romantischen Theater Programm war: An ihr haben sich die spanischen Theaterdichter Antonio García Gutiérrez, von dem neben BOCCANEGRA auch die Vorlage zu IL TROVATORE stammt, und Ángel de Saavedra, der die Vorlage zu LA FORZA DEL DESTINO schrieb, orientiert. In dieser Theater- bzw. Opernästhetik geht es nicht so sehr um das lineare und möglichst klare Erzählen einer Geschichte. Vielmehr interessierten sich die Autoren für die ganz großen Emotionen, für Extremsituationen, Schockmomente, für starke Bühneneffekte und auch für das Grelle oder auch bizarr Überzeichnete.

Vasily Barkhatov
Verdi hatte ganz sicher eine große Faszination für diese Stoffe und steht damit natürlich gegen jene dramaturgische Grundregel, dass man in der Oper sehr klar, ohne zu viele Wendungen und Details, erzählen müsse. Doch Verdi bringt diese komplizierten Stoffe und Geschichten auf die Bühne, was ich großartig finde. Mich erinnert das an mexikanische Fernsehserien unserer Tage, wo alle zehn Minuten eine neue Ungeheuerlichkeit geschieht und man wie ein Detektiv herausfinden muss, wer etwa wen vor hundert Jahren umgebracht hat und wessen Bruder sich in wessen Schwester verliebt.

Sebastian Hanusa
Unabhängig von dem ästhetischen Ansatz, aus dem heraus das Stück entstand, bleiben diese extremen Zufälle. Angefangen damit, dass Boccanegra nicht nur zufällig nach 25 Jahren seine verschollene Tochter wiederfindet, sondern dass diese an Kindes statt von der mit Boccanegra verfeindeten Adelsfamilie Grimaldi aufgenommen wurde und zudem noch die Geliebte Gabriele Adornos ist, der sich gegen Boccanegra verschworen hat.

Vasily Barkhatov
Und er erkennt über drei Akte Fiesco nicht, den Vater seiner Geliebten, obwohl er direkt vor ihm steht …

Sebastian Hanusa
Versuchen Sie durch die Regie diese Momente zu „reparieren“? Wie gehen Sie damit um?

Vasily Barkhatov
Es ist definitiv eine Herausforderung. Ich selber kann nicht daran glauben, dass all diese Dinge innerhalb der Bühnenhandlung so geschehen könnten. Und wenn ich selber eine Handlung nicht für glaubwürdig halte, kann ich sie auch nicht so auf die Bühne bringen, als ob man im Publikum nicht sähe, dass ich lüge. Auf der anderen Seite halte ich BOCCANEGRA musikalisch für das schönste Stück, das Verdi je geschrieben hat. Wenn man in einer Kapsel das ins Weltall schicken wollte, was ihn insgesamt ausmacht, dann müsste man BOCCANEGRA nehmen.

Es ist quasi seine DNA, in der sich in Spuren Elemente aller seiner anderen Werke wiederfinden.

Und zugleich gibt es diese dramaturgischen Schwächen. Dazu zählt etwa, dass Verdi den Figuren nie die Möglichkeit gibt, das, was sie erleben, zu akzeptieren und zu verarbeiten. Er zeigt die einzelnen Ereignisse, gibt aber den Figuren nicht den Raum, sie vorzubereiten oder angemessen zu reagieren. Boccanegra erkennt in einem Moment, dass Amelia seine Tochter ist, und sofort ist er glücklich. Es gibt in der Szene keine Entwicklung vom Erkennen der Tochter hin zum Glücklichsein.

Deshalb stellt sich für mich der Eindruck ein, dass diese Momente des Glücks zu schön sind, um wahr zu sein – woraus sich eine Inszenierungsidee entwickelte. Alle „glücklichen Szenen“ wurden für mich Projektionen Simon Boccanegras. Er erträumt sie sich als den perfekten aller möglichen Wege, der so aber niemals Realität wird. Es bleibt eine feine Linie am Horizont, die man zwar sieht, aber nie einfangen kann, weil sie sich immer von einem wegbewegt. Es ist so wie dieser Witz aus der UdSSR. Dort wurde einem von der Partei gesagt, man solle nur warten, der wahre, ideale Kommunismus sei bereits am Horizont zu sehen. Worüber die intelligenteren Leute nur lachen konnten, da man den Horizont ja nun niemals erreicht.

