„Wir werden später sehen, wer recht hat.“ - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

„Wir werden später sehen, wer recht hat.“

Der lange Weg von Verdis SIMON BOCCANEGRA. Ein Essay von Kerstin Schüssler-Bach

Zwischen den beiden Fassungen von Giuseppe Verdis SIMON BOCCANEGRA liegen 24 Jahre. Für ein Werk, das so komplex mit den Zeiträumen dreier Menschenalter spielt, setzte sich der Komponist innerhalb einer Generationenspanne selbst einem Wiedersehen mit der Vergangenheit aus. Schon die beiden völlig unterschiedlichen Vorspiele zeigen, dass die Überarbeitung des Simon Boccanegra weit mehr bedeutet als eine kosmetische Übermalung. Es sind zwei unterschiedliche musikdramaturgische Entwürfe, die in den Anfangstakten konzipiert werden. 1857 bietet sich das Preludio im Teatro La Fenice Venedig als knappe Potpourri-Ouvertüre dar. Die Tonart E-Dur wird entrollt als Vorhang-Auf-Musik in markigen Fortissimo-Akkorden, der späteren Dogen-Hymne. Andere Themen der Oper folgen, etwa die Cabaletta aus dem Erkennungsduett Boccanegra – Amelia und das Motiv des Volksaufstands. Eine Beleuchtung einzelner Handlungsknotenpunkte, die grelle Schlaglichter setzt.

Wie anders, wie wundersam unspektakulär klingt das Vorspiel der Fassung von 1881, uraufgeführt an der Mailänder Scala: ein komponierter Einschwingvorgang, ein melancholisches Pendelmotiv, sanft schaukelnd wie die Welle des abendlichen Meeres. Gespielt nur von den Streichern im Pianissimo, auf stabilem Boden des ostinaten Grundtons im Kontrabass. Der Rest des Orchesters schweigt. Eine leise, unaufgeregte Naturszene in E-Dur, so scheint es. Doch schon im dritten Takt mischt sich die Mollterz g dazu, als bitterer, scharf akzentuierter Vorhalt in den ersten Violinen. Nach nicht einmal zehn Sekunden verwandelt Verdi das weiche Sfumato in ein dramatisches Chiaroscuro. Fagotte und Posaunen treten hinzu und verdüstern den Himmel. Die Tonika schwankt in chromatisch abwärtsfallenden Sequenzen. Noch einmal vermögen die Celli in einem behutsamen Anlauf in den Hafen des E-Dur zu lenken. Doch die Wiederholung der Phrase findet nicht mehr zur Grundtonart und verebbt im parallelen cis-Moll. Es gibt kein Zurück zur Unschuld. Schon treten die Intriganten Paolo und Pietro auf, und wenn sie vom „Tapferen, der die afrikanischen Seeräuber von unseren Meeren vertrieben“ habe, singen – vom Korsaren Simon Boccanegra also –, mischt sich noch einmal leise das E-Dur-Wellenmotiv hinein. Dazu deklamiert Paolo starr auf einem Ton – die Bewegung ist allein in das Orchester gelegt. Zu Paolos Ausbruch „Aborriti patrizi“ („Verhasste Patrizier“) sackt das tonale Umfeld des Wellenmotivs um einen Halbton ab, die schwarze Farbe von Fagotten und Posaunen drängt sich vor. Und so ist der Weg zum Abgrund in wenigen Takten eines dramatisch komprimierten Farbenspiels bereitet, noch bevor Simon Boccanegra zum Dogen von Genua ernannt wird.

