Vom Doppelsinn des Doppelschlags - Deutsche Oper Berlin
Vom Doppelsinn des Doppelschlags
Zu Gustav Mahlers Neunter Sinfonie – Ein Essay von Tim Martin Hoffmann
Letzte Werke umgibt ein besonderer Nimbus. Beinahe unweigerlich werden sie in den Kontext von Abschied, Trauer, Schmerz und Tod gerückt – dies selbst dann, wenn es sich bei genauerer Betrachtung gar nicht um das letzte Werk eines Komponisten handelt. Die Wirkmacht jenes rezeptionsgeschichtlichen Topos bezeugen etwa die „Vier letzten Lieder“, die Richard Strauss nicht weniger als ein Jahr vor seinem Ableben fertiggestellt hat. Wenngleich der Gesangstext die Erwartung des Todes wörtlich benennt, handelt es sich nicht um Strauss’ letzten Gattungsbeitrag. Ließ er wenige Wochen später vielmehr das Klavierlied „Malven“ folgen, so erweist sich die heute geläufige Werkbezeichnung als irreführend. Diese jedoch geht nicht auf den Komponisten, sondern den Verlag Boosey & Hawkes zurück, der die vier Lieder posthum als „letzte Lieder“ publizierte. Das damit öffentlichkeitswirksam angebrachte Emblem des Abgesangs gemahnt wohl nicht zufällig an Franz Schuberts „Schwanengesang“, bei dem es sich um nichts Anderes als die eigenmächtige Kompilation des Wiener Verlegers Haslinger handelt. Während Schubert vermutlich einen größeren Liederkreis nach Heinrich Heine projektiert hatte, fügte Haslinger die sechs nachgelassenen Heine-Vertonungen mit sieben Rellstab-Liedern und der „Taubenpost“ zu einem Opus zusammen, das entgegen der Titelgebung weder einen in sich geschlossenen noch einen letzten Gesang darstellt. Entgegen aller Vorsicht, inwieweit der nahende Tod überhaupt künstlerisch antizipierbar ist – allen Anekdoten zum Trotz dürfte selbst Mozart nicht geahnt haben, dass das Requiem den fragmentarischen Schlussstein seines Œuvres bilden würde –, bleiben letzte Werke in den Dunstkreis des Todes gehüllt. Manche Klischees sind eben zäh lebendig.
Was aber, wenn sich ein Werk haargenau in dieses Bild fügen will, wenn es das Klischee des letzten Werkes beinahe übererfüllt? Gustav Mahlers Neunte Sinfonie ist ein solcher Fall. Überdeutlich scheint sie jenen künstlerischen Weltabschied zu artikulieren, den schon die frühen Interpreten erkannt zu haben glaubten. Exemplarisch hielt Mahlers Kollege Willem Mengelberg in seiner Dirigierpartitur fest, die Neunte sei Mahlers „Abschied von allen die Er liebte – und von der Welt! – und von Seiner Kunst, seinem Leben, seiner Musik“. Bestätigend schlug Mahlers Freund Bruno Walter vor, „Der Abschied“ könne als Titel „über der Neunten stehen“. Dass sich Walter dabei auf den Titel des Schlusssatzes von Mahlers „Lied von der Erde“ bezog, ist vielsagend, handelt es sich hierbei doch um dessen, der Chronologie nach, eigentliche Neunte Sinfonie. Wie Walter selbst berichtet, hatte Mahler tatsächlich zunächst im Sinn, die in den Jahren 1908 und 1909 komponierte „Sinfonie in Gesängen“ als Neunte Sinfonie zu bezeichnen. „Dann aber war er anderen Sinnes geworden; er dachte an Beethoven und Bruckner, deren Schaffens- und Lebensgrenze die Neunte gewesen war, und er wollte das Schicksal nicht herausfordern.“ Der melancholische Entschluss, die eigentliche Neunte als „Lied von der Erde“ zu rubrizieren, gab sodann Raum, die unmittelbar nachfolgende, im April 1910 fertiggestellte Sinfonie in vier Sätzen endgültig als Neunte zu zählen.
