Die Erotik dicker Männer - Deutsche Oper Berlin
Uwe Friedrich im Gespräch mit Christof Loy
Die Erotik dicker Männer
In der Saison 20/21
FALSTAFF (konzertant)
Musikalische Leitung: Ivan Repušić
Mit: Lucio Gallo, Thomas Lehman, Mingjie Lei, Annette Dasch, Arianna Manganello, Annika Schlicht; Die Schlussfuge erklingt mit reduziertem Chor auf der Bühne
30., 31. Oktober 2020
In Giuseppe Verdis letzter Oper FALSTAFF besteht die Oberfläche daraus, dass ein älterer Herr vergeblich zwei Frauen in den besten Jahren nachstellt. Ist das wirklich alles oder gibt es in Ihrer Sicht auf dieses Werk noch andere Themen?
Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, dass Verdi diese Oper als alter Mann geschrieben hat und dass es um die Melancholie eines alten Mannes geht, der auf das Leben in seiner großen Vielfalt zurückschaut. Dabei fasziniert mich immer wieder, wie viel Vitalität und Jugendlichkeit diese Figur hat, die sicher im letzten Lebensdrittel steht. Das ist für mich das Hauptthema: Wie viel Jugend steckt immer noch im Alter?
Da drängt sich die Gegenfrage auf: Wie verknöchert ist die Jugend bzw. die deutlich jüngeren Frauen, denen Falstaff nachstellt?
Die Spießigkeit der Bürger von Windsor ist für mich kein besonders wichtiges Thema. Auch wenn das Menschen sind, die sich in ihrem Leben fest eingerichtet haben, ist doch verblüffend, wie viel Lebensenergie beim Ehepaar Ford und bei Mrs. Quickly durchbricht, die durch Bürgerlichkeit und ein vergleichsweise spießiges Leben nicht kanalisiert werden kann. Die Oper ist verblüffend optimistisch.
Die Eifersucht Fords ist für Außenstehende sehr amüsant, bewegt sich aber hart an der Grenze zur konventionellen Typenkomödie. Wie ernst können Sie die Figuren dieser Oper nehmen?
Als ich wusste, ich möchte Regisseur werden, habe ich mir sehr viele Theateraufführungen angesehen. Ich erinnere mich, dass ich damals vollkommen begeistert war von der berühmten Inszenierung Giorgio Strehlers von Goldonis „Diener zweier Herren“. Ein paar Jahre später sah ich Aufführungen von Peter Zadek, die ich ebenfalls hinreißend fand. Die beiden haben es auf sehr unterschiedliche Weise geschafft, dass man über solche Eifersuchtsgeschichten unglaublich lachen konnte. Aber man merkte ganz deutlich, dass diese Eifersucht für den Betroffenen ein unüberwindliches Problem ist. Dazu ist es ganz wichtig, deutlich zu machen, dass es theatralische Figuren sind. In einem bürgerlich-realistischen Kontext kann FALSTAFF nicht funktionieren. Man muss klar sehen, dass Giuseppe Verdi Theaterfiguren geschaffen hat, deren Verhalten überzeichnet ist. Es geht trotz aller komödienhaften Zuspitzung um sehr ernste Probleme. Auch musikalisch hat Verdi eindeutig eine komische Geschichte erzählt, aber das macht er mit seiner ganzen künstlerischen Kraft und Ausdrucksstärke. Er wusste aus seinem reichen Erfahrungsschatz genau, wie man theatralische Wirkungen erzielt. Wenn man das überdreht, gelangt man zur Grenze der Typenkomödie, aber genau diese Grenze interessiert mich.
Wie erzeugt man komische Situationen auf der Opernbühne?
Ich habe die da Ponte-Opern Wolfgang Amadeus Mozarts inszeniert und von Gioacchino Rossini IL TURCO IN ITALIA und L’ITALIANA IN ALGERI. Mir ging es dabei wie Verdi im Umgang mit dem FALSTAFF-Stoff. Ich versuche herauszufinden, was das Kernproblem der jeweiligen Figur ist. Wenn man das gut und klar inszeniert, ergibt sich die Komik beinahe von selbst. Ich glaube nicht, dass sich aus einer Probenheiterkeit eine Komödie auf der Bühne ergibt. Komödie hat ganz viel mit Genauigkeit, Timing und Präzision zu tun und nicht mit Spaß auf der Probe. Die schauspielerischen Mittel müssen immer unter Kontrolle bleiben. Ich freue mich sehr, dass ich die meisten Sänger des Ensembles bereits kenne und dass wir eine gemeinsame künstlerische Sprache sprechen. Das wird mir bei dieser Oper sicher sehr helfen. Die meisten Sänger der großen Rollen singen diese zum ersten Mal. Sie bringen also nicht ihre in vielen Aufführungen gesammelten Erfahrungen mit, wie sie mit ranschmeißerischen Effekten Heiterkeit im Publikum auslösen können. Wir werden diese Rollen gemeinsam sehr seriös erarbeiten.
