Die Kraft der Verzweiflung - Deutsche Oper Berlin
Im Gespräch mit Uwe Friedrich
Die Kraft der Verzweiflung
Ein Gspräch mit Evelyn Herlitzius über die Lady Macbeth von Mzensk
Frau Herlitzius, Sie singen unter anderem die Elektra von Richard Strauss, Turandot von Giacomo Puccini, die Lady Macbeth von Giuseppe Verdi und die Lady Macbeth von Mzensk von Dmitrij Schostakowitsch. In diesen Rollen verkörpern Sie Frauenfiguren am Rande des Nervenzusammenbruchs, die kaum sympathisch wirken. Wie finden Sie einen Zugang zu diesen Rollen?
Das klingt mir ein bisschen zu hysterisch. Es ist ja ein gern gepflegtes Vorurteil den dramatischen Rollen des angehenden 20. Jahrhunderts gegenüber, dass diese Frauen alle mehr oder weniger verrückt sind. Da spuken die Ideen Sigmund Freuds noch immer sehr stark in unseren Köpfen herum, vielleicht etwas zu stark. Das sind Frauen, denen es nicht gut geht, das ist klar. Sie bekommen entweder ihr Leben nicht auf die Reihe oder sie befinden sich in einer Position, in der sie ihre Probleme nicht lösen können, weil die gesellschaftliche Situation sie gefangen hält. Ich wehre mich aber stark dagegen, einfach zu sagen „die haben alle ‘nen Knall“. Das macht diese Schicksale zu schmal. Katerina Ismailova, also Schostakowitschs Lady Macbeth, ist ein einfaches Mädchen vom Land, das an einen reichen Kaufmann verheiratet wird. Sie ist nun dem Gewaltsystem in dieser Familie vollkommen ausgeliefert. Bis dahin hat sie wahrscheinlich ein freies Leben geführt, hat schwer gearbeitet, ist ziemlich ungebildet, hat aber eine Zufriedenheit in der Natur gefunden. Jetzt darf sie aus dem Hof der Familie nicht mehr raus, sie darf keinen Schritt mehr alleine machen, ist der brutalen Kontrolle ihres Schwiegervaters ausgesetzt. Das muss man erst mal aushalten. Ihr fehlt die Fähigkeit zur Innenschau, sie kann ihre Energien nicht umleiten. Ein anderer Mensch würde vielleicht die Bibel lesen, eine Sprache lernen oder meditieren. Irgendwann hält sie diesem Druck nicht mehr Stand. Alle ihre Hoffnungen auf ein Leben in Liebe, eine erfüllte Sexualität und ein Kind sind zerstört und sie weiß sich nicht anders zu helfen, als ihre Peiniger durch Mord zu beseitigen.
Offenbar haben Sie für sich selbst ein Psychogramm dieser Frau entworfen. Machen Sie das bei jeder Rolle? Wie lange nehmen Sie sich Zeit für eine neue Partie?
Das mache ich immer. Nur so kann ich den Charakter verstehen, den ich auf der Bühne darstellen möchte. Und wenn der Regisseur eine andere Vorstellung von dem Charakter hat, dann muss man diskutieren. Und zwar so lange, bis die verschiedenen Vorstellungen in Einklang gebracht werden können. Ich gehe immer sehr gut vorbereitet in die Proben, damit ich für solche Gespräche gewappnet bin. Für diese und für die musikalische Vorbereitung nehme ich mir so viel Zeit wie möglich. Bei Elektra hat das zwei Jahre gedauert. Körper und Seele müssen jeden einzelnen Schritt erfassen. Wie komme ich von dieser Entwicklungsstufe zur nächsten? Das kann man nicht schnell lernen. Wenn man den Stil des Komponisten kennt, geht es vielleicht ein bisschen schneller, aber anderthalb Jahre sind das Mindeste. Die Vorstellungen mit den anderen Rollen laufen ja währenddessen weiter, so dass auch nicht immer Zeit ist, um sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Eine andere Katerina, nämlich Leoš Janáceks Katja Kabanova wendet eine ähnliche Situation nach innen und flüchtet schließlich in den Suizid, ohne sich vorher gewehrt zu haben. Die Geschichte der Katerina Ismailova könnte also auch als die einer starken Frau erzählt werden, die ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt, wenn auch mit schrecklichen Folgen.
