Was mich bewegt

Wer bezwingt hier wen?

Eine französische Anthropologin wird von einem Bären gebissen und schwer verletzt. In Berlin erleben lebendige Wappentiere die Nazizeit, Weltkrieg, DDR und Wende. Regisseurin Franziska Angerer macht daraus ein Musiktheater: BÄR*IN

Das Anthropozän ist das Zeitalter, in dem die Menschheit den dominanten Einfluss auf die Erde ausübt. Schon lang interessieren mich Theorien, die darüber hinausgehen und unsere Vormachtstellung als Spezies hinterfragen: Denksysteme, die davon ausgehen, dass wir alle zusammen handeln in dieser Welt, Pflanzen, Tiere, nicht-menschliche Akteure jeder Art. Ein Gedanke, der mich auch in der Kunst umtreibt.

Zusammen mit der Dramaturgin Carolin Müller-Dohle bin ich auf das Buch »An das Wilde glauben« der französischen Anthropologin Nastassja Martin gestoßen. Martin beschreibt darin eine Reise nach Kamtschatka, eine Halbinsel in Ostsibirien. Hier begegnet sie nicht nur Menschen, sondern auch einem Bären. Das mag idyllisch klingen, endet aber schmerzhaft. Der Bär fällt sie an, zerfetzt Teile ihres Gesichts, sie schildert eindrücklich, wie sie seinen Atem spürt, ihn riechen kann, intim, fast wie bei einem Kuss. Martin wird in Russland operiert, die Chirurgen rekonstruieren ihren Kiefer, setzen eine Schiene ein. Zurück in Frankreich erklären dort die Ärzte, sie sei falsch versorgt worden, und operieren komplett neu. Sie vergleicht das mit dem kalten Krieg, der auf ihrem Gesicht ausgetragen wird.

Das Faszinierende an Martins Schilderungen: Das Erlebte fasst sie nie als Trauma auf. Sie beschreibt es als eine Neugeburt, als Beginn einer Verwandlung – im Geiste der indigenen Völker Kamtschatkas begreift sie sich als Zwischenwesen aus Bärin und Frau.

Dieses Hybride prägt auch unseren Abend BÄR*IN in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin. Sowohl inhaltlich als auch formal. Wir bringen Martins Schilderung nicht chronologisch auf die Bühne, sondern als Erfahrungsprisma. Ein Body-Art-Performer, zwei Sänger*innen des Hauses, eine Schauspielerin, die Textpassagen vorträgt, machen die Ebenen des Berichts erlebbar: die physische, die emotionale, die sachliche.

Hinzu kommt ein zweiter Strang, den wir mit den Martin-Motiven clashen lassen: die Geschichte der Berliner Stadtbären. Noch bis 2015 haben Braunbären im sogenannten Bärenzwinger im Köllnischen Park gelebt, im ehemaligen Ostteil der Stadt. Die ersten Bären zogen dort 1937 ein – ein Geschenk der Nationalsozialisten, lebende Wappentiere, Verkörperung von Stärke.

Drei von ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff getötet, einer überlebte. Nach dem Krieg zogen neue Bären ein, in den folgenden Jahrzehnten war der Zwinger durchweg bewohnt, in den 1980ern gab es einen regelrechten Hype um die Bären und ihren Nachwuchs, die Ost-Berlinerinnen und -Berliner konnten Vorschläge für die Namen der Jungtiere machen.

Natürlich war die Haltung auf dem viel zu kleinen Areal im Köllnischen Park durchweg missbräuchlich, unfassbar trist. Aber die Bären wurden auch Zeugen von Stadtgeschichte, haben den Krieg, den Mauerbau und die Wiedervereinigung erlebt. Diese Perspektive interessiert uns. Die Tiere werden zu Akteuren – in Gestalt einer dreiköpfigen Band in Bärenkostümen.

Die Bären erzählen ihre Biografie über Songs, in denen sich der Wechsel der Jahrzehnte spiegelt. Von Chansons der 1930er über Neue Deutsche Welle bis zu Techno und Hip Hop. Dadurch wird BÄR*IN auch in musikalischer Hinsicht hybrid. Die Musik von Arne Gieshoff ist mehrschichtig: Zwei Sänger*innen, ein sechsköpfiges Instrumentalensemble und elektronisch erzeugte Klänge bilden, mit Martins Texten, das Rückgrat des Abends. Etwa zur Mitte des Stücks fällt die Bär*innen-Band ein und erzeugt einen Bruch. Gieshoff, mit dem ich schon mehrfach zusammengearbeitet habe, komponiert musikalische Traumbilder, die Martins autobiographische Erzählung nachzeichnen und eigene Räume eröffnen. In diese Stimmung grätschen die Stadtbären mit ihren Songs – und am Schluss treffen beide Stile aufeinander, verschmelzen sozusagen zu einem musikalischen Zwischenwesen.

Franziska Angerer wurde 2021 mit dem Dr.-Otto-Kasten-Preis des Deutschen Bühnenvereins ausgezeichnet. BÄR*IN ist ihre erste Arbeit für die Deutsche Oper Berlin © Agentur Focus, Konrad Fersterer
 

Mich beschäftigt die Frage, wohin es führt, wenn jedes Individuum nur für sich selbst kämpft. Wir spüren doch, dass wir in einer unbedingten Abhängigkeit von unserer Umwelt leben, nicht getrennt von ihr. Wobei diese Verflechtung nicht gleich Harmonie ist. Sie kann – wie bei Martin – in letzter Konsequenz auch bedeuten, selbst Beute zu werden. Das ist kein romantischer Gedanke, sondern ein radikaler. Und dennoch hat er für mich etwas Tröstliches.

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