Vom doppelten Boden der ‚Moderne‘ - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
Vom doppelten Boden der ‚Moderne‘
Ein Essay von Tim Martin Hoffmann zum Konzert des Orchesters der Deutschen Oper Berlin im Konzerthaus Berlin mit Werken von Korngold, Berg und Zemlinsky
Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Schauplatz eines künstlerischen Aufbruchs in die ‚Moderne‘ zu bezeichnen, gehört zu den treffenden Gemeinplätzen. Eine Definition dessen, was genau ‚Moderne‘ sei, ist allerdings nur näherungsweise möglich. Blickt man auf die Vielzahl von Akteuren, die unter dem maßgeblichen Einfluss der aufkommenden Psychoanalyse Sigmund Freuds die eigene Zeit, das gesellschaftliche Leben sowie das psychische Innenleben reflektierten, so zeigt sich das Bild einer pluralen, von der öffentlichen Debatte geprägten kulturellen Landschaft. Vom Literatenkreis „Jung-Wien“ um Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal über die scharfzüngigen Feuilletons eines Karl Kraus bis hin zur Wiener Secession um Gustav Klimt und Egon Schiele – überall erweist sich die Beantwortung der Frage, was mit ‚Moderne‘ gemeint sei, als immerwährender Aushandlungsprozess. Genau dieses beständige Hinterfragen der eigenen Gegenwart wie des eigenen Standpunktes erscheint uns heute als das eigentliche Signum einer Zeit, die sich mit Recht ‚modern‘ nennen darf.
In der Musik ist dies nicht anders, gibt es doch auch hier nicht die eine ‚Wiener Moderne‘. Der vorschnellen Begriffsverengung auf den von Arnold Schönberg beschrittenen Weg zunächst in die sogenannte ‚freie Atonalität‘, schließlich in die Dodekaphonie wirkt ein geweiteter Blick auf das Wiener Musikleben der 1900er bis 1920er Jahre entgegen. Zeitgleich zu Schönberg und seiner heute so bezeichneten (Zweiten) Wiener Schule, zu der neben Alban Berg und Anton Webern auch der junge Hanns Eisler zählte, blieb Wien stets die Stadt der Klassiker-Pflege, der Strauß-Dynastie, des Walzers und der Operette. Mit beißender Kritik brandmarkte Julius Korngold als Musikreferent der Neuen Freien Presse all jene Tendenzen, die seinem reaktionären Weltbild widerstrebten. In Opposition zu der von ihm später prophezeiten Atonalen Götzendämmerung lagen seine Hoffnungen für die Musikgeschichte beinahe einzig auf seinem Sohn Erich Wolfgang Korngold.
War der Name des komponierenden Wunderkindes bereits 1910 in aller Munde, erkannte in ihm kein Geringerer als Karl Kraus das übergroße Sendungsbewusstsein des Vaters. Die Entscheidung, den Sohn mit zweitem Vornamen ausgerechnet Wolfgang zu nennen, unterstrich aus Sicht von Kraus die väterliche Agenda: Hier sollte der Welt ein neuer Mozart geschenkt werden, der den echten Mozart als „Pseudo-Korngold des achtzehnten Jahrhunderts“ in den Schatten stellt. Dass Erich Wolfgang zwar den Glauben an den Fortbestand tonalen Komponierens bewahrte, sich jedoch sukzessive vom Alleingeltungsanspruch des Vaters lossagte, ist nicht zuletzt seinem Unterricht bei Alexander von Zemlinsky zu verdanken. Ehe die Wahl auf den bereits fest in Wien etablierten Komponisten und Dirigenten fiel, holte Julius Korngold zunächst den Rat Gustav Mahlers ein, den mit Zemlinsky nicht nur das gemeinsame Wirken an der Wiener Hofoper, sondern auch die verhängnisvolle Liebe zu Alma Schindler verband. Als Mahler im Juni 1907 dem gerade zehnjährigen Korngold, der, wie seine Frau Luzi berichtet, „unter einer großen Matrosenkappe fast verschwand“, bei der pianistischen Darbietung eines eigenen Werkes lauschte, reagierte er begeistert: „‚Schicken Sie den Buben zu Zemlinsky‘, sagte er, ‚Zemlinsky wird ihm alles geben, was er braucht!‘“