Warum hat Verdi dieses seinerzeit nicht sonderlich erfolgreiche Stück, das er selbst ein „Fiasko“ nannte, überhaupt noch einmal hervorgeholt? Längst hatte er sich als aktiver Komponist zurückgezogen. Die Uraufführung der AIDA lag fast zehn Jahre zurück, und der bald 70-Jährige gefiel sich in der Rolle als „Bauer“, wie er seine Aktivitäten als Großgrundbesitzer in deutlicher Untertreibung nannte. Zu musikalischen Denkprozessen zeigte Verdi wenig Lust und Inspiration. Aber mit Giulio Ricordi stand die nächste Generation seines alten Verlagshauses in den Startlöchern, und der mit diplomatischem Geschick gesegnete junge Mann wusste sehr gut, dass der kreative Funke in seinem als nationale Legende verehrten Autor noch nicht verglüht war. Und Verdi ahnte wohl, dass er – in Abwandlung eines Ausspruchs von Richard Wagner – der „Welt noch einen BOCCANEGRA schuldig“ war. Ricordi hatte sich schon länger bemüht, Verdi zur Revision dieses Stücks zu bewegen, das seit 15 Jahren fast vollständig von den Spielplänen verschwunden war. Aber erst durch die Interaktion mit dem Dichter und Komponisten Arrigo Boito nahm der Plan ab 1879 Fahrt auf und lockte Verdi aus seiner schöpferischen Lethargie. Als Ergebnis entstand bekanntlich nicht nur die zweite Fassung des SIMON BOCCANEGRA, sondern kurz darauf auch der OTELLO und schließlich die finale Krönung des Œuvres mit FALSTAFF. All das war kein himmlischer Zufall, sondern Ergebnis einer taktischen Meisterleistung von Verdis Verleger, der mit der Rettung eines „Schmerzenskindes“ den Weg für zwei unerhörte Meisterwerke frei machte.

 

Dornen und Blüten – Die Uraufführung 1857

„A lor del mio martiro / Cangia le spine in fior“ – „Verwandle die Dornen meines Martyriums für sie in Blüten“. So segnet der sterbende Boccanegra die Verbindung seines Rivalen und seiner Tochter. Der schon in der Erstfassung enthaltene suggestive Vers könnte fast als autobiografische Prophezeiung gedeutet werden. Ein „Martyrium“ war Verdi tatsächlich beschieden, als die um eine Woche verschobene Uraufführung des SIMON BOCCANEGRA am 12. März 1857 im Teatro La Fenice stattfand. Nichts hatte auf einen Misserfolg hingedeutet: Verdi hatte sich Anfang jenes Jahrzehnts mit seiner „trilogia popolare“ (RIGOLETTO, IL TROVATORE und LA TRAVIATA) international etabliert und dann mit LES VÊPRES SICILIENNES seinen Durchbruch im damaligen Opernzentrum Paris feiern können. Alle großen Opernhäuser Italiens klopften für ein neues Werk an seine Tür. Den Zuschlag erhielt letztlich Venedig, und auch hier bedurfte es wieder der geheimen Mission eines treuen Mitarbeiters. Francesco Maria Piave, der bereits sieben Libretti für Verdi eingerichtet hatte, war als Spielleiter in der Fenice engagiert und nutzte den „direkten Draht“, um die Verhandlungen voranzutreiben. Für die Saison 1856/57 hatte das Theater allerdings bereits einen Komponisten für die obligatorische neue Oper engagiert: den Sizilianer Errico Petrella, der auf dem Zenit seines Ruhms stand.

Das weitere Geschehen ist ein Lehrstück in Sachen modernes Künstlermanagement und zeigt, dass Verdi ein knallharter Geschäftsmann war. Über seinen Freund Giovanni Battista Tornielli, den Präsidenten des Teatro La Fenice, pushte Piave Verdis Namen so stark, dass die Impresari schließlich einlenkten. Piave winkte bei Zustandekommen des Vertrags eine Provision, die sich an Verdis Honorar bemaß. Und das war mit 12.000 österreichischen Lire überaus hoch. Verdi dachte nicht daran, von seinen Forderungen abzurücken, sondern ließ durch Piave ausrichten, dass er, „wenn man schon Preisänderungen haben will, den Preis höchstens von 12 auf 14000 Lire abändern könnte“. In einem brieflichen Tauziehen – dokumentiert in Christian Springers materialreicher Studie zur Entstehungsgeschichte des BOCCANEGRA – setzte sich Piave schließlich durch. Petrella wurde ausbezahlt, Verdis Gage akzeptiert und der Vertrag geschlossen. Und Piave kommentierte diesen Sieg lakonisch: „Warum bin ich nicht auch ein Maestro di musica anstelle eines Trottels von Dichter!!!“

