Helden für eine neue Welt – Vasco da Gama - Deutsche Oper Berlin
Ein Essay von Jörg Königsdorf
Helden für eine neue Welt – Vasco da Gama
Vor diesem Helden kann einem angst und bange werden: Einen ganzen Subkontinent will der portugiesische Abenteurer Vasco da Gama erobern – und das gar nicht einmal für sich selbst, sondern vor allem zur höheren Ehre seines Vaterlands. Während die Tenorhelden älterer Opern in der Regel damit zufrieden waren, ihre Angebetete vor den Traualtar führen zu können, gilt die Liebe des Titelhelden von Giacomo Meyerbeers letzter Oper dem Ruhm, der sich durch große heroische Taten erringen lässt. „O doux climat“ staunt Vasco, als er endlich den Boden Indiens betreten darf, und offenbart die Triebfeder seines Begehrens: Die Schönheiten, die in dieser lange unter dem Titel „O Paradis“ berühmten Tenorarie beschrieben werden, gelten keiner Frau, sondern einem Land. Ziel ist nicht mehr die Vereinigung zweier Herzen, sondern der Akt der Eroberung fremder Reiche.

Und anders als die Heroen älterer Prägung, deren Tatendrang durch einen glücklichen Opernschluss befriedigt wurde, wissen wir im Falle Vascos, dass sein Entdecker- und Eroberer-Elan unstillbar ist und dieser Held nicht eher ruhen wird, bis er seinem Vaterland den gesamten Erdkreis unterworfen hat. Damit steht Meyerbeers Vasco für einen Opernhelden neuen Typs, der genau zu dem Zeitpunkt die Opernbühne betritt, in dem die Welt erstmalig als beherrschbares Ganzes bewusst wird. Zwar hatten die großen europäischen Mächte schon Jahrhunderte vorher – in der Ära von Vasco da Gama, Kolumbus und Magellan – begonnen, sich andere Erdteile zu unterwerfen. Doch hatte erst die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts die Distanzen soweit minimiert und die technischen Möglichkeiten von Kontrolle und Ausbeutung soweit verbessert, dass diese Kolonien mitsamt ihren Ressourcen als echte Teile der jeweiligen Imperien gelten konnten. Es ist sicher kein Zufall, dass die Oper auf diese neue weltpolitische Situation, in der das Wettrennen um globale Expansion zum Hauptschauplatz der Rivalität europäischen Großmachtstrebens wurde, nicht nur mit neuen Opernstoffen, sondern auch mit neuen Helden antwortet. Denn Meyerbeers Vasco ist 1865, mitten in der Hochphase des Second Empire und seiner weltpolitischen Ambitionen, zwar der erste Welteroberer, der das Licht der Opernwelt erblickt, doch auch Hector Berlioz und Richard Wagner haben zu diesem Zeitpunkt bereits solche Opernhelden neuen Zuschnitts konzipiert. Auch der Aeneas in Berlioz’ DIE TROJANER wird durch die Vision angetrieben, ein Weltreich zu begründen, auch der unstillbare Tatendrang Siegfrieds ist im RING DES NIBELUNGEN in die Frage der Weltherrschaft eingespannt. Für alle diese Helden ist hingegen die sexuelle Vereinigung mit einer Frau nur eine Durchgangsstation, die offenbar keine andauernde Erfüllung bietet, sondern im Gegenteil den Eroberern ihre eigentliche Bestimmung „zu neuen Taten“ erst bewusst macht.
Die erotischen Anziehungskräfte von Meyerbeers Inderkönigin Selica, Berlioz’ Dido und Wagners Brünnhilde erlöschen mit dem körperlichen Vollzug. Die Strategie, den Helden sinnlich und emotional zu binden, funktioniert nicht mehr, da Sendungsbewusstsein und Vaterlandsliebe das Ideal einer glücklich-privaten Zweisamkeit ersetzt haben. Zurück bleiben am Ende die Frauen, während die Helden tot am Boden liegen oder, wie im Fall von Aeneas und Vasco, längst weiteren Ruhmestaten entgegeneilen. Im VASCO gehört die letzte halbe Stunde allein der verlassenen Selica, die, nicht anders als Dido in DIE TROJANER und Brünnhilde im RING, für diejenigen steht, die beim Rennen um die Weltherrschaft auf der Strecke bleiben. In einem Jahrhundert, das im öffentlichen Leben die Frau zu einer beispiellosen Passivität verurteilt hatte, verleihen Meyerbeer, Berlioz und Wagner ihr eine Stimme. Diese Opernfrauen sind nicht nur die Sympathieträgerinnen und durch ihre Finalszenen die dominierenden Figuren, sondern repräsentieren ebenfalls einen Frauentyp neuen Zuschnitts. In der Utopie Brünnhildes wie im Scheitern von Dido und Selica, die ja beide als Herrscherinnen untergehender Völker auftreten, wird eine Alternative zum imperialistischen Eroberungsdrang der männerdominierten Gesellschaft beschworen. Eine Welt, in der Völker einander nicht unterwerfen, sondern gemeinsam an einer besseren Zukunft bauen. Und das ist immer noch fast zu schön, um wahr zu sein.
Erschienen im Magazin Deutsche Oper als Beilage im Berliner Tagesspiegel, September 2015