Was vordergründig den sogenannten „Fluch der Neunten Sinfonie“ begründete, bezeugt bei genauerer Betrachtung geradewegs das Gegenteil: eine produktive künstlerische Strategie, die die Neunte auf intrikate Weise zur eigentlichen Zehnten werden ließ. Dass Mahler binnen weniger Monate sogar eine als solche gezählte Zehnte Sinfonie, deren Verlauf er bis Anfang September 1910 im Particell notierte, zwar nicht fertigstellen, jedoch bis hin zum Partitur-Entwurf des ersten und weniger Takte des dritten Satzes gedeihen lassen konnte, unterstreicht, welch fruchtbaren Boden das vermeintliche Problem der Neunten Sinfonie ebnete. Mahlers „Schaffens- und Lebensgrenze“ bildet die Zahl Neun jedenfalls nicht.
Ist damit zwar klar, dass es sich bei der Neunten weder faktisch noch der Intention des Komponisten nach um ein letztes Werk handelt, kann dennoch nicht geleugnet werden, dass sie den Gestus eines letzten Werkes annimmt. Sprechend ist insbesondere der Schluss. Ganz den Streichern vorbehalten, verklingt die Musik „Äußerst langsam“ und im dreifachen Piano. Die von Mahler gebrauchte Vortragsbezeichnung „ersterbend“ ist dabei auch insofern Programm, als sich im Partitur-Entwurf unzweideutige Eintragungen finden. „O Schönheit! Liebe! Lebt wohl! Lebt wohl!“, notiert Mahler zu Beginn des Adagissimo-Teiles; „Welt! Lebe wohl!“, heißt es auf der letzten Manuskriptseite. Doch Düsternis sucht man vergebens. Vielmehr hält ein weiterer Ausruf Einzug in den Subtext – diesmal durch ein hörbares Zitat aus Mahlers viertem „Kindertotenlied“. So bezieht sich die letzte mehrtaktige, von den ersten Violinen vorgetragene Melodie des Werkes auf die Gesangsphrase zu den Worten „Wir holen sie ein auf jenen Höh’n im Sonnenschein! Der Tag ist schön auf jenen Höh’n!“. Der Satz verklingt in lichtem Des-Dur. Weltabschied ist zur musikalischen Physiognomie geworden.
Krise und Neubelichtung
Dass Mahlers Schlussgestaltung auf das vierte „Kindertotenlied“ und dessen Licht-Symbolik zurückgeht, scheint ferner in biografischer Hinsicht auszustrahlen. Im Juli 1907 war Mahlers älteste Tochter Maria völlig unerwartet verstorben. Zu einem veritablen „Krisensommer“ (Jens Malte Fischer) taten die eigene Demission vom Amt des Hofoperndirektors in Wien sowie die durch den behandelnden Arzt der Tochter vorgenommene Diagnose einer schweren Herzerkrankung ihr Übriges. Vor dem Hintergrund der in der letzten Strophe formulierten Einsicht, dass die verstorbenen Kinder den Eltern „nur vorausgegangen“ seien, beanspruchte das 1901 komponierte „Kindertotenlied“ plötzlich unerwartete Aktualität.