Für die neue Saison waren bereits vier Hauptrollensänger engagiert, ohne dass das Sujet des Auftragswerks auch nur ansatzweise feststand. Vom alten Plan, Shakespeares „King Lear“ zu vertonen, nahm Verdi angesichts der Besetzung erneut Abstand. Wann genau ihm das 1843 in Madrid uraufgeführte Drama „Simón Bocanegra“ des Spaniers Antonio García Gutiérrez in die Hände fiel, ist unbekannt. Da ihm bis zum Probenbeginn im Februar 1857 aber keine neun Monate mehr Zeit blieben, muss der Entschluss schnell gefasst worden sein, möglicherweise unter Übersetzungsmithilfe seiner Lebensgefährtin Giuseppina Strepponi. Die Verse von Gutiérrez hatten ihm bereits für IL TROVATORE gute Dienste geleistet, und zweifellos weckte die Vater-Tochter-Konstellation, die sich wie ein roter Faden durch seine Opern zieht, auch hier Verdis Interesse. Schon im August 1856 schickte er aus Paris, wo er sich gerade zu Proben aufhielt, ein umfangreiches Prosa-Libretto, das sich eng an Gutiérrez’ vieraktiges Drama anlehnte, als klare Arbeitsanweisung zur Versifizierung an Piave. Der gesamte szenische Aufbau des Stücks ist hier von Verdi bereits vollständig entwickelt, bis in die einzelnen Situationen hinein. Nur ein Beispiel: Fiescos Auftrittsarie „A te l’estremo addio“ heißt hier „Addio per l’ultima volta“ (bei Gutiérrez: „Por última vez, adiós“) und schließt fast wie im späteren Libretto: „Marianna […], prega per me“. Auch der sehnsuchtsvolle Ausruf „Il mare! il mare!“, mit dem der vergiftete Doge sich an die Freiheit und Weite seines früheren Lebens erinnert, ist inklusive der gesamten Szene bereits enthalten und lässt vermuten, dass Verdi diese außergewöhnlich eindringliche musikalische Phrase in ihrer schmerzvollen Schönheit schon von Anfang an ausgehört hat (sie wurde in der späteren Fassung der Oper auch nicht geändert).

Im September wird bei der Zensurbehörde Verdis Prosalibretto eingereicht, denn Piave hatte noch kein grünes Licht für die Ausarbeitung erhalten: „Außerdem hat dieser SIMONE […] etwas ganz Neuartiges, und deshalb muss auch die Anlage des Librettos, der Stücke etc. etc. so neuartig wie möglich sein. Das ist aber nicht möglich, wenn wir nicht zusammen sind.“ Als Piave endlich beginnen darf, sitzt Verdi immer noch in Paris. Um Zeit zu sparen, lässt er einzelne Verse von dem Literaten und Exil-Pariser Giuseppe Montanelli umarbeiten, worüber er Piave wenig zartfühlend erst kurz vor der Uraufführung informiert. „Beim Tod des Dogen“, schreibt Verdi an Montanelli, „fehlt vielleicht das Pathetische. Es fehlen jene Worte, die (obwohl sie ganz einfach sind) ihre Wirkung nie verfehlen und Tränen hervorrufen“. Die parola scenica, das szenisch schlagkräftige Wort, steht immer im Zentrum von Verdis Dramaturgie. Und ebenso wirkungsorientiert gestaltet sich die Probenarbeit. Verdi trifft am 19. Februar 1857, keine vier Wochen vor der Premiere, in Venedig ein. Parallel mit der Orchestrierung vor Ort beginnt die Einstudierung der Sänger. Die Venezianer erwarten die Novität „mit Ungeduld“ (Präsident Tornielli an Verdi), die Sänger „beten Verdi und seine göttliche Musik an“ (Piave an Tito Ricordi), Korrespondenten und Theaterleute aus ganz Europa strömen zusammen.

Doch SIMON BOCCANEGRA fällt durch, ja wird streckenweise ausgezischt, das Publikum beginnt demonstrativ zu gähnen, die Kritiker richten über das „verworrene Libretto“, den „melodienlosen“ canto declamato und die allzu „düstere Farbe“ der Partitur. Verdi vermeldet seinen Freunden ein „beinahe ebenso großes Fiasko wie die ‚Traviata‘. Ich war der Meinung, etwas Brauchbares geschaffen zu haben, doch es scheint, als hätte ich mich geirrt. Wir werden später sehen, wer recht hat.“