„Gemeinsam“ ist gerade in der Oper ein schönes Stichwort, weil hier wie in keiner anderen Kunstform die Zusammenarbeit aller Gewerke gefordert ist. Wie abhängig ist der Regisseur von seinen Mitarbeitern?
Schon aus Giuseppe Verdis Briefen wissen wir, dass er ein sehr unkonventioneller Theatermann war. Gleichzeitig war er ungemein pragmatisch. Vom Teatro alla Scala wurde ihm zur Uraufführung des FALSTAFF ein Sänger für die Rolle des Fenton vorgeschlagen, der die schönste Stimme dafür hatte. Verdi lehnte ihn ab mit der Begründung, dieser Sänger sei zu eitel. Er werde die Rolle für unangemessen klein halten und dann die Stimmung auf den Proben verderben. Diese Äußerungen Verdis könnten auch von mir sein. Deshalb bin ich auch so heikel bei der Auswahl von Sängern für meine Inszenierungen. Es muss stimmlich hinhauen, der Sänger muss aber auch als Erscheinung interessant sein. Das sind beileibe nicht immer die naheliegenden Besetzungen, ich brauche vielmehr Darsteller, die sich eine Rolle erst gegen Widerstände erkämpfen müssen. Das ist dann auch für mich und für die Inszenierung gut. Es tröstet mich immer, Verdis Briefe zu lesen und zu sehen, dass er über genau dieselben Probleme nachgedacht hat. Für die Alice Ford suchte er eine Sängerin „mit Polenta im Bauch“ – was für eine herrliche Formulierung!
Verdi versuchte, ganz viele Details exakt festzulegen. Er veranlasste Musterinszenierungsbücher, nach denen sich nachfolgende Regisseure bitte richten sollten. Haben die heute noch eine Bedeutung?
Es hat immer wieder Versuche gegeben, die Uraufführungen nachzustellen, die kann man sich auch auf DVD anschauen. Da spürt man sehr schnell, dass wir uns zeitlich und ästhetisch sehr weit von diesen Inszenierungen entfernt haben. Die Details stimmen nicht mehr. Die Theater wurden damals ganz anders beleuchtet. Die Mailänder Scala wurde zur Zeit der FALSTAFF-Premiere als eines der ersten Opernhäuser überhaupt mit elektrischer Beleuchtung ausgestattet, danach wurde in Sachen Ausstattung ungeheuer viel verändert. Wir wissen nicht, wie die Schminke damals genau aussah. Wir haben auch nicht Kenntnis davon, wie die Sänger schauspielerisch auf der Bühne agierten, was noch wichtiger ist. Wir sind gezwungen, heute einen neuen, einen anderen Weg zu finden. Schließlich haben sich auch die Zuschauer verändert und sind darin geübt, die Verfremdungen auf der Bühne zu akzeptieren und zu entschlüsseln. Im FALSTAFF ist Verkleidung immer wieder ein großes Thema, mit dem ich liebevoll-ironisch umgehen kann. Was bedeutet es eigentlich, einen dicken Mann auf der Bühne zu zeigen? Vielleicht brauche ich den dicken Kostümbauch irgendwann nicht mehr und werfe ihn demonstrativ weg. Da können wir sehr viel freier und auch lustvoll mit der Theatergeschichte umgehen. Die Aufführungsgeschichte von FALSTAFF umfasst inzwischen auch bereits gut hundert Jahre Komödientradition, mit der wir ebenfalls spielen können.
Während Schauspielkomödien einen großen Teil ihres Witzes oft aus körperlichen Aktionen beziehen, ist die Oper auch in ihrer komischen Ausprägung häufig eine recht bedächtige Veranstaltung. Verdi legte großen Wert auf die „parola scenica“, auf Schlüsselbegriffe im Libretto wie „Liebe“, „Tod“, „Verrat“, bei denen die Handlung anhalten sollte, damit das Publikum sich auf den Inhalt konzentrieren kann. Im Extremfall führt das zum Rampentheater in der Nähe des Souffleurkastens. Wie kann ein Regisseur den Sängern die nötige Ruhe zum Singen lassen, ohne die Inszenierung in ein kostümiertes Konzert umkippen zu lassen?