Ja, so könnte man das sehen. Es ist eine Frage des Charakters und der inneren und äußeren Möglichkeiten, wie wir unsere Träume umsetzen. Viele der Frauen, die ich auf der Bühne darstelle, können aus ganz verschiedenen Gründen ihre Stärke nicht ausleben. Diese Energie sucht sich dann einen Weg. Ob das die Färberin in der FRAU OHNE SCHATTEN von Richard Strauss ist oder Ortrud in Wagners LOHENGRIN, diese Frauen haben einen sehr starken Willen und wehren sich gegen ein Umfeld, in dem sie ihre Vorstellungen nicht umsetzen können. Nur Klytämnestra halte ich wirklich für hysterisch. Aber diese Rolle kommt erst später dran.
Auf der Bühne strahlen Sie immer große Energie aus, woher nehmen Sie diese Kraft? Wie wichtig sind die Sängerkollegen auf der Bühne?
Die Energie muss aus mir selbst kommen. Es gibt keine andere Quelle. Wenn man Glück hat, hat man Sängerkollegen und einen Dirigenten, die einem entgegenkommen und mit denen sich wie beim Tennis ein Schlagabtausch ergibt, bei dem die Mitspieler die Energie des Gegenübers nutzen können, um selbst Schwung zu gewinnen. Wenn das passiert, ist es ein großes Geschenk, weil dann viel Nähe stattfindet und auch sehr viel Unvorhergesehenes. Dann lebt die Musik in einer ganz anderen Weise auf. Wie diese Energie in mich hinein gekommen ist, das kann ich gar nicht sagen. Jeder Mensch hat ein eigenes Energieniveau und auch eine eigene Art, das auszuleben. Wer dramatische Rollen überzeugend auf die Bühne bringen will, braucht eine gute Kondition und außerdem auch psychische Kraft. Sonst geht das einfach nicht. Phantasie ist auch hilfreich. Meine Umgebung hat manchmal Probleme mit meinen sprunghaften Gedanken. Beim Erarbeiten einer Rolle fallen mir Klänge, Farben und Stimmungen ein, die alle in meine Gestaltung dieser Partien einfließen. Da hat sich im Laufe meiner Berufsjahre einiges angesammelt. Ich habe mir einen Gedanken- und Erfahrungsschatz erarbeitet, den ich nun benutzen kann. Ich muss nicht selbst gemordet haben, um auf der Bühne überzeugend zu morden. Aber ich muss wissen, welche Gefühlszustände einen Menschen zum Mord treiben können. Das muss selbstverständlich geordnet werden, denn ungeordnete Gedanken nutzen auf der Bühne überhaupt nichts, sondern zerstören die künstlerische Tätigkeit. Die Bühne ist ein Ort der Konzentration.
Im Mittelpunkt Ihrer Gestaltung steht immer ein Charakterporträt durch die Musik. Man tritt Ihnen kaum zu nah, wenn man feststellt, dass Ihnen Glaubwürdigkeit der Bühnenfigur im Zweifelsfall wichtiger ist als gesangstechnische Perfektion. Wie wägen Sie diese Positionen gegeneinander ab?
Da muss ich eine Gegenfrage stellen: Was ist eigentlich gesangstechnische Perfektion? Gibt es das überhaupt? Und wer oder was entscheidet darüber? Die Darstellenden Künste, zu denen die Oper auf jeden Fall gehört, entstehen immer durch Menschen in diesem einen Moment. Das kann gar nicht perfekt sein. Als Sänger befinden wir uns immer sehr nah an unseren eigenen Emotionen und müssen uns entscheiden, wie wir eine Balance erreichen. Selbstverständlich muss ich mit meiner Gesangstechnik die Rolle überhaupt bewältigen können, das ist die unabdingbare Grundvoraussetzung. Ich muss einen Ton und eine musikalische Linie angemessen darstellen können. Das hat aber nicht immer etwas mit Ebenmaß zu tun. Manchmal verlangt der Ausdruck dessen, was in diesem Menschen vorgeht, eine andere Färbung, vielleicht eine Übertreibung, unter der die musikalische Linie auch mal leidet. Mir war und ist dabei immer wichtig, dass ich mit meinen Partien wachse und dass ich besser werde. Es gibt Rollen, bei denen ich vor einigen Jahren noch sehr viel Respekt vor bestimmten Stellen hatte und jetzt merke, wie selbstverständlich ich sie inzwischen bewältigen kann. Eine Stimme verändert sich im Laufe der Jahre. Die Stimmbänder funktionieren nicht wie ein Konzertflügel, bei dem man einfach den Stimmer kommen lässt, wenn er nicht mehr in Ordnung ist. Ich singe heute ganz anders als vor zwanzig Jahren. Früher habe ich mich selbst beim Singen nicht so stark kontrolliert, wie ich das heute mache. Ganz ausgeschaltet habe ich diese Selbstkontrolle nie, aber mein Gesang ist heute viel bewusster. Das geht so weit, dass auch Menschen zu mir gekommen sind und sagten: „Kannst du nicht mal wieder mehr die Sau raus lassen?“ Das habe ich als Kompliment verstanden, denn ich suche immer nach der Balance zwischen Kontrolle und Emotion. Darüber hinaus werden wir von Anfang an in der Hochschule dazu erzogen, ständig besser zu werden. Immer wieder heißt es, das war noch nicht gut genug. Alle guten Sänger haben das vollkommen verinnerlicht. Wir merken selbst, wenn etwas nicht glückt in einer Aufführung, wir grübeln ständig darüber, was wir noch verbessern können.
