Alles auswendig

Ein Essay von Hans Ackermann für die Beilage der Deutschen Oper Berlin im Berliner Tagesspiegel / Hans Ackermann wurde in Hamburg geboren, hat Schulmusik studiert und eine Journalistenschule besucht. Seitdem arbeitet er in Berlin als freiberuflicher Musikjournalist, Autor und Kritiker für WDR, SWR und RBB, schreibt für den Tagesspiegel – und ist als OHRENMENSCH neuerdings auch mit einem eigenen „BLOG für HINHÖRER“ im Netz in aktiv.

„Na klar, wir singen auswendig!“ – Matti, Jakob und Daniel, 8, 9 und 10 Jahre alt, rutschen schon eine Zeit lang auf ihren Stühlen hin und her. Sie wollen mit ihrem „Kleinen Chor“ endlich auch nach vorn auf die Freilichtbühne! Dort singt aber gerade noch der „Große Chor“, „Cantate domino“ von Daniel Friderici. Davor waren schon Lieder von Händel und Poulenc zu hören, Schumanns „Wassermann“ und als Auftakt „Die Gedanken sind frei“.

Der „Große Chor“, das sind die insgesamt rund 80 Kinder, deren Altersdurchschnitt bei 11 bis 12 Jahren liegt. Sie haben in der vergangenen Spielzeit in der Bismarckstraße in den Opern TURANDOT, BILLY BUDD oder BORIS GODUNOW insgesamt rund 50 Auftritte auf der Opernbühne absolviert, sind also schon dort zu erleben, wo die Kleinen erst noch hin wollen. Begonnen hat dieser besondere Konzerttag für die Kinder schon um 9 Uhr in der Frühe. Chorleiter Christian Lindhorst will noch einen Durchlauf machen, aber erstmal steht das Einsingen an: Summen und Singen auf verschiedenen Silben von „Lü“ bis „La“, mit der Zunge schlackern, mit den Lippen ploppen, kräftig schlürfen, genussvoll schmatzen – eben all das, was man so macht, um die „Sing-Muskulatur“ in Gang zu bringen.

Matthew Newlin und der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin
Boris Godunow © Bernd Uhlig
 

Danach beginnt die sogenannte Stellprobe, bei der die Auf- und Abgänge der verschiedenen Chorgruppen geprobt werden: „Kleiner Chor, nach rechts“ …, „Großer Chor, einen Schritt zurück“ … „Jugendchor dahinter“ … Immerhin sind heute vier verschiedene Ensembles beteiligt, insgesamt rund 150 Kinder und Jugendliche.

„Die Stellprobe schafft Sicherheit beim Singen nachher“, erklärt die Stimmbildnerin Rosemarie Arzt, die unter anderem auch für die älteren, ehemaligen Kinderchorsänger verantwortlich ist. Als „Voice-Changers“ bilden sie ein Jungen-Ensemble aus Sängern, deren Stimmumfang sich gezielt erweitern lässt, indem die Kinderstimme als Kopfstimme erhalten bleibt, während sich die Sänger im Laufe des Stimmwechsels in junge Tenöre oder Bassbaritone verwandeln. Später werden die Stimmwechsler dann mit „California Dreaming“ und anderen A-cappella-Liedern unter Beweis stellen, wie vorteilhaft es für die Stimme ist, als Kind in einem sehr guten Chor gesungen zu haben. „Man wird präziser beim Singen und kann sich den Ton vorstellen, bevor man ihn singt“, erzählt Tim, 20 Jahre alt und früher im „Großen Chor“ an vielen Aufführungen beteiligt.

 

Ein Besuch beim Kinder- und Jugendchor der Deutschen Oper Berlin auf der Freilichtbühne in Spandau

Auf der Freilichtbühne gibt es nun eine kleine Vorschau auf die kommende Spielzeit: einen Ausschnitt aus LE PROPHETE von Giacomo Meyerbeer. „Le voilà, le Roi Prophète“ singen die Kinder zur Klavierbegleitung von Christian Lindhorst, der betont, dass diese Oper mit ihren ausgedehnten Kinderchören eine große musikalische Herausforderung sei. Zumal die Kinder mit den Erwachsenen manchmal nur eine oder zwei gemeinsame Proben hätten, danach ginge es „sofort auf die Bühne“.

Bruce Sledge und Ronnita Miller; Kinderchor und Chor der Deutschen Oper Berlin
Le Prophète © Bettina Stöß
 

Die Chorkinder Clara und Hans sind Mitglieder im „Großen Chor“, aber derzeit noch nicht ganz sicher, in welcher der beiden neuen Produktionen sie mitsingen werden – vielleicht bei LE PROPHETE, vielleicht aber auch in der neuen CARMEN. Die Einteilung der Gruppen, die für jede neue Opernproduktion ebenfalls neu zusammengestellt werden, gibt Chorleiter Christian Lindhorst erst noch bekannt. Clara, 10 Jahre alt, hat gerade noch in der „BORIS-GODUNOW-Gruppe“ mitgewirkt und verrät, dass sie eigentlich am liebsten auf deutsch singt. Der Chorleiter hat Verständnis für diesen Wunsch, denn er weiß, dass den Kindern beim Singen in all diesen „Opernsprachen“ – Englisch, Französisch, Italienisch und manchmal eben auch Russisch – einiges abverlangt wird.