Dieses „später“ sollte über einen Zeitraum von 25 Jahren wachsen, bis die Neuartigkeit des Stücks ihren Wert beweisen und sich die „Dornen des Martyriums in Blüten verwandeln“ konnten. Heute hat SIMON BOCCANEGRA seinen Status als eines der musikalisch reichsten, avanciertesten Werke Verdis sicher. Gespielt wird freilich fast ausschließlich die zweite Version von 1881, für die man den inspirierenden Einfluss Arrigo Boitos fast zu hoch veranschlagt hat. Verdi war sich über die auszubessernden Stellen sehr deutlich im Klaren, und die wesentlichen dramaturgischen Änderungsvorschläge hat er selbst in die Diskussion eingebracht: vorab die große Ratsszene im ersten Akt, die Simones Profil als autoritärer und vorbildlicher Herrscher schärft und ihm nicht nur humane Größe, sondern auch dramatische Fallhöhe verleiht.

 

Stellschrauben für einen „wackelnden Tisch“ – Die Revision 1881

Umgewichtungen in der Dramaturgie gingen mit der Anpassung von instrumentatorischen und vokalen Details Hand in Hand. Verdi konnte dabei seine ganze Erfahrung mit den Werken der Reifezeit ausschöpfen, die wie DON CARLOS und AIDA über die Auseinandersetzung mit der Grand Opéra eine erhebliche Erweiterung der orchestralen Farbpalette erbracht und an der Auflösung der überkommenen Formschemata zugunsten weitgespannter szenischer Komplexe gearbeitet hatten. Überdeutlich prägt diese stilistische Weiterentwicklung in der Revision des BOCCANEGRA etwa die erste Szene von Amelia Grimaldi (alias Maria Boccanegra). In der Erstfassung ist sie als Sortita (Auftrittsarie) der Primadonna in der Tradition Donizettis und Bellinis aufgebaut: eine lyrische Cavatina, gefolgt von der brillanten Cabaletta „Il palpito deh frena“. Letztere dient dramaturgisch zum Ausdruck der überschwänglichen Freude auf den sich mit einer Romanze hinter der Bühne ankündigenden Geliebten, soll aber nicht zuletzt gesangstechnische Geläufigkeit demonstrieren. Hierfür ist gesorgt durch den „hüpfenden“, punktierten Rhythmus, durch Triller und Triolenketten inklusive hohem c und einem chromatischen Staccato-Lauf – durchaus effektvoll, aber, zumal in der dreifachen Wiederholung, auch nicht frei von Schematismus. In der Überarbeitung streicht Verdi diese virtuose Strecke ersatzlos, „nicht weil sie eine Cabaletta, sondern weil sie scheußlich ist.“

Die eigentliche Errungenschaft aber liegt in der Umgestaltung des Vorspiels. Die szenische Situation bleibt in beiden Fassungen gleich: Amelia schaut im Garten der Grimaldi auf das Meer, während die Sonne aufgeht. Die Erstfassung versucht das Spiel der Wellen in den fließenden Achtel der Celli einzufangen, vor dem sich die kurzen Leggiero-Figuren der Violinen als glitzernde Lichter abheben. Die Kavatinen-Melodie erscheint in den Flöten erst, nachdem das Wellenklangbild etabliert ist. So weit, so ordentlich. Aber wieviel plastischer ist diese Evokation des morgenrötlich schimmernden Meeres 24 Jahre später gelungen! Ein Wunderwerk der Instrumentationskunst breitet sein zartes Gewebe aus, mit einem Trillergespinst der Streicher und einer Arpeggio-Figur der Piccoloflöte, während die Melodie der Kavatine unverzüglich in den Bratschen erklingt. Die Klarinette driftet ab in harmonisch entferntere Regionen, die Oboe antwortet ihr wie mit einem morgendlichen Vogelruf. Zu Amelias Gesangseinsatz verfeinert sich die koloristische Raffinesse noch, und die Sextolen-Begleitfigur kehrt wie eine beharrliche kleine Welle unablässig zurück. Ihr haftet nichts Starres mehr an, sie ist ein lebender, atmender Organismus, mit dem die Holzbläser impressionistische Farbtupfer setzen: „ein freies Spiel der Elemente Klang, Motiv und Rhythmus, die wie ungeordnete nebulöse, mehr assoziative Gedanken entstehen und verschwinden“ (Andreas Sopart). Mit der Streichung der Cabaletta eliminiert Verdi freilich auch einen Zug von Vitalität und Entschlossenheit Amelias – sie wird noch mehr zur sanften Marienfigur stilisiert, zum „Engel“, als der sie immer wieder apostrophiert wird.