Hinzu kommt in SIMON BOCCANEGRA, dass ein privates Suchen nach Glück das politische Leben beeinflusst. Es gibt zahlreiche Beispiele aus der Geschichte, in denen die psychologischen Probleme von Dogen, Kaisern und Präsidenten ihr politisches Handeln beeinflusst haben und sie deshalb etwa einen Krieg begonnen haben. Ähnlich ist es bei Boccanegra, der versucht, aus seinem Privatleben heraus die Welt in Ordnung zu bringen. Er ist besessen von der Idee, dass, sobald die verlorene Tochter heimkehrt, sich die politische Situation auf magische Weise zum Guten wendet. Schließlich führt diese Besessenheit dazu, dass Boccanegra sich selber belügt und letztlich ein beliebiges Mädchen als Tochter annimmt.

Sebastian Hanusa
Ein weiteres sehr interessantes Moment ist, dass das Stück aus zwei Teilen besteht. Es gibt einen Prolog, in dem die Vorgeschichte der Handlung erzählt wird, der aber von seinem Umfang her mehr als ein Viertel der Oper einnimmt und in dem wesentliche Teile der Handlung geschehen. Und dann gibt es die in drei Akte gegliederte Haupthandlung der Oper, die 25 Jahre später spielt. Durch die Anlage des Stückes mit diesen scharfen Kontrasten und den wenigen Ruhepunkten erfährt man wenig über die Figuren. Hinzu kommt der Zeitsprung, wo wir auch nur begrenzt erfahren, was dort in der Zwischenzeit geschehen ist.

Vasily Barkhatov
Aber das, was Verdi zeigen wollte, zeigt er uns. Es sind die zwei Extrempunkte innerhalb einer persönlichen Entwicklung von Simon Boccanegra, die sich über jene 25 Jahre vollzogen hat. Am Anfang der Oper zeigt er uns den netten Mann von der Straße. Später wird er zu einem glatten, erfahrenen Machtpolitiker, wie Fiesco es schon zu Beginn ist. Und später erleben wir Gabriele als den „nächsten Simone“, als einen jungen Mann, voller Hoffnungen, aufgeschlossen, offenherzig. Daher zeige ich im Prolog Simone als den jungen, etwas naiven Marinesoldaten und Kriegshelden, der unsicher und etwas verwirrt ist, als er diese politische Veranstaltung betritt, bei der vornehme Leute und hochrangige Militärs anwesend sind. Er fühlt sich ein bisschen nackt und spürt, dass er – noch – nicht zu dieser Gesellschaft, an diesen Ort und zu diesem Ereignis gehört. Und im ersten Akt, 25 Jahre später, bewegt er sich in diesem Umfeld wie ein Fisch im Wasser. Wir sehen hier einen erfolgreichen, erfahrenen Politiker. Deshalb singt Simone aber auch am Ende, im Augenblick der Verzweiflung und des Todes: „Warum bin ich nicht auf See gestorben?“ – als ich noch ein glücklicher, unerfahrenen Korsar auf meinem Schiff war. Warum musste er diesen Prozess erleben und konnte nicht sterben, als er noch ein netter, unschuldiger, quasi „perfekter“ Mensch war. Deshalb nimmt er dann wieder die alte Uniformjacke, die er im Prolog getragen hatte und tauscht sie gegen Jackett und Krawatte. Doch es bleibt ein Relikt aus vergangenen Tagen, ist ein vergeblicher Versuch, in die Vergangenheit zurückzukehren.

Sebastian Hanusa
Die Autoren haben das Stück in einem konkreten historischen Kontext in Genua in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts angesiedelt. Simon Boccanegra hat es ebenso gegeben wie Jacopo Fiesco und Gabriele Adorno. Der Großteil der Handlung einschließlich der Liebesgeschichte von Boccanegra mit Fiescos Tochter und die Geschichte mit der verlorenen und wiedergefundenen Tochter sind jedoch Fiktion. Zugleich ist das Stück, wie die historische Oper des 19. Jahrhunderts insgesamt, eines, in dem Verdi auf die politische Situation seiner Zeit reflektiert, jenen konfliktreichen Prozess der Wiedervereinigung Italiens, an dem er zu Teilen selber teilgenommen hat, den er mitgestaltet hat.