Alexander von Zemlinsky, der Korngold schließlich zwischen 1907 und 1910 in Musiktheorie, Komposition und Klavier unterrichtete, weist als Schwager und Freund eine beträchtliche biographische Nähe zu Arnold Schönberg auf; dessen Weg in die ‚freie Atonalität‘ und die Dodekaphonie teilte er jedoch nicht. Machte er Schönberg 1903 mit Mahler bekannt und wurde er nach seiner Übersiedlung 1922 Präsident des Prager Vereins für musikalische Privataufführungen, der Dependance von Schönbergs Wiener Verein, so blieb seine musikästhetische Position doch von derjenigen des Schwagers unterschieden. Symbolträchtig ist hier unter anderem ein Vorkommnis des Jahres 1926, das den zwischenzeitlichen Bruch zwischen Schönberg und seinem Schüler Hanns Eisler betrifft. Auf einer gemeinsamen Zugfahrt offenbarte Eisler gegenüber dem letztlich nicht schweigsamen Zemlinsky seinen Unmut über Teile von Schönbergs Kunstanschauung. Dass Eisler dabei gemäß eines späteren Briefes an Schönberg verlautbarte, „mit der ‚Moderne‘ nichts zu tun haben“ zu wollen, stieß bei Zemlinsky auf offene Ohren. So mokierte sich Schönberg vor allem darüber, dass Eisler seine Vorbehalte ausgerechnet bei Zemlinsky und damit dort äußerte, „wo das“, was er sagte, „mit großem Beifall aufgenommen werden konnte“. Neben ästhetischen Differenzen speiste sich der „Beifall“ des Schwagers offenbar auch aus der kritischen Haltung, die er aus der Huldigung Schönbergs durch dessen übrige Schüler gewann.
„Das Genie wirkt von vornherein belehrend. Seine Rede ist Unterricht, sein Tun ist vorbildlich, seine Werke sind Offenbarungen.“ – Mit diesen in Stein gemeißelten Worten hebt Alban Bergs 1912 erschienene Charakterisierung des Lehrers an. Stellte sich Bergs Kontakt zu Schönberg im Herbst 1904 zunächst im Rahmen der an der reformpädagogischen Schule von Eugenie Schwarzwald angebotenen „Musiktheoretischen Kurse“ ein – Schönberg unterrichtete hier Harmonielehre und Kontrapunkt, Zemlinsky Instrumentation und Formenlehre –, wechselte er jedoch rasch in den Status eines Privatschülers, von dessen Talent in der Behandlung von Singstimmen und im Umgang mit Kontrapunktik der Lehrer alsbald angetan war. Dass Berg bei aller Verehrung auch eigene Wege beschritt und sich, wie er Schönberg gegenüber einmal bei der Arbeit an seiner, übrigens Zemlinsky gewidmeten, „Lyrischen Suite“ bekundete, „zwischendurch Rückfälle in meine altgewöhnte freie Schreibweise“ erlaubte, zeugt von einem undogmatischen Umgang mit den neuen Kompositionstechniken. Jene „Rückfälle“ und Rückgriffe sogar auf dur-moll-tonale Elemente sind es schließlich, die Bergs musikalische Selbstreflexion auszeichnen und die Pluralität der musikalischen ‚Moderne‘ widerspiegeln.