„Kehren wir zum Alten zurück, es wird ein Fortschritt sein.“ Diese oft zitierte Parole gab Verdi 1871 in einem Brief an Francesco Florimo aus. Mit dem „Alten“ meinte er auch die Rückbesinnung auf die große Tradition der italienischen Vokalpolyphonie, vor allem Palestrinas – nicht zuletzt als bewusste Abgrenzung vom teutonischen Wagnerismus, der ihm selbst immer wieder vorgeworfen wurde. Diese Beschwörung einer nationalen Identität findet in SIMON BOCCANEGRA ebenfalls ihren Widerhall. In der Zweitfassung des Terzetts Adorno – Simone – Amelia im zweiten Akt fügte Verdi eine ausgedehnte A-cappella-Kadenz ein, die in ihrer Strenge auf Vorbilder des klassischen italienischen Stils rekurriert – oder zumindest auf die Vorstellung, die er davon hatte. Sicher ist diese Referenz auch von Simones pathosgeladenen Worten „sia d’amistanze italiche il mio sepolcro altar“ („mein Grab soll der Altar der Freundschaft in Italien sein“) inspiriert, nach denen in der 1881er-Fassung die Kadenz platziert ist und die mit ihrer sehr viel eleganteren Phrasierung nun einen stärkeren Impetus besitzen als in der Urfassung.

Eine ähnliche erhebende Stimmung suchte Verdi später für das Duett Fiesco – Adorno im ersten Akt zu evozieren. In der Version von 1857 endet die Unterredung der beiden, in der Fiesco dem jungen Bewerber Amelias Hand verspricht, mit einem finsteren, etwas groben gemeinsamen Schwur, sich an Simone zu rächen. 1881 konzipiert Verdi die Szene textlich und musikalisch ganz neu und verlangt von Boito „etwas Ruhiges, Feierliches, Religiöses“. Fiesco segnet Adorno, nimmt ihn gleichsam als Sohn an. Die Schlüsselworte lauten „l’angiol tuo, la patria, il ciel“ („dein Engel, das Vaterland, der Himmel“), und diese Verheißung öffnet sich für Gabriele mit feierlichen Posaunen und gedämpften Streichern. Jenes „Sostenuto religioso“ evoziert mit seiner modalen Harmonik und der polyphonen Struktur deutlich den „stile antico“ des Cinquecento, an den Verdi auch in seinem Requiem angeknüpft hatte, und der für jene geforderte „Rückkehr zum Alten“ in der nationalen Identitätsbildung steht.

Von der sublimen Charakterisierungskunst profitierte in der zweiten Fassung auch eine Nebenfigur: Paolo, den Verdi allerdings schon in der Urversion mit einem „ausgezeichneten Sänger und Schauspieler“ besetzt haben wollte, da er als Auslöser der Intrige eine dramaturgische Schlüsselfunktion einnimmt. In der Endfassung ist Paolo auch musikalisch deutlich aufgewertet. Hier wirkte Boitos Impuls als Motor. Sein neuer Text für ein „schönes Rezitativ“ zu Beginn des zweiten Akts inspirierte Verdi: „Diese so mächtigen Verse im Munde eines gewöhnlichen Schurken! Ich habe es jedoch so angelegt, dass dieser Paolo einer der weniger schurkenhaften Schurken ist.“ Als dramaturgische Verbesserung wird die Vorbereitung des Giftanschlags offen gezeigt: Paolo öffnet eine Ampulle, und Verdi öffnet dazu die Schleusen seines vollen Orchesters. Während das sehr kurze Rezitativ in der 1857er-Fassung musikalisch wenig auffällt, formen Boito und Verdi aus der Comprimario-Rolle eine Präfiguration des Jago. Der Dichter wiederholt die Selbstverfluchung Paolos vom Ende des ersten Aktes, und der Komponist folgt ihm mit dem machtvollen Fluchmotiv in den Blechbläsern, dessen Farben sich zunehmend verfinstern. Beim Öffnen der Ampulle wird ein unheilvoller Klageruf in der Klarinette von dumpfen Pianissimo-Schlägen der Großen Trommel grundiert, bevor das ganze Orchester wie ein Blitz einschlägt: extreme Klangfarben, die Verdi nun zu Gebote stehen. Das Credo des Jago ist nicht mehr weit – Verdi war zu dieser Zeit bereits im Besitz von Boitos komplettem OTELLO-Libretto.

