Von unerhörter tragischer Dringlichkeit - Deutsche Oper Berlin
Von unerhörter tragischer Dringlichkeit
Regisseur Vasily Barkhatov über seine Arbeit an L’INVISIBLE
Herr Barkhatov, wann haben Sie zum ersten Mal etwas von Aribert Reimann gehört?
Das war schon recht früh, während meines Studiums in Russland. Ich suchte damals für eine Theaterproduktion Musikausschnitte und stieß dabei auf sein Requiem. Seine Musik hat mich dann so gefesselt, dass ich mir alle damals verfügbaren Mitschnitte seiner Opern besorgt habe – vor allem natürlich den LEAR in der Münchner Uraufführungsproduktion mit Fischer-Dieskau.
Was ist für Sie das Besondere an Reimanns Musiksprache?
Für mich ist Reimann einer der wenigen echten Musikdramatiker. Man kann ihn in dieser Hinsicht gut mit Janácek vergleichen: Bei beiden ist jeder Takt der Musik dem Ausdruck innerer Gefühle verpflichtet. Alles ist bei ihnen Psychologie und die inneren Zustände der Figuren werden mit einer seismografischen Genauigkeit abgebildet, die einerseits an eine medizinische Bestandsaufnahme erinnert, aber durch das extrem Private, Intime des Gegenstands auch eine unerhörte tragische Dringlichkeit schafft. Das liegt vielleicht auch daran, dass man in der Musik immer den Komponisten selbst mit seinem Schmerz und seiner Trauer spürt.
An Janácek erinnert bei Reimann auch der Umgang mit den Vorlagen der Opern. Beide sind Meister im extremen Verknappen.
Das trägt natürlich sehr zur Klarheit und Unmittelbarkeit des Erzählens bei. Reimann versteckt nichts und er illustriert nichts – man könnte L’INVISIBLE im Extrem auch so inszenieren, dass die Figuren nur dasitzen und bewegungslos ins Publikum starren. Auch dann würde man noch genau all die Emotionen wahrnehmen, die in ihnen vorgehen, weil die Musik keine äußere, sondern nur innere Handlung wiedergibt.
Während der Vorbereitung zu L’INVISIBLE sind Sie Vater einer Tochter geworden. In der Oper geht es um Geburt und Tod eines Kindes. Beeinflusst einen so etwas?
Ich habe immer versucht, objektiv zu bleiben und keine abergläubischen Gedanken aufkommen zu lassen. Aber ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich meinem Bühnenbildner die Requisitenliste vorlas, in der auch von den verschiedenen Todesarten die Rede ist, durch die Kinder zu Tode kommen: Einer ertrinkt, der nächste fällt vom Balkon, der dritte stirbt im brennenden Auto. Da wurde mir dann doch ziemlich mulmig.
Sie sind in Russland geboren und aufgewachsen. Sehen Sie sich auch als russischen Regisseur?
Natürlich. Auch wenn die russischen Opernregisseure meiner Generation – und damit meine ich auch diejenigen, die wie Dmitri Tcherniakov und Kirill Serebrennikov ein paar Jahre älter sind als ich – alle das Musiktheater deutscher Prägung lieben. Wir haben alle unser Studium damit verbracht, die Videos von Harry Kupfer, Jossi Wieler und anderen zu sehen, und ich bin immer wieder nach Berlin gekommen, um Oper anzuschauen. Mit 18 durfte ich bei den Proben zu Konwitschnys DON GIOVANNI an der Komischen Oper hospitieren und das gehört zusammen mit Tcherniakovs Produktion von Strawinskijs THE RAKE’S PROGRESS zu den beiden Theaterereignissen, die mein Leben verändert haben.
Nun sind Sie international erfolgreich, aber vor allem im deutschsprachigen Raum präsent.
Ich gehe einfach dahin, wo man mich einlädt – und das sind derzeit vor allem Deutschland und die Schweiz. Ich wurde zwar bei meinen Arbeiten in Russland nie zensiert oder behindert, doch andererseits habe ich das Gefühl, mich durch meine Arbeiten in Deutschland weiterentwickelt zu haben. Und vieles von dem, was mir vorschwebt, wäre derzeit in Russland wohl einfach nicht möglich.
Die Fragen stellte Jörg Königsdorf