© Marcus Lieberenz
Vom Schein gesellschaftlicher Repräsentation
Erich Wolfgang Korngolds Suite aus der Musik zu Shakespeares „Viel Lärmen um Nichts“ op. 11
Dass die Wiener Volksbühne 1918 eine Neuproduktion von William Shakespeares „Much Ado About Nothing“, in der zeitgenössischen Übersetzung von Adolf von Wilbrandt als „Viel Lärmen um Nichts“, projektierte, mag zweierlei Beweggründe haben. Zum einen konnte Shakespeares Stück über den allzu blendenden Schein als kritischer Rückblick auf die Repräsentationskultur des soeben niedergegangenen Habsburgerreiches verstanden werden. Zum anderen mag gerade der Witz, mit dem Shakespeares Komödie die Untiefen doppelter Böden auslotet, als geeigneter Kontrast zur angespannten gesellschaftlichen Lage nach dem Ersten Weltkrieg gewirkt haben. Trotz aller äußeren Unwägbarkeiten erging 1918 der Auftrag einer Schauspielmusik an Erich Wolfgang Korngold, der, ungeachtet seiner ersten großen Erfolge, im Vorjahr selbst zum Militär, dabei zum eigenen Glück jedoch zur Regimentsmusik eingezogen worden war. Bei der Komposition der letztlich vierzehn Nummern umfassenden Schauspielmusik rechnete Korngold mit einem zwar nicht symphonisch – inklusive Harmonium, Klavier und diverser Schlaginstrumente – jedoch recht groß besetzten „Kammer-Orchester“, um schließlich festzustellen, dass die projektierte Volksbühnenproduktion aus heute unbekannten Gründen nicht stattfand. Erst im Mai 1920 ergab sich die Gelegenheit zur Aufführung, als das Burgtheater eine entsprechende Produktion im Schlosstheater von Schönbrunn realisierte. Ein bestens geeignetes Orchester stand allerdings nur bei der Uraufführung bereit, danach musste Korngold die Wiener Philharmoniker zunächst gegen das damals offenbar sehr mäßige Burgtheater-Orchester eintauschen, ehe ihm auch dieses aufgrund anderweitiger Verpflichtungen entzogen wurde. Kurzerhand erstellte Korngold eine Fassung für Geige und Klavier, die er an den folgenden Abenden zusammen mit dem Geiger Rudolf Kolisch selbst realisierte. Allein für die Hornpipe, Korngolds Adaption eines typisch britischen Rundtanzes des 16. Jahrhunderts, engagierte er den ersten Hornisten der Philharmoniker, den er, wie Luzi Korngold berichtet, „mit einer Zigarre ‚bestochen‘“ hatte, „an seinem freien Abend in Schönbrunn die ‚Hornpipe‘ zu blasen“. Um Teile der Schauspielmusik auch unabhängig von den organisatorischen Schranken der Bühnen aufführen zu können, band Korngold schon im Vorfeld zur Schönbrunner Uraufführung fünf Nummern zu einer Suite zusammen, die er bereits im Januar 1920 unter großem Beifall in Wien präsentierte.
© Marcus Lieberenz
Um den doppelbödigen Gehalt der mit Witz gespickten und mit subtiler Erotik getränkten Suite zu verstehen, bedarf es nicht zwingend einer genauen Kenntnis der Handlung von Shakespeares Komödie. Bezeichnenderweise kehrt Korngold im Vergleich zur Schauspielmusik sogar die Reihenfolge der Nummern zwei bis fünf um. Das Resultat ist ein fünfsätziges Werk, das sich gleichermaßen am traditionellen Begriff der Suite als einer Folge von Tänzen wie an der symphonischen Großform orientiert. Gerahmt von zwei bewegten Ecksätzen, der Ouvertüre und der Hornpipe, lässt sich die zweite Nummer, Mädchen im Brautgemach, als langsamer Satz, die dritte, Holzapfel und Schlehwein (Marsch der Wache), dagegen als burleskes Scherzo verstehen, das im „Zeitmaß eines grotesken Trauermarsches“ deutlich an das Vorbild Gustav Mahler gemahnt. Die dritte Nummer wird komplementiert durch das anschließende Intermezzo (Gartenszene), das im Sinne eines dem Scherzo zugehörigen elegischen Trios zunächst nur mit drei Instrumenten, mit Harfe, Klavier und Cello, anhebt. Den stilistischen Spagat zwischen höfischer Repräsentation und den Subtexten von Witz und Erotik macht schon die Ouvertüre deutlich. Gleich zu Beginn lüftet Korngold mit einem durch Halbtonreibungen geschärften, dissonanten Akkord den doppelten Boden, ehe, als sei nichts gewesen, ein beschwingtes Thema einsetzt, das in seinem zugleich tänzerischen wie fanfarenartigen Duktus eine historische Couleur versprüht.
