Die Liebe als Kunst – des Überlebens - Deutsche Oper Berlin
Die Liebe als Kunst – des Überlebens
Zwölf junge Theatermacher entwickeln „LoveAffairs“ und bespielen dabei die gesamte Tischlerei
Aus: Beilage zur Berliner Morgenpost, Juni 2014 / von Annette Zerpin
Tenor Jörg Schörner steht auf einer Art Laufsteg und streckt mit gewaltiger Schadenfreude einem unsichtbaren Gegenüber den Zeigefinger hin: „Ehehehehehehehe….“ Gesungenes Gelächter schüttelt seinen Leib. „Zeig’ ruhig noch mehr Zunge, das ist gut so!“ ruft Regisseurin Margo Zalite. Über dem Kopf von Sopranistin Bini Lee meint man derweil beinahe eine Glühbirne aufleuchten zu sehen, so deutlich mimt sie einen erfreuten Erkenntnisvorgang: „Aaaaaaaaaaaaah!“ Eine Reaktion auf das Verhalten ihres Kollegen ist es nicht, wie aufgezogene mechanische Puppen wiederholen die beiden jeder für sich Gestik und Mimik.
Dann hebt Margo Zalite ein kleines Plakat mit dem Buchstaben F in die Höhe. Schörner greift zum am Boden liegenden Degen – und stellt dabei fest, dass er sich in seiner Kniebundhose schlecht bücken kann. Kurze Pause, die Assistentin der Kostümbildnerin sprintet auf die Bühne und versetzt provisorisch die Knöpfe in der Kniekehle. Kein Problem, die Proben zum Einakter mit dem doppeldeutigen deutsch-englischen Titel „Fall“ haben ja erst begonnen. Er ist Teil von „LoveAffairs“, vier jeweils halbstündigen, sehr unterschiedlichen Kurzopern, deren Bindeglied die Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen romantischer Liebe ist.

Die Frage, ob das Musiktheater zu seinem jahrhundertealten Kernthema überhaupt noch etwas Neues zu sagen vermag, treibt zwölf junge Komponisten, Regisseure, Dramaturgen, Dirigenten, Bühnenbildner und Kulturmanager um. Die Stipendiaten des Jahrgangs 2011-13 der „Akademie Musiktheater heute“ der Deutsche Bank Stiftung realisieren in der Tischlerei ihre Abschlussproduktionen. Angesichts der Ausstattung besteht keine Gefahr, dass man sich im Laufe des Abends mit Brechts auch bald 100 Jahre altem Befehl „Glotzt nicht so romantisch“ zur Ordnung rufen muss: Von Liebeslaube keine Spur, die Imitation einer Lagerhalle dient allen vier Stücken als Spielort. Videowände, Kofferstapel, eine Hebebühne und zwei große Kunststofftiere, dazu fahrbare Kleiderstangen, eine Reihe gelber Wartesaalstühle und eine alte Gartenbank wurden scheinbar planlos im Raum verteilt. Neongelbe Zahlen in Quadraten auf dem Boden erinnern an Hüpfspiele auf dem Schulhof oder Bingo-Karten.
Auf die Frage, wer in ihrem „Fall“ denn nun wen liebe, lacht Margo Zalite: Das experimentelle Stück sei eine recht „ungewöhnliche Aufgabe“, es gebe keine Erzählung und kein Liebespaar. Die beiden schon optisch gegensätzlichen „Königinnen“ Jörg Schörner und Bini Lee verkörpern Schicksalshaftigkeit und Berechenbarkeit. Zwischen diesen imaginären „Herrinnen“ haben sich Opernpersonal und reale Menschen gleichermaßen zermürbt und abgekämpft. Margo Zalite dagegen betrachtet die Liebe als Zufallsgut: „Viele kleine Gefühle erzeugen das Lebensgefühl.“ Es gibt Spielraum Variationen, aber keine große Linie. Chorkinder geben den Königinnen per Buchstabenanzeige vor, welchen Abschnitt der in Blöcken gegeneinander versetzten Partitur sie als nächstes singen sollen, entthronen sie und karren sie zur Müllkippe. Dass Margo Zalite nächste Saison in ihrer Geburtsstadt Riga „ganz klassisch“ „Rigoletto“ inszeniert, eines der ganz großen Liebes- und Rachedramen, zeigt allerdings, dass die beiden Königinnen immer noch zugkräftige Überlebenskünstlerinnen sind, die Opernbühne und Fantasie weiterhin beherrschen.

Oscar Wildes und Jean Genets berühmte Vorlagen zu den „LoveAffairs“-Stücken „Die Nachtigall und die Rose“ und „Querelle“ stellen Bestimmung, Hörigkeit und Liebestod noch gar nicht grundsätzlich in Frage: Die Nachtigall opfert Herzblut und Leben für die botanische Liebesgabe des unglücklich entflammten Studenten, und die gefährliche Anziehungskraft des Matrosen Querelle besiegelt das Schicksal seiner Opfer. Durch Dopplung und Kontrastierung von Spiel- und Videoszenen wird dem Publikum jedoch drastisch vor Augen geführt, dass Querelle jederzeit zugleich „Mörder, Verführer und Dieb, Außenseiter und Heiliger“ ist.
Bei der technischen Umsetzung ihrer Ideen mussten sich die Stipendiaten an die zahlreichen Routineabläufe im großen Opernhaus erst gewöhnen: „In der freien Szene probt man einfach solange wie nötig. Hier muss man den Raum, die Musiker, den Orchesterwart und alles andere minutiös organisieren und hat dann genau zwei Stunden Zeit für die Probe“, erzählt Komponistin Birke Bertelsmeier. Diese strukturierte Arbeitsweise habe natürlich auch Vorteile: Man wird tatsächlich pünktlich fertig. Manchmal ist der Zufall trotzdem maßgeblich am Ergebnis beteiligt. Durch die Neuproduktion von Brittens Seemanns-Oper „Billy Budd“ zur gleichen Zeit standen für „LoveAffairs“ kaum männliche Ensemblemitglieder zur Verfügung. Nach dem ersten Schreck habe man die Männerpartien von „Querelle“ in Hosenrollen umgewandelt. Die Wirkung der androgyn verfremdeten Matrosenwelt stellt nun eine besondere Stärke der Inszenierung dar, ist Bertelsmeier sicher.

Selbst „Musical Land“, Schauplatz des vierten Einakters, ist an diesem Abend keine sichere Bank für Liebhaber einfacher Lösungen: Wenn ausgerechnet der strenge Arnold Schönberg auftaucht, um den letzten Überlebenden des abgebrannten Königreichs der leichteren Muse ihren Glauben an die genretypischen Werte Liebe und Optimismus zurückzugeben, ahnt man bereits nichts Gutes. Der Versuch schlägt fehl: Evita, Maria von Trapp und Little Orphan Annie versagen dabei, sich glücklich zu singen. Das letzte Wort hat die „Neue Musik“ in Gestalt des Komponisten, der zur Waffe greift, um die Damen von ihrem Elend zu erlösen. Eine höchst ironische Abrechnung inklusive einer Prise maliziösen Wunschdenkens: Stellt doch das Genre Musical seine Unverwüstlichkeit regelmäßig unter Beweis, ohne dass ein Ende absehbar wäre.