„Ich möchte, dass die Figur aus mir heraus kommt“ - Deutsche Oper Berlin
Ein Gesprächsprotokoll von Martina Helmig
„Ich möchte, dass die Figur aus mir heraus kommt“
Wie wäre das wohl, im Jahr 2316 noch zu leben? Ob dann noch Opern gespielt werden? Das ewige Leben ist ein Menschheitstraum – den aber nicht jeder teilt. „Nein!“ sagt Evelyn Herlitzius mit erstaunlicher Vehemenz.„Ich wäre wirklich nicht gern unsterblich. Ich lebe furchtbar gern, finde es aber in Ordnung, wenn es irgendwann vorbei ist.“ Auch eine Lebensverlängerung um 300 Jahre wie in Leos Janáceks Oper DIE SACHE MAKROPULOS wäre für sie keine Option. „Ich glaube, dass das Menschsein nur in der Polarität funktioniert: dunkel und hell, sauer und süß, Liebe und Hass bis hin zu Leben und Tod“, erklärt die Sopranistin.Nicht einmal ihr Nachruhm als Sängerin ist ihr wichtig. Sie sieht ihre CDs weniger als historische Dokumente, denn als Momentaufnahmen, festgehaltene Augenblicke. Sie hat noch nie darüber nachgedacht, ob ihre Aufnahmen lange nach ihrem Tod noch gehört werden. Im Opernhaus, bei ihren Vorstellungen möchte sie die Menschen erreichen, nachhaltig bewegen. Nur das ist ihr wichtig.
Die klassische Moderne findet sie spannend, von Janácek hat sie schon JENUFA und KATJA KABANOWA im Repertoire. Sie setzt sich mit ihren Partien lange auseinander, bricht aber auch gern in lautes, ansteckendes Lachen aus. Nun spielt sie also eine mehr als 300 Jahre alte Frau. Diese Emilia Marty ist die Tochter eines Alchemisten, der das Rezept für die Lebensverlängerung gefunden hat. Sie ist durch die Jahrhunderte gewandelt, hat viel Leid gesehen, alle geliebten Menschen verloren. „Die Lebensverlängerung hat ein Wrack aus ihr gemacht, einen zutiefst unglücklichen, isolierten, verbitterten Menschen“, erklärt Evelyn Herlitzius ihre Rolle. In der Oper sagt Emilia Marty: „In mir ist das Leben stehen geblieben.“ Sie beklagt „diese furchtbare Einsamkeit“. Neidisch ist sie auf die Sterblichen: „Ihr Dummen seid so glücklich, weil der dumme Zufall euch so früh sterben lässt.“
Sie spürt nun, dass die lebensverlängernde Maßnahme nachlässt und der Todeszeitpunkt herannaht. Sie setzt alles daran, das Rezept des Lebenselixiers wiederzufinden, das sie vor langer Zeit ihrem Geliebten gegeben hat. Sie steckt in einem furchtbaren Konflikt: Zwar leidet sie unter ihrem Leben, kann es aber trotzdem nicht loslassen. Die Sängerin erklärt sich das so: „Wir Menschen sind so konstruiert, dass es uns schwer fällt, uns von etwas zu verabschieden. Interessanterweise hängen wir nicht nur an schönen Dingen, sondern auch an unserem Unglück. Viele bleiben über Jahrzehnte in Beziehungen verhaftet, die ihnen überhaupt nicht gut tun. Man gewöhnt sich offenbar auch an das Leid.“
„Die Sache Makropulos“ braucht unbedingt eine Sängerdarstellerin von Format. Eine Sopranistin, die der Partie nicht nur stimmlich gewachsen ist, sondern die den ganzen Abend mit der Kraft ihrer Persönlichkeit trägt. Emilia Marty ist der Fixstern der Aufführung, eine phantastische Figur mit einer einzigartigen Aura, die die Männer anzieht und sie verbrennt. Auf die Interpretation von Evelyn Herlitzius darf man sehr gespannt sein, denn die Sopranistin zählt zu den besten, engagiertesten und intelligentesten Sängerdarstellerinnen unserer Tage.
Wie spielt man eine Frau mit dieser monströsen Lebenserfahrung? „Es wäre ein Fehler, 300 Jahre spielen zu wollen, das kann ich nicht erzählen. Ich kann diese Riesenspanne nur über den Gefühlszustand schildern, in dem sie sich befindet.“ Im Libretto wird sie an einer Stelle „kalt wie Eis“ genannt. Es gehört zu den Aufführungstraditionen, diese Kälte der Emilia Marty besonders herauszustellen. Evelyn Herlitzius wehrt sich dagegen: „Ich möchte vermeiden, dass da so ein Eisschrank auf die Bühne kommt.“ Sie legt auch keinen gesteigerten Wert auf den Glamoureffekt. Emilia Marty ist eine umschwärmte Sängerin wie sie selbst, und doch ist es nicht die Geschichte eines Stars. Sie ist ein faustischer Charakter, irgendwo auch eine Verwandte des Fliegenden Holländers. „Die Frist ist um“, heißt es im Holländer-Monolog. Das ist auch Emilia Martys Situation zu Beginn der Oper. Sie ist am Ende ihrer Kräfte und reißt sich doch immer wieder hoch, weil sie etwas unglaublich Dringendes zu erledigen hat. Um an das Rezept zu kommen, muss sie sich in einen komplexen Gerichtsprozess einmischen. Sie muss Stärke zeigen und sehr überzeugend sein. Auf ihre Umgebung wirkt Emilia Marty unnahbar, wie eine Erscheinung.