Aber auch Jagos Zynismus wird durch Paolo vorgeformt: In der großen Ratsszene, die in der 1881er-Fassung den ersten Akt beschließt, spottet Paolo über den Appell Francesco Petrarcas, den Boccanegra verkündet: „Er soll bei seinen Reimen bleiben, der Sänger der Blonden aus Avignon“ (gemeint ist sein Idol Laura). Paolo negiert Petrarcas Autorität und verkleinert ihn zum Bänkelsänger von Liebesliedern. Verdi komponiert für diese Invektive ein absichtlich banales Motiv, das von einem boshaft blökenden Triller abgeschlossen wird. Sechs Jahre später wird er ähnliche Giftpfeile für Jago verschießen.

Diese Ratsszene erweist sich als umfangreichste und gewichtigste Änderung der zweiten Fassung. Dramaturgisch wurde sie allein von Verdi angestoßen, präzise ausformuliert dann von Boito. Am 20. November 1880 schreibt Verdi an Ricordi, dass „Abwechslung und ein wenig Schwung in das zu viele Schwarz des Dramas“ eingebracht werden müsse: „Diesbezüglich erinnere ich mich zweier wunderbarer Briefe des Petrarca […]. Das Gefühl für ein italienisches Vaterland zu jener Zeit ist erhaben!“ Nur – wer könnte ihm seine Ideen in Verse setzen? Jetzt kommt Boito durch Ricordis Vermittlung ins Spiel. Schon am 8. Dezember unterbreitet er Verdi ein detailliertes Szenario, um diesen „Tisch, der wackelt“ wieder auf die Beine zu stellen. Und Verdi erkennt Boitos dramaturgisches wie poetisches Geschick sofort: „Wunderschön ist diese Senatsszene, voller Bewegung und Lokalkolorit, mit überaus eleganten und starken Versen, wie Sie sie zu machen pflegen“.

In etwas über zwei Monaten ist die Revision der Partitur abgeschlossen, und vom ursprünglichen Finale des ersten Akts, einer Szene zu Ehren von Boccanegras Regierungsjubiläum, bleibt fast nichts übrig: weder der etwas lärmende Festchor noch die pompöse Hymne an den Dogen, noch gar das „Ballett der afrikanischen Korsaren“ mit Chor, das einer Konvention gehorchte. Und auch nicht das Pezzo concertato „Ella è salva!“ („Sie ist gerettet!“), das Amelias plötzlichen Auftritt in der Erstfassung kommentiert und 1857 noch ausgelacht wurde. Nur wenige Takte von Amelias Bericht über ihre Entführung („Nell’ora soave“), in der Urfassung noch mit einer polternden „Giustizia!“-Stretta beschlossen, schaffen es in die Überarbeitung. Amelia kommt hier in der zweiten Fassung eine sehr viel aktivere Rolle zu: Nicht mehr ihre Rettung steht im Vordergrund („Ella è salva“), sondern sie bittet Simone sofort um Rettung ihres Geliebten („Salva l’Adorno tu“). Als Erste übernimmt Amelia auch den Appell des Dogen um Frieden für die zerrissene Stadt. Amelias wunderbare Fis-Dur-Phrase des „Pace“ führt schließlich das gesamte Ensemble an, befeuert von der Petrarca-Botschaft ihres Vaters. Schon die neue Orchestereinleitung zu dieser Szene zeigt die beiden Gesichter Boccanegras: den autoritären Dogen und den sich nach privatem Glück sehnenden Vater, die straffen Fanfaren und – nach einer bedeutungsvollen Generalpause – die weichen Wellenmotive der Streicher. Mit der so beseelten Phrase „E vo gridando: pace, e vo gridando: amor“ („Und ich rufe euch zu: Frieden! Und ich rufe euch zu: Liebe!“) kulminiert Boccanegras Ansprache in einem Moment von höchster, doch letztlich wirkungsloser Emotionalität.