Ich bin ein hörender Regisseur. Wenn jemand steht und als Darsteller genau denkt und fühlt, worum es in der Musik geht, wenn er dazu noch das Handwerkszeug hat, um diese Gedanken und Gefühle in den Zuschauerraum zu transportieren, dann ist das ja schon eine szenische Situation und eine szenische Aktion. Ich ertrage es allerdings schwer, wenn ein Sänger nur still steht und singt, aber die theatralische Situation nicht ausfüllen kann oder will. Grundsätzlich habe ich ebenso großes Vergnügen an der Bewegung und der Choreographie in einem Raum wie an einem notwendigem Stillstand, wenn die Handlung zur Ruhe kommt. Das Geschehen darf sich dabei nicht an der musikalischen Form entlanghangeln. Auf den Proben muss man herausfinden, wo es sinnvoll ist, nah an der Musik zu bleiben, und wo man sich davon entfernen kann, um eine Spannung aufzubauen. In der zweiten Probenphase, wenn das Originalbühnenbild, die Beleuchtung und das Orchester dazu kommen, versuche ich immer, die Balance zu finden. Da gibt es auch nach all den Jahren der Berufserfahrung kein Patentrezept. Das muss ich immer wieder neu suchen.
Für jedes Stück müssen Sie auch ein neues Regiekonzept finden. Bei den Salzburger Festspielen haben Sie eine ganz andere Geschichte über DIE FRAU OHNE SCHATTEN von Richard Strauss gelegt, Janáceks JENUFA haben Sie an der Deutschen Oper unangetastet auf die Bühne gebracht. Wie entscheiden Sie, welche Eingriffe Sie bei einem Werk vornehmen? Wie sieht Ihre Entscheidung bei FALSTAFF aus?
Ein Stück wie DIE FRAU OHNE SCHATTENmit der gefährlichen Essenz, dass eine Frau nur dann glücklich sein kann, wenn sie Kinder wirft wie man einen Schatten wirft, braucht grundlegend eine Bearbeitung. Eine Geschichte wie JENUFA, die nach meiner Überzeugung eine der wichtigsten und zerbrechlichsten Geschichten der Opernliteratur ist, wage ich gar nicht anzutasten, weil sie das zarte Bild einer neuen Menschlichkeit zeichnet. Im FALSTAFF geht es für mich erstmal darum, die perfekte musikalische Dramaturgie glasklar zu zeigen und so die starken Strömungen der menschlichen Libido offen zu legen. Dazu scheint es mir nötig, die Geschichte nicht in eine ferne Vergangenheit zu legen, in der Frauen große Hauben tragen und die Männer ein Wams umgeschnallt haben.
Entscheidend für jede FALSTAFF-Inszenierung ist, ob der alternde Ritter erotische Ausstrahlung hat oder nicht. Ist er eine Verlockung für die ehrbaren Damen oder kommt er von vornherein nicht infrage und macht sich zum Gespött Windsors?
Er muss eine erotische Ausstrahlung haben. Das zeigt sich schon in der Reaktion von Alice auf die Briefe. Verdi zeigt in seiner Musik, dass für sie ein Abenteuer mit dem dicken Mann nicht ganz unmöglich ist. Es wäre auch schrecklich, wenn man sagen würde, dicke Männer sind unerotisch. Das wäre eine Form von Menschenverachtung, die auch Giuseppe Verdi sehr fern läge. Die erotische Spannung ist den Frauen vielleicht auch gar nicht so klar und sie werden immer wieder davon überrumpelt. Das fände ich spannend: Wenn die Situationen nicht so eindeutig von den Figuren beherrscht werden. Eine gute Komödie basiert auch darauf, dass eine Figur glaubt, einen sicheren Standpunkt zu haben, und dann kommt eine andere Figur, die diese Pläne zunichte macht, und alle müssen sich neu sortieren. Falstaff verspricht auf jeden Fall ein lohnendes erotisches Abenteuer, sonst könnten wir den Vorhang gleich zu lassen.
Aus: Deutsche Oper Magazin September 2013