Groteske Bläsereinwürfe, die den Gestus der dritten Nummer vorwegnehmen, brechen die historisierend-repräsentative Aura auf, genauso wie Anklänge an die Venusbergmusik aus Wagners TANNHÄUSER jenes subversive erotische Potential andeuten, das die Nummern zwei und vier kennzeichnet.
Gegen den Strom des Materialfortschritts
Alban Bergs Sieben frühe Lieder
Als sich Alban Berg im Herbst 1928 an die Revision und Orchestration seiner in den Jahren 1904 bis 1908 komponierten „Sieben frühen Lieder“ machte, war die musikalische Welt eine andere geworden. Längst vergangen war Schönbergs Aufbruch in die ‚freie Atonalität‘, aktuell dagegen die kompositorische Erprobung seiner Anfang der 1920er Jahre entwickelten Zwölftonmethode. Auch Berg hatte diesen Entwicklungen Rechnung getragen, doch einen orthodoxen Glauben an den von seinem Privatschüler Theodor W. Adorno vielfach postulierten Materialfortschritt sucht man in Bergs Œuvre vergebens. Adornos publizistische Reaktion auf die Herausgabe der „Sieben frühen Lieder“ ist hier besonders sprechend. Um den Widerspruch des Lehrers gegen die von ihm verfochtene These, das Ablegen der zur Floskel verkommenen Tonalität sei historisch notwendig und irreversibel gewesen, zu kaschieren, ringt Adorno in einem Beitrag von 1929 spürbar nach Worten: Die „nachträgliche Herausgabe eines Frühwerks durch den Autor“ sei zwar niemals „historisch“ zu rechtfertigen, „sachlich“ jedoch „allemal“, wenn sich hieran ein entscheidender Entwicklungsschritt des Komponisten aufzeigen ließe. Treffsicherer charakterisiert er in der Folge die stilistische Verortung der „Sieben frühen Lieder“ an der Schwelle zwischen einer aus dem 19. Jahrhundert herkommenden freien Behandlung der Tonalität und dem beginnenden Unterricht bei Schönberg, dessen Früchte in den Liedern bereits „keimhaft verschlossen“ lägen. Der darüber hinaus aufgezeigte Grundaffekt der Zartheit oder, in Adornos Worten, der „Scham“, mit der ein Knabe die im Text mit Händen zu greifende Erotik vertont habe, führt autobiographisch tief in das Wesen jener Lieder, die Berg teils unter dem Eindruck der aufkeimenden Liebe zu seiner späteren Frau Helene schrieb; ihr ist die Publikation von 1928 schließlich gewidmet.
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Alle sieben vertonten Gedichte sprechen unterschiedliche Facetten von Liebe an: die angespannte Vorahnung („Nacht“), Sehnsucht auf Distanz („Schilflied“), die amouröse Erweckung („Die Nachtigall“), die Erfüllung romantischen Sehnens („Traumgekrönt“), die häusliche Zweisamkeit („Im Zimmer“), die berauschenden Wogen der Erotik („Liebesode“) sowie die Frage nach der Moment- und Dauerhaftigkeit von Lust („Sommertage“). Für all diese Facetten findet Berg eine je eigene Tonsprache, die wesentlich von der unterschiedlichen Auslotung der Tonalität getragen ist. Während das weitestgehend in B-Dur gehaltene Lied „Im Zimmer“ die geschilderte bieder-gemütliche Stimmung am heimischen Ofen versinnbildlicht, knüpft exemplarisch das Lied „Nacht“ an die erweiterte, chromatisierte Harmonik von Wagners TRISTAN an. Dass sich Berg bereits in diesem ahnungsvollen ersten Lied der Wagner’schen Stilistik bedient, ist schon angesichts der textlichen Allusion des Schlussverses „O gib acht! Gib acht!“ an Brangänes „Habet acht!“-Rufe einsichtig. Darüber hinaus macht die Instrumentation die geistige Verwandtschaft zwischen der verhängnisvollen Erotik des TRISTAN und der von Freud postulierten Verbindung von Eros und Thanatos deutlich, wenn Berg ganz an das Ende einen Tamtam-Schlag setzt – ist das Tamtam in der Musik des frühen 20. Jahrhunderts doch als Symbol des Todes besetzt, dies nicht nur in Mahlers Symphonik und Bergs eigener Oper WOZZECK, sondern ferner auch in Zemlinskys FLORENTINISCHER TRAGÖDIE.