Den „panischen Schrecken“ des Sommers 1907, der ihn allerdings nicht von einer ausgeprägten Dirigiertätigkeit abhielt, benennt Mahler rückwirkend in einem Brief an Bruno Walter. Damals habe er „nichts Anderes gesucht, als wegzusehen und wegzuhören. – Sollte ich wieder zu meinem Selbst den Weg finden, so muss ich mich den Schrecknissen der Einsamkeit überliefern.“ Jene selbstverschriebene Einsamkeit fand Mahler in Alt-Schluderbach bei Toblach, wo er die Sommer 1908 bis 1910 verbrachte. „Es ist wundervoll hier“, bekundete er 1908 an Adele Marcus, „und die Abgeschlossenheit und Ruhe dieses Plätzchens erlaubt mir, mich wieder in gewohnter Weise einzuspinnen. Vielleicht klingt es auch einmal in Ihre Welt, was mir hier im Herzen und im Kopfe herumrumort.“ Klingt im letzten Satz bereits die Arbeit am „Lied von der Erde“ an, verbrachte Mahler den Sommer parallel damit, die eigene Situation zu reflektieren. Wie er Walter berichtet, habe er im Vorjahr „mit einem Schlage alles an Klarheit und Beruhigung verloren“, „vis-à-vis de rien“ gestanden und müsse nun „am Ende eines Lebens als Anfänger wieder gehen und stehen lernen“. „Ich muss eben ein neues Leben beginnen – bin auch da völliger Anfänger.“
Unter sich aufhellenden Vorzeichen kommt Mahler Anfang 1909, wiederum in einem an Bruno Walter gerichteten Brief, noch einmal auf jene „ungeheure Krise“ zu sprechen, die ihn „seit anderthalb Jahren“ „so unendlich viel“ durchleben lasse. Am Begriff der Krise sind dabei zwei Dinge auffällig. Zum einen macht Mahler keinen Hehl daraus, Zweifel an der Artikulierbarkeit seines Befindens zu hegen. Dass er „kaum darüber sprechen“ könne, was er durchlebe, seine „Lebenstage“ mit den „sibyllinischen Bücher[n]“ vergleicht, deren enigmatische Orakelsprüche in Krisenzeiten des alten Rom konsultiert wurden, dass er im bereits erwähnten, früheren Walter-Brief bekennt, „doch nur in Rätseln“ zu sprechen, während es für das, was in ihm vorgehe, „vielleicht überhaupt keine Worte gibt“ – all das lässt Züge einer Sprachkrise erahnen, die an Hugo von Hofmannsthals epochalen „Brief des Lord Chandos“ erinnert. Mit Blick in die Untiefen der eigenen Psyche – im Folgejahr sollte er Sigmund Freud persönlich konsultieren – teilte Mahler offenbar jene Skepsis gegenüber der Wortsprache, der Hofmannsthal 1902 ein literarisches Denkmal gesetzt hatte. An die Stelle abstrakter Worte, die schon dem fiktiven Lord Chandos „im Munde wie modrige Pilze“ zerfielen, trat für Mahler nun bezeichnenderweise die Musik: „Merkwürdig! Wenn ich Musik höre – auch während des Dirigierens – höre ich oft ganz bestimmte Antworten auf alle meine Fragen – und bin vollständig klar und sicher. Oder eigentlich, ich empfinde ganz deutlich, dass es gar keine Fragen sind.“ Zum anderen versteht sich Krise ganz im Sinne des lateinischen Wortes „crisis“ eben nicht bloß destruktiv als persönlicher Tiefpunkt, sondern zugleich konstruktiv als künstlerischer Wendepunkt. Wie der Musikwissenschaftler Martin Pensa aufgezeigt hat, markieren die im Brief unmittelbar nachfolgenden Worte „Ich sehe alles in einem so neuen Lichte – bin so in Bewegung“ eine produktive Neubelichtung des eigenen Schaffens. Stärker als in den Sinfonien Nummer fünf bis acht scheint sich die Neunte zurück auf Mahlers erste vier Sinfonien, die sogenannten „Wunderhorn-Sinfonien“, zu beziehen.
Dies tritt bereits am Beginn des ersten Satzes der Neunten zu Tage. Über dem markant rhythmisierten, alternierend von den Celli und dem vierten Horn getragenen Orgelpunkt A hebt zunächst eine viertönige Wendung in der Harfe an. Was man für eine simple Umspielung ebendieses Tons A halten könnte, erweist sich in Mahlers an „Vokabeln“ (Hans Heinrich Eggebrecht) reicher Tonsprache als Referenz an die Dritte Sinfonie. Genauer bezieht sich das Harfenmotiv, wie Pensa gezeigt hat, auf deren fünften Satz, dem unter Einbezug von Knaben-, Frauenchor und Alt-Solo der Text „Es sungen drei Engel einen süßen Gesang“ aus der von Achim von Arnim und Clemens Brentano besorgten Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ zugrunde liegt. Vergleicht man die beiden Satzbeginne miteinander, so lässt sich das Harfenmotiv als Krebs des in der Dritten von Glocken und Knabenchor zu den lautmalerischen Worten „Bimm bamm bimm bamm“ vorgebrachten Viertonmotivs deuten. Die frühe Rezeption der Neunten bestätigt jenen intertextuellen Verweis. Von der erst nach Mahlers Tod, genauer am 26. Juni 1912 unter Bruno Walter in Wien, realisierten Uraufführung berichtete der Musikkritiker Julius Korngold sodann das Folgende: „In den tiefen Harfentönen, mit denen der Satz einsetzt, tönt Glockenklang.“ Auch jenseits des „Bimm bamm“-Motivs setzen sich die Bezüge zur Dritten Sinfonie fort. So schließt in der Neunten unmittelbar ein Hornmotiv an, das sich mit Pensa als Allusion an das ebenfalls von den Hörnern vorgetragene Hauptthema des ersten Satzes der Dritten verstehen lässt. Zwar differiert die harmonische Einbettung – in der Dritten steht das Thema in d-Moll, der Beginn der Neunten jedoch leitet dominantisch nach D-Dur –, doch weisen Intervallstruktur und rhythmische Kontur merkliche Parallelen auf. Zusätzlich plausibel wird jene Form der distanzierenden Bezugnahme mit Blick auf die Instrumentation. Während die Dritte „Kräftig. Entschieden“ anhebt und diesen Gestus dadurch untermauert, dass das Thema gleich von acht Hörnern unisono vorgetragen wird, verbleibt die Allusion am Beginn der Neunten solistisch im zweiten Horn.