Evelyn Herlitzius vergleicht sie mit einer Muschel: „Sie hat nach außen eine harte Schale, doch die öffnet sich immer weiter, bis man die hochverletzlichen Weichteile sehen kann.“ Interessant ist, dass Emilia Marty am Ende umdenkt, das Rezept verschenkt und bewusst in den Tod geht. Warum? Evelyn Herlitzius glaubt, dass sich Janácek eine Nahtoderfahrung vorgestellt hat. Sie kommt mit Todesangst auf die Bühne und wird im Lauf des Stücks immer schwächer. Im dritten Akt gibt es eine Szene, in der sie wirklich zu Boden geht. Danach ist sie vollkommen verwandelt. Die Musik ändert sich, es klingt mehr wie eine Art Requiem. Ihre ersten Worte sind: „Es war ja so schön, da wo ich war.“ Danach hat sie keine Angst mehr und kann loslassen.
Musikalisch ist die Partie eine interessante Herausforderung. Sie ist wegen der ständig wechselnden Rhythmen, Tempi und Phrasierungen schwer zu lernen. Der Orchesterpart ist klanglich mitreißend und ungewöhnlich instrumentiert, während die Singstimme in Janáceks aus der tschechischen Sprache entwickelten Rezitativik deklamiert. Silben verwandeln sich in Töne, Wörter in Motive. In dem Konversationsstück beginnt die Musik zu sprechen, und sie analysiert die Emotionen der Figuren präzise.
Evelyn Herlitzius hat die Partie über Jahre immer wieder studiert. Zum Rollenstudium braucht sie Freiräume zu Hause in Dresden. Während einer Aufführungsserie, wenn sie mit voller Hingabe Isolde oder Brünnhilde singt, kann sie sich auf nichts anderes konzentrieren. Nur in den vorstellungsfreien Zeiten befasst sie sich mit den neuen Noten und der Sekundärliteratur. CDs legt sie lieber nicht auf. „Wenn ich Kolleginnen hören würde, hätte ich Angst, dass mich das in meinem eigenen Zugang blockieren könnte. Ich möchte, dass die Figur aus mir selbst heraus kommt.“ Gemeinsam mit ihrem Tschechisch-Coach hat sie den ganzen Text aufgeschrieben, mit einer Wort-für-Wort-Übersetzung und ihrer ganz persönlichen Lautschrift darunter. Irgendwann kommt dann das Stadium, in dem die gelernten Phrasen auch beim Einkaufen in einer Endlosschleife durch den Hinterkopf rattern.
An der Deutschen Oper Berlin gastiert sie immer wieder mit ihren großen Rollen. Im kommenden April singt sie Elektra, eine ihrer Paradepartien, für die sie vor zwei Jahren den „Faust“-Preis bekam. Sie empfindet es als große Ehre, dass sie 2017 als Brünnhilde in den letzten Vorstellungen von Götz Friedrichs „Ring des Nibelungen“ singen darf. Evelyn Herlitzius hat mit ihren 52 Jahren längst alles erreicht, wovon man als Sängerin träumt. Sie singt die gewaltigsten Partien in den größten Häusern der Welt. Um sich von ihren anstrengenden Abenden zu erholen, macht sie Yoga, geht schwimmen und bemüht sich, möglichst oft einfach dazusitzen und überhaupt nichts zu tun. „Dumm gucken“ nennt sie diese Disziplin, die sie für ihr bestes Fitnessprogramm hält. „Ich möchte in den nächsten Jahren, solange ich noch diese Kraft habe, meine Rollen vertiefen, verfeinern, die Vorstellungen auch einfach genießen“, sagt sie zu ihren Zielen. Außerdem gibt es noch eine Reihe von Partien, die sie reizen würden. Santuzza ist geplant, Judith wäre ein Wunsch.
In den Opern, die sie in ihrem hochdramatischen Fach singt, geht es oft um die letzten Dinge. „Die Sache Makropulos“ findet sie einfach faszinierend, weil die Geschichte so viele interessante Fragen aufwirft: Was bedeutet Leben für uns? Welche Qualität soll mein Leben haben? Wie wichtig ist die Länge eines Lebens? Auch die Frage nach der ewigen Jugend ist heute so aktuell wie zu Janáceks Zeit. Ebenso der Umgang mit dem Thema Tod und der Angst davor. Der Komponist Leoš Janácek stand dem ewigen Leben so kritisch gegenüber wie die Sängerin: „Wir sind deshalb glücklich, weil wir wissen, dass unser Leben nicht zu lange währt. Deswegen ist jeder Augenblick zu nutzen.“
Erschienen in der Beilage der Deutschen Oper Berlin zur Berliner Morgenpost, Februar 2016.