In Boitos klangvoller Alliteration „Plebe, patrizi, popolo“ wendet sich der Doge also an das Volk, um den Konflikt der rivalisierenden Parteien zu beschwichtigen. Mit nationalen Appellen kannte sich Verdi bestens aus. Schon 1847 regte er bei seinem Librettisten Salvadore Cammarano eine Oper über den römischen Volkstribunen Cola di Rienzo an, der auch in Boccanegras Ansprache erwähnt wird. Rienzo galt als Vorbild der italienischen Einigungsbewegung, des Risorgimento (von Wagners Oper Rienzi hatte Verdi wohl keine Kenntnis). Doch das Sujet wechselte damals zu LA BATTAGLIA DI LEGANO – eine Schlacht, in der der Usurpator Barbarossa vernichtend von den oberitalienischen Städten geschlagen wurde. Das persönliche Auftauchen des Stauferkaisers war eine Idee von Verdi gewesen, mit sicherem Gespür für einen fulminanten colpo di scena, der bei dem Helden Arrigo eine entsprechend flammende vaterländische Rhetorik auslöst. Die affirmative Geradlinigkeit der politischen Parolen im Frühwerk der BATTAGLIA DI LEGANO ist noch getränkt von der Utopie einer geeinten, fortschrittlichen Nation. Sehr bald verabschiedete sich der Komponist von dieser Hoffnung. Verdi, der melancholische Skeptiker, begriff die Politik immer stärker als einen menschenverachtenden Mechanismus, wie es der vor der Überarbeitung des BOCCANEGRA uraufgeführte DON CARLOS exemplarisch vorführt. Wenn er seinem Protagonisten also Petrarcas Friedensworte in den Mund legt, ist der emphatische Überschwang zu schön, um wahr zu sein. Es scheint, als wisse der Doge in seiner so flehentlichen Beschwörung um die Vergeblichkeit seiner Bemühungen. Und der Akt schließt mit dem nachtschwarzen Bannfluch über Paolo, eine der gespenstischsten Szenen in Verdis Œeuvre.

Die Uraufführung der revidierten Fassung des SIMON BOCCANEGRA an der Mailänder Scala am 24. März 1881 geriet zum Triumph. Verdi hatte sich wie üblich detailliert um die musikalische und szenische Einstudierung gekümmert. Am Pult stand Boitos Weggefährte, der spätere OTELLO-Dirigent Franco Faccio. Und auch mit den Sängern Victor Maurel (Boccanegra) und Francesco Tamagno (Adorno) legten die kommenden Protagonisten des OTELLO, ohne es zu wissen, ihre Feuerprobe ab. Nur die Österreicherin Anna d’Angeri, die exzellente Sängerin der Amelia, die Verdi für die Desdemona im Auge hatte, beendete ihre Karriere kurz nach der Uraufführung, da sie heiratete – das Rollenbild sah eine weitere Berufsausübung noch selten vor.

Verdi nahm die Ovationen des Publikums gelassen entgegen: Er habe die „kaputten Beine“ seines alten Stücks wohl „gut repariert“, schrieb er dem alten Freund Graf Arrivabene. Dass ein Teil des überwältigenden Zuspruchs auch seiner Person als lebender Legende galt, wusste der 67-Jährige sehr genau. Man darf wohl annehmen, dass ihm die Rolle des Boccanegra auch gewisse Identifikationsmöglichkeiten bot – der immer wieder thematisierte Verlust der Tochter, die halb erstrebte, halb ungeliebte Vorbildfunktion. Dafür spricht, dass die Zweitfassung den Pessimismus, ja den Zynismus des Protagonisten verschärft hat: Mit „Ecco le plebi“ kommentiert der Doge sarkastisch den Wankelmut des Volkes, das ihn in einer Sekunde ermorden will, in der nächsten hochleben lässt. Und die Verachtung steigert sich zu einem wahren Hohngelächter der Holzbläser, das den musikalischen Furor der Aufständischen regelrecht ausbremst. Boccanegra spottet über des Volkes Stimme als „Geschrei von Frauen und Kindern“, burleske Vorschläge und äffendes Staccato geben ihm eine scharfe Waffe in die Hand. Ein fast shakespearehafter Moment der Erkenntnis, die dem Gerechten die Rolle des „höhnischen Komödianten“ („istrion beffardo“) zuweist, um mit Jagos Credo zu sprechen. Nur scheinbar ins Spaßhafte wendet sich dieser Befund in der so zwiespältigen finalen Fuge des FALSTAFF. Dass „alles auf der Welt eine Posse“ ist, hat Simon Boccanegra schon früher gewusst.

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