Noch dazu macht Mahler vom markanten gestopften Hörnerklang Gebrauch, den er alsbald in einen offenen überführt, wobei dieser in der Partitur wörtlich als „Echo“ ausgewiesen wird. Das Resultat, die feinsinnige instrumentatorische Neubelichtung des Motivs, macht in nuce bereits deutlich, was Mahler damit gemeint haben mag, „alles in einem so neuen Lichte“ zu sehen.
Unsterblichkeit der Seele und künstlerische Potenz
Den wundersamsten Teil des besagten Briefes an Bruno Walter bildet der folgende Passus: „ich würde mich manchmal gar nicht wundern, wenn ich plötzlich einen neuen Körper an mir bemerken würde. (Wie Faust in der letzten Szene.)“ Vordergründig scheint sich hierin die im Umkreis der Wiener Schule verfochtene Deutung der Neunten zu spiegeln, hielt Theodor W. Adorno das Werk doch für „todverfallen“, hörte Alban Berg gar den „Tod in der Rüstung“ klappern und postulierte Arnold Schönberg, in der Neunten würde die Auflösung des Komponistensubjekts evident: „Dieses Werk ist nicht mehr im Ich-Ton gehalten“. Der von Mahler gesetzte Bezug zu Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ offenbart jedoch eine weniger pessimistische Deutungsoption, die zurück auf das philosophische Gebäude der Achten Sinfonie verweist. Die Schlüsselstelle vertont Mahler dortselbst. Nachdem Engel die Seele des zu Grabe gelegten Faust oder, wie es bei Goethe heißt, „Faustens Unsterbliches“ dem Teufel geraubt haben, besingt Gretchen dessen „neuen“, nun himmlischen „Körper“: „Sieh, wie er jedem Erdenbande der alten Hülle sich entrafft, und aus ätherischem Gewande hervortritt erste Jugendkraft!“
Obwohl um den Preis des physischen Todes verlangt, kann die hier zu Werke schreitende, schließlich im „Chorus mysticus“ besungene Macht des „Ewig-Weiblichen“ wohl kaum pessimistisch gedeutet werden. Vielmehr belegt ein Brief an Alma aus dem Juni 1909, wie sehr Mahler selbst jener optimistischen Vision der Unsterblichkeit verhaftet war: „Das, was uns mit mystischer Gewalt hinanzieht, was jede Kreatur, vielleicht sogar die Steine, mit unbedingter Sicherheit als das Zentrum ihres Seins empfindet, was Goethe hier […] das Ewig-Weibliche nennt – nämlich das Ruhende, das Ziel […] – Du hast ganz recht, es als die Liebesgewalt zu charakterisieren. Es gibt unendlich viele Vorstellungen, Namen dafür. (Denke nur, wie es das Kind, das Tier, wie es ein niederer oder ein hoher Mensch lebt und webt).“ Die Vorstellung des „Ewig-Weiblichen“ oder der „Liebesgewalt“ als alle Lebensformen durchwirkende Kraft gemahnt deutlich an das zunächst projektierte, dann jedoch zurückgezogene Programm der Dritten Sinfonie. Schreiten die Sätze der zweiten Abteilung demgemäß die Stufen des Daseins von den „Blumen auf der Wiese“ über die „Tiere im Wald“ bis hin zum Menschen und den Engeln ab, so nimmt es nicht Wunder, dass das Adagio-Finale einst den Titel „Was mir die Liebe erzählt.