Wer macht Geschichte? - Deutsche Oper Berlin

Was mich bewegt

Wer macht Geschichte?

Sind es einzelne Herrscher, die den Lauf der Welt bestimmen? Oder Gesellschaften? Ein Essay über Macht und Veränderung anlässlich der Verdi-Oper SIMON BOCCANEGRA – von Ante Jerkunica

Fiesco ist ein stolzer Mann, ein Patrizier aus der Oberschicht. Er ist stolz auf seine Wurzeln, seine Familiengeschichte und die Tradition der Stadt Genua. Nun soll ein Plebejer, ein Angehöriger der Unterschicht also, Oberhaupt der Stadt werden, nämlich Simon Boccanegra, der die Piraten an der Küste vertrieb und im Geist wohl selbst einer war. Nicht genug, will Boccanegra auch noch die Tochter Fiescos heiraten. Jetzt wird Fiesco, meine Figur, böse. Er schließt die Tochter ein, sie stirbt in der Gefangenschaft ihres Vaters. Das ist die Ausgangslage von Verdis Oper und man muss diese Situation so kurz und drastisch in Erinnerung rufen, um die Parallelen zu unserer Gegenwart deutlich zu machen. Zumindest so, wie ich sie sehe.

Einer der zentralen Konflikte des Westens verläuft entlang der Frage: Wie viel Experiment halten wir als Gesellschaft aus und wie rasch werfen wir die Tradition für den Wandel über Bord? Die totale Machtübernahme Boccanegras – der Stadt wie der Tochter – ist das Experiment, Fiesco steht dagegen für die Tradition. Doch Boccanegra kämpft nicht nur für die Erneuerung, die Öffnung der Gesellschaft für andere Schichten, es geht auch um schnöde Machtinteressen. Und ganz ähnlich blicke ich auf unsere zeitgenössischen Kulturkämpfe: Haben wir gute Alternativen bereit, wenn die Walze des Wandels einmal über vieles hinweggefahren ist?

Fiesco wird zum Gewalttäter, als er seine Tochter einschließt, gar keine Frage. Ich kann verstehen, dass seine Form der Macht weggeräumt werden soll. Er ist kein Vorbild mehr. Aber manchmal sind neue, unfertige Lösungen gefährlicher als die alten Strukturen, das ist der Widerspruch von so vielen Revolutionen, Umstürzen oder Befreiungskriegen.

Der kroatische Bariton Ante Jerkunica © Valentino Billic-Prcic
 

Die Zeit verändert die Sicht auf die Dinge, auch auf dieses Werk. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist zum Zeitpunkt dieses Textes etwas mehr als neun Monate alt. Wenn wir nun durch das aktuelle Kriegsfenster auf SIMON BOCCANEGRA schauen, stellt sich eine weitere entscheidende Frage: Wer macht eigentlich Geschichte? Sind es einzelne Akteure, die einsam politische Entscheidungen treffen und über Krieg und Frieden bestimmen, oder verdichten sich in diesen Akteuren bloß Tendenzen einer Zeit? Wir sehen, welch zerstörerische Folgen es haben kann, wenn ein Herrscher wie Putin versucht, seine Machtphantasien umzusetzen, und von längst überkommenen Prinzipien keinen Fuß breit abweicht. In seiner Psychologie der Macht ähnelt er Fiesco. Boccanegra wirkt vor diesem Hintergrund wie jemand, der Ruhe in den Staat bringen, den Krieg mit Venedig abwenden und die sozialen Schichten versöhnen möchte. Aber auch bei ihm stellt sich die Frage: Handelt er als Individuum, oder ist er Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung?

Auflösen können wir dieses Spannungsfeld in der Kunst nicht, aber wir können es zeigen Meine Herkunft aus dem ehemaligen Jugoslawien, dem heutigen Kroatien, hat mich stark geprägt, auch was diese Frage angeht. Ich bin sicher, dass die Geschichte auf dem Balkan in den neunziger Jahren anders verlaufen wäre, wären andere Figuren an der Macht gewesen als etwa Slobodan Milošević, denn Milošević wollte eben nicht das alte Jugoslawien vereinen. Er sagte: Da wo ich bin, da ist auch Serbien. Das war nie integrierend, sondern immer expandierend gemeint.

Einst mächtigster Mann Europas: Napoleon Bonaparte gilt als Archetyp des Alleinherrschers von historischer Bedeutung© incamerastock – Alamy Stock Foto
 

Es gibt zum Glück auch Beispiele in der Geschichte, in denen Herrscher einem in der Gesellschaft aufkommenden Wunsch nach Wandel nachgegeben haben. Wie gewaltfrei sich Tschechien und die Slowakei voneinander getrennt haben und wie friedlich in Deutschland die Revolution 1989 verlief, war für uns immer ein Beweis, dass andere, in diesem Fall viele Köpfe auch eine andere Geschichte machen können.

Heute reden wir viel über die Spaltung der Gesellschaft. Wenn man wie ich erlebt hat, wie ein Krieg eine Gesellschaft so sehr spaltet, dass ein Dialog über Jahrzehnte unmöglich wird, sieht man das ein bisschen anders. In meinen Augen gehen wir heutzutage zu rasch von tiefen Gräben aus, wo es eigentlich nur um Kritik geht. Dazu kann man auch in der Oper viel lernen. Deshalb gefällt mir auch das Berliner Publikum so gut, eins der kritischsten der Welt. Ich bin sehr gespannt, wie es auf unseren SIMON BOCCANEGRA reagiert.

Newsletter

Aktuelles zum Spielplan
und zum Vorverkaufsbeginn
Persönliche Empfehlungen
Besondere Aktionen ...
Seien Sie immer gut informiert!

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie 25% Ermäßigung bei Ihrem nächsten Kartenkauf

* Pflichtfeld





Newsletter