Als Künstlerin müssen Sie diese Entscheidungen täglich treffen. Wie gehen Sie mit der Verantwortung gegenüber der Partitur um, die Sie erst zum Leben erwecken?
Ich habe zum Beispiel kürzlich angefangen, mir Giuseppe Verdis Lady Macbeth zu erarbeiten. Da kommen auch Triller vor, wie ich sie zuletzt im Studium gesungen habe. Ich saß also da, schaute in den Klavierauszug und dachte, „was fängst du jetzt damit an? Was bedeuten diese Triller im jeweiligen Zusammenhang, wie fülle ich sie mit Leben und Inhalt?“ Außer den paar Trillern der Brünnhilde kommt so etwas in meinen Rollen überhaupt nicht vor. Ich muss mir beispielsweise überlegen, wie ich in die Bruststimme wechsle, mit welcher Attacke und mit welchen Farben. Was will die Lady Macbeth an dieser oder jener Stelle erreichen und wie werde ich das musikalisch gestalten? Warum steht dort dieser Akzent, diese Dynamik und so weiter? Warum singe ich diese Rolle überhaupt? Wie will ich das szenisch darstellen, wie bewegt sich diese Figur? Da treffe ich immer wieder Entscheidungen, die ich wahrscheinlich in zwei Jahren teilweise wieder revidieren werde. Erst in der konkreten Aufführungssituation werde ich feststellen können, ob meine Entscheidung richtig war. Und immer wieder die Frage: Wie schaffe ich die optimale Balance zwischen Gesang und Darstellung, so dass beides ineinanderfließt und für den Zuschauer eine absolute Kongruenz stattfindet. Das ist ja auch ein ganz entscheidender Aspekt: Dass ich für mein Publikum singe, es einbeziehe in die Musik und die Innenwelt der Bühnenfigur. Der ideale Sänger schafft die Balance. Er holt das Optimum an Ausdruck und Schönheit aus der Musik und schafft es, das Publikum mit einzubeziehen. Mit dieser Aufgabe wird man im Laufe seiner Karriere nie fertig. Besonders wenn man charakterlich so aufgestellt ist wie ich und immer mit 100 Prozent dabei ist.
Ihren Bühnendarstellungen ist die Lust an der Oper immer anzumerken. Können Sie sich überhaupt vorstellen, etwas ganz anderes zu machen?
Ja sicher. Jetzt ist Singen dran, ganz klar, aber es gibt noch so viele anderen Dinge, die mich interessieren. Ich denke auch, man sollte als Sänger immer Plan B [oder C] in der Tasche haben, denn die Gefährdungen in diesem Beruf sind immens. Und es gibt auch ein Leben jenseits des Gesangs! Wenn sie sich diesen Raum nicht schaffen, stehen sie am Ende ihrer Karriere mit nichts da außer ihren Erinnerungen. Ich singe das hochdramatische Fach nun auch schon seit vielen Jahren und bin dafür unendlich dankbar. Wenn das aber irgendwann nicht mehr geht, dann mache ich etwas anderes. Das ist natürlich ein Widerspruch in sich, denn man muss alle Energie mobilisieren in diesem Beruf, sonst geht es nicht. Aber man muss auch eine Vision haben, was man danach machen möchte, sonst bleibt man zu sehr in der Eigendrehung gefangen. Tröstlicherweise gibt es ja für eine dramatische Sopranistin immer noch die Mütterrollen.
Aus dem Deutsche Oper Magazin, September 2014