“ tragen sollte. Der Musikwissenschaftler Constantin Floros hat gezeigt, dass sich Mahler mit jenem avisierten Programm der Dritten auf den Schriftsteller Siegfried Lipiner bezog, der 1894 nicht zufällig mit einer Arbeit „über Faust und die Philosophie Goethes“ promoviert wurde. Quasi aus Lipiners Händen scheint Mahler Goethes Geist empfangen zu haben, wenn er in der Achten genau jene Schlussszene des „Faust“ vertont, die Goethes Vorstellung von der sogenannten Entelechie am deutlichsten hervortreten lässt. Der auf Aristoteles zurückgehende Begriff der Entelechie bezeichnet dabei eine nicht religionsgebundene Vorstellung, die näherungsweise mit dem Begriff der Seele gleichzusetzen ist. Wie sein Vertrauter Johann Peter Eckermann überliefert, ging Goethe fest vom Fortbestand der menschlichen Entelechie jenseits des physischen Ablebens aus: „Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer“, soll Goethe im September 1829 bekannt haben, „denn die Natur kann die Entelechie nicht entbehren“. Der Nachsatz jedoch bringt eine beträchtliche Eingrenzung: „Aber wir sind nicht auf die gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muss man auch eine sein.“
Der hierin verbürgte Glaubenssatz, dass man sich die eigene „Fortdauer“ auch verdienen müsse, macht letztlich deutlich, wie eng der Entelechie- mit dem Genie-Begriff verbunden ist. Und dies nicht nur bei Goethe, denn auch Mahler ging davon aus, dass die Unsterblichkeit der Seele an die genialische Schöpferkraft geknüpft sei – nicht umsonst beginnt die Achte mit dem Pfingsthymnus „Veni creator spiritus“ („Komm, Schöpfer Geist“). Im gleichen Brief an Alma formuliert er sodann: „Der Mensch – und alles Wesen wahrscheinlich – [ist] unaufhörlich produktiv. – Auf allen Stufen geschieht dies unzertrennlich vom Wesen des Lebens: wenn die Produktionskraft versiegt, so stirbt die ‚Entelechie‘, d. h. sie muss einen neuen Leib erhalten“. Wenn Mahler in der Entstehungszeit der Neunten die Neubelichtung des eigenen Schaffens mit der faustischen Vision, „einen neuen Leib [zu] erhalten“, engführt, zeugt dies folglich nicht von Resignation, sondern formuliert die Gewissheit der eigenen künstlerischen Potenz. Oder wie er selbst gegenüber Alma bekundet: dem „Ewig-Weiblichen“ steht auch immer das „ewige Sehnen, Streben“, das „Ewig-Männliche“ zur Seite.
Weltabschied und erotisches Potential
Abseits der aus heutiger Sicht freilich höchst problematischen Genderung bahnt die für Mahler evidente Gleichsetzung des „Ewig-Weiblichen“ mit Almas Begriff der „Liebesgewalt“ einen bislang unterschätzten Zugang zur Neunten Sinfonie. Wenn für Mahler das Genie als Verkörperung des „Ewig-Männlichen“ letztlich danach strebt, in die Sphäre des „Ewig-Weiblichen“, der „Liebesgewalt“ einzugehen, so trägt der in der Neunten formulierte Abschied durchaus erotische Züge. Was zunächst als freudianischer Gemeinplatz der Verschwisterung von Eros und Thanatos erscheinen mag, lässt sich in Mahlers Gesamtwerk differenziert und beziehungsreich nachvollziehen. Paradigmatisch vereint finden sich die einander vermeintlich so widerstrebenden Elemente des Weltabschieds und der Erotik im Rückert-Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Zumeist wird der Titel pessimistisch verstanden, doch greift dies bereits mit Blick auf das Gedicht zu kurz.