Dafür dürfen die Jungen und Mädchen in BORIS GODUNOW zumindest vergleichsweise leichte Kleidung tragen, ganz anders als bei BILLY BUDD. Hans, 11 Jahre alt und schon etwas länger im Chor, findet sein Kostüm zwar schön, allerdings müsse er als „Powder monkey“, als Pulverjunge, in den langen Gummihosen, der dicken Jacke und den schweren Matrosenstiefeln ganz schön schwitzen. Auch Tim, mittlerweile Mitglied im „Jugendchor“, erinnert sich an schweißtreibende Auftritte als Kind in seiner Lieblingsoper LA BOHEME. „Die Melodie ist schön, das Stück ist schön, einziger Nachteil: man muss in Winterklamotten auf die Bühne.“

Das große Finale des 2. Aktes
La Bohème © Bettina Stöß
 

Zu warme Kostüme würde er gern vermeiden, meint Christian Lindhorst, der als Chorleiter aber nur wenig Einfluss auf die Ausstattung nehmen kann. Er bereite die Kinder vor allem musikalisch vor. Erst auf dieser Grundlage könne der Chor dann die in jeder Oper geforderten umfangreichen darstellerischen Leistungen erbringen. Wie die schwierige Choreografie bei BILLY BUDD, die mit sehr viel Arbeit verbunden gewesen sei, und von den beteiligten Jungen eine außergewöhnliche „Körperspannung“ erfordern würde.

Schön sei es, wenn die Kostüme das Singen sogar positiv beeinflussen würden, wie bei der farbenfrohen Inszenierung von Humperdincks HÄNSEL UND GRETEL. „Da merkt man“, so der Chorleiter, „dass sich die Kinder mit den bunten Kostümen verändern und noch viel freundlicher und aufgeweckter singen“. Auch Clara mag diese Märchenoper besonders gern, obwohl man beim gemeinsamen Finale auch leicht mal durcheinander kommen kann. Die Kuchenkinder müssten sich da schon sehr konzentrieren, weil die Solisten an dieser Stelle doch „ziemlich laut“ singen.

Miriam Gordon-Stewart als Getrud, Stephanie Lauricella als Hänsel, Kim-Lillian Strebel als Gretel, Kinderchor der Deutschen Oper Berlin
Hänsel und Gretel © Bettina Stöß
 

Natürlich geht in den Aufführungen auch mal etwas schief, meint Christian Lindhorst. Aber, das sei nicht schlimm, sondern menschlich und würde schließlich auch bei den Erwachsenen vorkommen. Seine Chorkinder seien insgesamt sehr mutig und überaus professionell, er sei jedes Mal erstaunt, wie schnell die Kinder immer wieder mit dem Dirigenten zusammen sind. Und wenn es doch mal zu sehr klappert, bringt der Chorleiter – unsichtbar für das Publikum – mit der „roten Taschenlampe“ vom Bühnenrand aus wieder rhythmische Ordnung in sein Ensemble.

Professionell auf der Bühne, konzentriert in der Probe – wenn man diesen Idealzustand mit einem Kinderchor erreichen will, muss man auch gewisse Eigenheiten und Unterschiede berücksichtigen: „Jungen sind ein bisschen wuseliger, ein bisschen unruhiger, brauchen Bewegung“, meint Christian Lindhorst, der diese Eigenschaften am liebsten in positive Energie umwandelt und die Proben mit viel Bewegung auflockert.

Regulär finden pro Woche zwei solcher Proben statt, so dass auch noch Zeit für andere Dinge bleibt, erzählt Pauline. Sie ist 9 Jahre alt, singt noch im „Kleinen Chor“ und trifft sich in ihrer Freizeit mit Freundinnen, liest viel und übt Klavier. Wenn Aufführungen bevorstehen, kommen aber zumindest beim „Großen Chor“ schnell weitere Termine hinzu. Die Kinder, die in der überwiegenden Mehrheit in Berlin, einige aber auch in Brandenburg wohnen, sind dann manchmal an fünf Tagen im Opernhaus. Ein hohe zeitliche Belastung, die auf der anderen Seite aber auch ein starkes Gemeinschaftsgefühl hervorbringt. „Wir sind verschiedene Stimmen, aber wir singen zusammen“, sagt Clara über den besonderen Teamgeist im Chor. Dieser soziale Gedanke ist auch für Christian Lindhorst maßgeblich: „Man singt in einer großen Gemeinschaft, in der trotzdem jeder Einzelne zählt“.

Auf der Freilichtbühne erreichen die „Enfants de choeur“ aus Meyerbeers LE PROPHETE nun die Textstelle „Oh, le Ciel! Qu’entends-je?“ und tatsächlich öffnen sich bei dieser himmelwärts gerichteten Frage kurz die Wolken. Die Sonne bricht durch und taucht die Freilichtbühne, den Chor und die etwa 500 Zuschauer für einen magischen Moment in helles Licht.

Wenig später hat dann auch für die drei Jungen vom „Kleinen Chor“ das lange Warten endlich ein Ende. Nun geht es für Matti, Jan und Daniel auf die Bühne, wo sie beim „Katzentatzentanz“ ihre ersten Erfahrungen im Musiktheater vorführen: szenisch spielen die Kinder die Geschichte der Katze, die partout nicht mit dem Igel tanzen will. Die etwa 30 Sängerinnen und Sänger aus dem jüngsten Chor-Nachwuchs zeigen dabei, dass sie schon jetzt die wesentliche Fähigkeit für den Auftritt in einem Opernhaus beherrschen: sie können gleichzeitig singen und darstellen – was alles andere als einfach ist.

„Wenn man DAS beides zusammen kann“, meint Christian Lindhorst, „dann hat man schon ganz viel für die Bühne gelernt“. Da macht es dann auch nichts, wenn den Jungen vom „Kleinen Chor“ mal die Notenmappe herunterfällt, denn, „na klar, wir singen auswendig!“

Chor der Deutschen Oper Berlin
Carmen © Marcus Lieberenz
 

 

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