Vom psychischen Innenleben des Fragment
Alexander von Zemlinskys EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE op. 16
Dass Oscar Wilde im Mai 1895 wegen seiner als „Unzucht“ apostrophierten homosexuellen Neigungen zu zwei Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt wurde, wirft nicht nur ein denkbar schlechtes Licht auf die europäischen Gesellschaften an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Erhebliche Konsequenzen zeitigte das Urteil auch auf die Überlieferung seines seit 1893 projektierten Renaissance-Einakters „A Florentine Tragedy“, war dessen Manuskript doch kurz nach Wildes Inhaftierung nicht mehr auffindbar. Während der als Nachlassverwalter eingesetzte ehemalige Geliebte Robert Ross zunächst von einem Diebstahl ausgehen musste, stellte sich erst nach Wildes Tod heraus, dass einer seiner Gläubiger das Manuskript in Selbstjustiz als Pfand beschlagnahmt hatte. Tauchte eine weitere Abschrift der Tragödie zwar etwas früher, jedoch ebenfalls erst posthum in seinem Nachlass auf – sie war in Entwürfe zu „The Dutchess of Padua“ eingeschlagen –, blieb es dem Autor schließlich verwehrt, das Stück fertigzustellen. Wie es Max Meyerfeld im Vorwort zu seiner deutschen Übersetzung von 1907 pointiert, handelt es sich bei Wildes Stück sodann um „ein Fragment – merkwürdigerweise ein Fragment am Beginn, nicht wie sämtliche Torsi der Weltliteratur ein Fragment am Schluss“.
© Marcus Lieberenz
Den Wirren des Jahres 1895 zum Opfer fiel die ursprünglich als Eröffnung geplante Liebesszene zwischen der bürgerlichen Bianca und dem florentinischen Hochadligen Guido Bardi. Als der despotische Hausherr Simone von schlechten Geschäften mit den von ihm feilgebotenen Kostbarkeiten heimkehrt, verwickelt er den unerwarteten Gast zunächst in ein ausführliches Verkaufsgespräch. Wie peu à peu zum Vorschein kommt, hat dieser allerdings bloß Augen für die von Simone als Dienstmagd abgestempelte Bianca. Ab welchem Moment genau dem Hausherrn klar ist, dass ihm die Rolle des gehörnten Dritten zukommt, lässt Wildes Stück weitestgehend offen. Spätestens als Simone eines roten Fleckes auf dem Tischtuch gewahr wird, verdichten sich allerdings jene Anzeichen, die letztlich zum Duell der beiden Männer führen. Wünscht sich Bianca während des Kampfes, Guido möge ihren Gatten umbringen, geht das Duell jedoch umgekehrt aus: Guido fällt und Bianca läuft Simone, „wie geblendet von einem Wunder, mit ausgebreiteten Armen“ entgegen. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du so stark?“, fragt sie. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du so schön?“, entgegnet er und „küsst sie auf den Mund“.
