Der Fluch des langen Lebens - Deutsche Oper Berlin
Der Regisseur David Hermann über sein Plädoyer für die Liebe
Der Fluch des langen Lebens
Dramaturgin Anne Oppermann sprach mit Regisseur David Hermann über sein Inszenierungskonzept und die Tragik eines ewigen Lebens.
In Leos Janaceks Oper „Die Sache Makropulos“ geht es vordergründig um einen Erbschaftsstreit, der fast seit einem Jahrhundert schwelt. Während aber die Kontrahenten nur ein belastbares Dokument oder Testament zu finden suchen, das die Erbansprüche endlich klärt, hofft Emilia Marty zwischen den Akten die Rezeptur eines Trankes wiederzufinden, der das Leben um 300 Jahre verlängern kann. 337 Jahre alt ist die jugendlich wirkende Schönheit bereits, denn an ihr wurde der Trank einst getestet. Doch nun beginnt seine Wirkung nachzulassen und sie benötigt ihn erneut.
Janacek war fasziniert von seiner Hauptfigur, die Erinnerungen aus drei Jahrhunderten mit sich trägt, ganze Kulturkreise durchschritten hat, allen Glanz und alles Elend der Welt und ihres eigenen individuellen Lebens in sich aufgespeichert hat. Und er fühlte Mitleid mit ihr.
Emilia Marty lebte unter wechselnden Identitäten, dabei hatte sie aber immer wieder alles, was man für ein – äußerlich betrachtet – gelungenes Leben braucht: Schönheit, Jugend, Erfolg, Reichtum, Liebhaber, sogar Kinder. Warum ist sie trotzdem so emotionslos und kalt geworden?
Ihr Problem ist, dass sie keines dieser Leben richtig leben konnte, weil sie nicht offenbaren wollte oder konnte, dass sie ewig lebt. Denn sonst wäre sie wahrscheinlich ausgestoßen, stigmatisiert worden. Punktuell hatte ihr Leben spannende und aufregende Momente, dennoch ist sie ständig mit der Einsamkeit konfrontiert. Sie musste diesen Schutzschild aufbauen, um psychisch diese 300 Lebensjahre zu überstehen. Sie kann Menschen nicht mehr an sich herankommen lassen, weil sie das einfach nicht immer wieder verarbeiten kann. Und sie weiß: Selbst wenn sie sich wirklich auf eine Beziehung einlassen würde, diese Leute sterben ihr weg. Emilia Marty kann mit niemandem einen kompletten Lebenszyklus teilen. Das hat sie verstanden. Deswegen rennt sie im Grunde vor etwas davon und dieses Gehetzt-Sein macht auch das Kalte aus. Janácek hat aber genügend Bruchstellen komponiert, wo eine Müdigkeit, Verletzlichkeit, Traurigkeit, Verlorenheit sichtbar wird – und auch eine Sehnsucht nach diesem einen Mann, den sie wirklich geliebt hat. Da finde ich genug Potenzial, das mir diese Figur sehr sympathisch macht. Und als Regisseur will ich auch versuchen, dass der Zuschauer diese Frau verstehen, ihr emotional nahekommen kann.
Das zugrundeliegende Schauspiel wird überraschenderweise als Komödie bezeichnet. Was ist die Oper: eine Komödie, ein Rechtskrimi, Science Fiction oder eine philosophische Abhandlung?
Das kann man gar nicht ganz genau festlegen. Es ist sicher eine Stärke des Stückes, dass es zwischen den Genres steht und dadurch eine sehr hohe Bandbreite unterschiedlicher Situationen bietet. Das Stück lebt von Polaritäten. Zum Beispiel gibt es auf der einen Seite die Männer, die ganz handfeste Sachen wollen: Geld, Macht und auch Sex. Und auf der anderen Seite steht diese Frau, die eine ganz andere Perspektive auf das Leben, einen ganz anderen Hintergrund hat und im Grunde auch von einer ganz anderen Suche getrieben wird. Natürlich will sie – oberflächlich betrachtet – diese Formel, um ihr Leben zu verlängern. Aber die Suche ist das Wichtige. Sie denkt bei dieser Suche nach der Formel darüber nach, was sie alles erlebt hat und ob sie das überhaupt noch will. Das ist das Reizvolle, dass man diese beiden Pole kennenlernen und dabei sowohl etwas Unterhaltsames, Spannendes und gleichzeitig auch emotional sehr Bewegendes erleben kann.
Emilia Marty bringt verschiedene Zeitebenen in die Handlung ein. Wie geht Janácek musikalisch mit der Zeitthematik um?
Ich glaube, dass Janácek tatsächlich versucht hat, ein Zeitgewölbe zu komponieren. Als Komponist hatte er die Möglichkeit, Zeit zu dehnen, zu beschleunigen, aber auch anzuhalten. Er kann wie in einem Zeittunnel hin- und zurückfahren und musikalische Motive anderer Zeiten aufgreifen. Selbst wenn man das nicht genau orten kann, spürt man, dass es da Zeitverschiebungen gibt. Und diese Kollision verschiedener Zeitebenen versuchen wir auch szenisch herzustellen. Die Oper spielt bei uns in einem mysteriösen und rätselhaften Innenraum, der einen Zeitverlauf in sich trägt.
Ist die Aussage der „Sache Makropulos“ lebensverneinend? Das Leben als Warten auf den erlösenden Tod?
Nein, es ist ein großes Plädoyer für die Liebe. Gemeinsam in einer Partnerschaft, in einer Familie kann man Leben und Tod vielleichtmeistern, aber diese Partnerschaft fehlt der Hauptfigur: Der einzige Mann, den sie geliebt hat, ist tot, sie sucht ihn, sie sucht das gemeinsame Kind. Es ist eine verzweifelte und hoffnungslose Suche nach Liebe und Geborgenheit.