Vasily Barkhatov
Für mich ist der Umgang mit der Geschichte in der Oper des 19. Jahrhunderts vergleichbar dem in Historienfilmen des Hollywood-Kinos unserer Tage: Die Geschichte gibt den Rahmen ab, lediglich ein paar Namen und Fakten, für eine Handlung, die zu achtzig bis neunzig Prozent erfunden ist. Dieser Rahmen ist jedoch für die Handlung essentiell in dem Sinne, dass Simon Boccanegra ein Politiker war, der die Struktur seines Staates grundlegend verändert hat, ähnlich wie auch Boris Godunow. Und in diesen Rahmen wird ein fiktives Privatschicksal hineingesetzt, mit dem im Fall von SIMON BOCCANEGRA gezeigt wird, wie sich Strukturen politischer Machtausübung nicht mit dem Wunsch nach privatem, familiären Glück vereinen lassen und letztlich tragisch scheitern.

Die Botschaft des Stückes ist für mich ganz radikal die: Um ein guter Politiker zu sein, muss man sich selbst, mit all seinen privaten Plänen, Wünschen und Ambitionen aufopfern. Der Beruf des Politikers ist mit dem eines Mönchs vergleichbar. Es ist letztlich so etwas wie eine religiöse Berufung, zumindest, wenn man es wirklich ehrlich meint und ernsthaft betreibt. Natürlich gibt es auch korrupte Politiker, so wie es korrupte Priester gibt, die nicht aus einem solchen Idealismus heraus handeln. Aber im Idealfall bedeutet, Politiker zu sein, alles dem Amt als Diener des Staates zu opfern.

Sebastian Hanusa
Und indem Verdi uns, aus seinem Humanismus heraus, zeigt, wie dieser Anspruch die allermeisten Menschen scheitern lässt, entsteht die innere Dramatik, die die Handlung des Stückes trägt. Die Anforderung eines quasi mönchischen Politikerlebens versuchen die Figuren des Stückes eben doch mit privatem Glück als guter Familienvater und Ehemann zu vereinen – in einem Männerstück des 19. Jahrhunderts, dessen Grundkonflikt sich aber auch mit zunehmender Auflösung klassischer Rollenmodelle nicht wesentlich geändert hat. Erzählt wird dies im Stück aus einer Form von überhöhtem Realismus heraus. Es gibt einen konkreten historischen Rahmen ebenso wie eine Erzählweise, die Einzelereignisse auf die Bühne bringt, die sich so auch in der realen Welt ereignen könnten. In der Kombination dieser Einzelereignisse bewegt sich das Stück jedoch jenseits aller realistischen Plausibilität. Was bedeutet dies für die Erzählweise der Inszenierung?

Vasily Barkhatov
Verdi ändert innerhalb des Stückes die Spielregeln der Dramaturgie, was wirklich interessant ist. So im Fall des Chores. In den ersten beiden Akten agiert er als eine Gruppe realer Menschen aus der Stadtgesellschaft Genuas, die unmittelbar an den Ereignissen teilhaben, reagieren, sie kommentieren, Zustimmung oder Ablehnung äußern. Im letzten Ensemble der Oper werden sie jedoch zu einem Chor vergleichbar dem des griechischen Theaters, der aus einer übergeordneten Position philosophischer Reflexion heraus auf das Geschehen schaut. Die Soli führen hier realistische Familiengespräche. Und dann taucht plötzlich der Chor auf und kommentiert diesen Ausschnitt der Realität, indem er aus einer quasi existenzphilosophischen Perspektive heraus über die Tragik des Seins reflektiert.

Und auch für die Soli bedeutet dies, dass ich grundsätzlich mit einer realistischen Spielweise das Stück erzähle, dies aber mit einer im guten Sinne theatralen Distanz. Ich kann dieses Werk nicht so erzählen, als ob Amelia wirklich Boccanegras Tochter ist. Ich kann sie aber als die Geschichte eines Mannes erzählen, für den der Wunsch und der Traum, seine Tochter wiederzufinden, so stark sind, dass dies sein Handeln beeinflusst und letztlich dominiert.

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