Seit 1911 auf der Suche nach einem geeigneten Stoff für eine neue Oper, stieß Alexander von Zemlinsky im Frühjahr 1915 auf jenen Einakter mit dem fehlenden Beginn und dem so unerwarteten Schluss. Hatte Richard Strauss Ende 1905 mit seiner SALOME das Erfolgspotential symphonisch besetzter Wilde-Opern aufgezeigt, machte sich Zemlinsky rasch und mit Elan an die Arbeit. Als Ende Juli das Particell kurz vor seiner Fertigstellung stand, teilte er dem Schwager Schönberg zufrieden mit: „Es fliesst mir leicht alles zu, geht mir technisch ganz leicht von der Hand u[nd] ich habe schliesslich das Gefühl, daß ich was Gutes gemacht habe.“ Dass sich EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE, auch jenseits einer in die Bühnenhandlung integrierten Laute, ähnlich gut zur Vertonung eignete wie die SALOME, scheint schon Oscar Wilde vorausgesehen zu haben. In seinen unter dem Titel „De profundis“ veröffentlichten „Aufzeichnungen und Briefen aus dem Zuchthaus in Reading“ reflektiert er mit Bezug auf Shakespeares „The Tempest“ das eigene Schicksal mit den Worten: „Mein Platz als Künstler war an der Seite Ariels. Ich liess es mir indes angelegen sein, mit Caliban zu ringen. Anstatt prachtvoll farbige, musikalische Werke zu schreiben, wie ‚Salome‘, die ‚Florentinische Tragödie‘ und ‚La Sainte Courtisane‘, sah ich mich gezwungen, lange juridische Briefe zu verschicken […].“
Weder am Farbenreichtum noch an der Musikalität von Wildes Tragödie lässt Zemlinskys Oper irgendeinen Zweifel. Nicht nur, dass Zemlinsky die synästhetische Beschreibung der edlen Stoffe in den schillerndsten Farbnuancen instrumentiert – auch deutet er Simones Leidenschaft für die eigenen Waren durch einen formalen Kunstgriff als erotisches Begehren. Bei der Schilderung des „Luccaner Damast[es]“ zitiert er, wie Antony Beaumont herausgestellt hat, aus dem betörend aufwallenden Orchestervorspiel, das seinerseits kaum anders denn als auskomponierter Liebesakt gedeutet werden kann. Die in Wildes Manuskript fehlende erste Szene zwischen Bianca und Guido verlegt der Komponist in den Orchesterapparat, evoziert sie als ekstatische Steigerungswelle, deren Tempobezeichnungen sprechend sind: „Feurig stürmend, nicht allzu schnell“, „Rauschend“, „in fortwährender Steigerung“, bis hin zur Klimax „immer drängender“, um schließlich nach einem großen Ritardando dem Geschehen „Langsam, träumend“ nachzusinnen. Wie die Musik folglich das Innenleben des Fragments beleuchtet, indem sie die erotischen Vorgänge der fehlenden Szene explizit macht, leistet die Komposition insgesamt einer psychologischen Lesart der Tragödie Vorschub. Deutet Wildes Text im Bild des rot befleckten Tischtuches an, dass hier eine Defloration stattgefunden haben mag, steuert die Oper unumwunden auf eine psychoanalytische Erklärung der rätselhaften Schlussszene zu. Wenn Bianca die Wunde des angeblich vom Licht der Fackel geblendeten Simone verbindet, die Rivalen dann bei gelöschtem Licht die edlen Schwerter gegen listige Dolche eintauschen, gemahnt dies an die Psychologie von Wagners TRISTAN. Ähnlich, wie die mit Heilkünsten begabte Isolde am Ende des ersten TRISTAN-Aktes zum vermeintlichen Todestrank greift, muss Bianca bei völliger Dunkelheit den eigenen Tod fürchten, als Simone ausruft: „Lösch aus die Fackel, Bianca! Nun, mein Herrchen, nun bis zum Tod des einen oder beider, vielleicht gar aller Dreie!“ In der nächtlichen Überlagerung von Eros und Thanatos entflammt Bianca schließlich für ihren verhassten Mann. Was im TRISTAN der Liebestrank, bewirkt in der FLORENTINISCHEN TRAGÖDIE ein Dolchstoß.
Tim Martin Hoffmann, geboren 1996 in Koblenz, studierte Musikwissenschaft und deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er seit August 2022 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Erich Wolfgang Korngold Werkausgabe ist. Seine Forschungsinteressen gelten der Musik des 18. bis 20. Jahrhunderts, insbesondere dem Musiktheater sowie Fragen der Intermedialität von Literatur und Musik.