Abstrahiert man einmal vom rezeptionsgeschichtlichen Ballast, wird deutlich, welcher selbstbewussten Aussage das 1901 komponierte Lied zustrebt: „Ich leb’ allein in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied.“ Der hier besungene Weltabschied ist der eines Künstlers, der im doppelten Sinne um die eigene Potenz weiß. Dass Mahler sein Werk einst mit den bekenntnishaften Worten bedachte „Das ist Empfindung bis in die Lippen hinauf, die sie aber nicht übertritt! Und: das bin ich selbst“, leistet einer autobiografischen Lesart Vorschub, die durch die Zitation des Liedes im Adagietto der Fünften Sinfonie klarere Konturen gewinnt. „Dieses Adagietto war Gustav Mahlers Liebeserklärung an Alma!“, überliefert Willem Mengelberg in seiner Dirigierpartitur der Fünften. „Statt eines Briefes sandte er ihr dies im Manuskript; weiter kein Wort dazu. Sie hat es verstanden und schrieb ihm: Er solle kommen!!! (beide haben mir dies erzählt!)“
Sind es im Adagietto vor allem expressive Melodiesprünge und Kreuzmotive (Chiasmen), die den Tonsatz prägen, erweist sich andernorts der sogenannte Doppelschlag als Mahler’sche „Vokabel“ erotisch grundierten Weltabschieds. Als Doppelschlag bezeichnet man eine musikalische Figur, bei der der Hauptton sowohl mit der oberen als auch der unteren Nebennote umspielt wird. Prominent tritt er bei Mahler etwa im bereits erwähnten Adagio-Finale der Dritten Sinfonie – „Was mir die Liebe erzählt“ – in Erscheinung, besonders stark in der „sehr ausdrucksvoll und getragen“ zu spielenden Melodie, die nach wenigen Takten zunächst den Celli, darauf den zweiten Geigen überantwortet wird. Für den Beginn des Satzes prägend ist vor allem der polyphon geführte Streichersatz, Bläser treten erst später und sukzessive hinzu. Auf jene an Anton Bruckner gemahnende langsame Final-Architektur sollte Mahler erst wieder im Adagio der Neunten Sinfonie zurückkommen. Nachdem Doppelschlagfiguren hier bereits im dritten Couplet der Rondo-Burleske erklingen, hebt der vierte Satz der Neunten mit einem Oktavsprung in den unbegleiteten Geigen an, der den sogleich folgenden Doppelschlag unumwunden als Motto des Satzes exponiert. Im sich anschließenden Streichersatz bleibt der Doppelschlag omnipräsent und trägt zur polyphonen Verdichtung bei.
Zwar hat die Forschung mit einigem Recht darauf hingewiesen, dass die Doppelschlagfigur bereits im zitierten vierten „Kindertotenlied“ sowie im „Abschied“ aus dem „Lied von der Erde“ eine gewisse Rolle spielt. Nimmt man, neben der polyphonen Schreibweise und der oftmals trugschlüssigen harmonischen Einbettung, jedoch ernst, dass Mahlers Œuvre eine philosophische Konstellation formiert, in der Abschied und Tod aufs Engste mit erotischer Liebe verknüpft sind, so liegt ein anderes Vorbild nahe: Richard Wagners TRISTAN UND ISOLDE. Beredt ist vor allem der „Liebestod“, in dem Isolde den bereits im Orchester eingeführten Doppelschlag erstmals zu den Worten „Wonne klagend“ singt. Gleichsam als sei die Idee des „Liebestodes“ damit in der Welt, verdichtet sich im Orchestersatz der nun als Ostinato gebrauchte Doppelschlag zu den besungenen „Wellen sanfter Lüfte“, die Isolde ganz „in des Welt Atems wehendem All“ „ertrinken, versinken“ lassen. Wenn Mahler dem Adagio der Neunten mit den gleichen musikalischen Mitteln die Physiognomie eines letzten Werkes angedeihen lässt, scheint auch er die wogende Luft des TRISTAN zu atmen. So birgt der Weltabschied der Neunten nicht zuletzt ein erotisches Potential. Dies ist der Doppelsinn des Doppelschlags.