Im Fernduell mit Bellini: ein Meilenstein in Donizettis Karriere - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

Im Fernduell mit Bellini: ein Meilenstein in Donizettis Karriere

Ein Essay von Anselm Gerhard

Opern mit nur einem Akt waren angesagt an der vorletzten Jahrhundertwende. 1830 hatten in allen Künsten Europas romantische Tendenzen Hochkonjunktur: in Caspar David Friedrichs Malerei wie in Victor Hugos Theater, in Lord Byrons Dichtung wie in der Ruinen-Architektur eines Karl Friedrich Schinkel. Das gilt auch für die Musik, wenngleich die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gemeinhin noch der Klassik zugerechnet werden. Schubert war zwei Jahre zuvor gestorben, Chopin, Schumann und Liszt arbeiteten an ihren ersten entscheidenden Werken, am 5. Dezember 1830 ließ Hector Berlioz seine „Symphonie fantastique“ aufführen.

Romantische Ideen prägten auch die italienische Oper jener Zeit. Gleichwohl lagen die Dinge dort ein wenig komplizierter. Noch bis in die 1840er Jahre hinein versuchten vor allem die Librettisten, solche Tendenzen mit den überkommenen Regeln einer klassizistischen Poetik zu zähmen. Ein besonders flagrantes Beispiel für diese Widersprüche in einer historischen Umbruchsituation ist Donizettis Oper ANNA BOLENA, die am 26. Dezember 1830 in Mailand zur Uraufführung kam.

 

Donizetti in Mailand

Die Auftraggeber hatten als Librettisten Felice Romani ausgewählt, den Star unter den damals aktiven Theaterdichtern. Nach einem Studium der Klassischen Philologie war der 1788 geborene Autor 1813 mit einem ersten Libretto an die Öffentlichkeit getreten, für Donizettis Kompositionslehrer Giovanni Simone Mayr. Donizetti selbst hatte erst zweimal Texte Romanis komponiert: 1822 CHIARA E SERAFINA für sein Debüt an der Mailänder Scala, dann 1828 ALINA, REGINA DI GOLCONDA für Romanis Heimatstadt Genua. Romanis Prestige gründete freilich weniger auf solchen Beiträgen zur „opera semiseria“, einer Zwischengattung mit tragischen und komischen Elementen. Seine Reputation verdankte er vielmehr GIULETTA E ROMEO für Vaccaj (1825) und vor allem den ersten beiden (seiner insgesamt sieben) Libretti für Bellini, mit denen dieser an der Scala Furore gemacht hatte.

Auch Donizetti war 1830 längst kein Unbekannter mehr. Im Alter von 32 Jahren hatte er nicht weniger als 28 Opern zur Aufführung gebracht. Doch waren dem Mayr-Schüler aus dem norditalienischen Bergamo durchschlagende Erfolge bisher nur in Neapel gelungen. Dagegen galt der vier Jahre jüngere Sizilianer Bellini mit IL PIRATA (1827) und LA STRANIERA (1829) auf Texte Romanis als neuer Star am italienischen Opernhimmel, was auch an den Gagen abgelesen werden konnte; dazu noch später.

Der erste Auftrag für eine tragische Oper aus Mailand bedeutete für Donizetti also Chance und Herausforderung zugleich. Saverio Mercadante, ein dritter Komponist in der Rossini-Nachfolge, berichtete einem Freund: „Man sagt, dass Dozinetti die Eröffnungsoper für das Teatro Carcano schreiben (nicht komponieren) wird“. Die Buchstaben N und Z in Donizettis Namen vertauschte Mercadante sicher mit böser Absicht: Dozzina ist das italienische Wort für Dutzend. Mit dem Wunsch, für den „Dutzendschreiber“ möge sich das Fiasko seiner Genueser Premiere (ALINA, REGINA DI GOLCONDA) nicht wiederholen, vielmehr solle „Gott mit ihm sein“, legte Mercadante noch ein wenig Häme nach. Doch ging sein frommer Wunsch gleichwohl in Erfüllung. ANNA BOLENA erwies sich nach eher verhaltenen Reaktionen am Uraufführungsabend bei den späteren Aufführungen ganz und gar nicht als Fiasko. Donizetti hatte den richtigen, in manchem Detail Bellini verpflichteten Ton getroffen, als er sich den vermuteten Erwartungen des Mailänder Publikums anzupassen suchte.

 

Eine Tudor-Trilogie?

Doch wie kam Donizetti zu diesem Auftrag aus der Stadt, in der seit 1815 ein Vizekönig im Namen des Wiener Kaisers residierte? Während das Teatro alla Scala (und auch das weniger renommierte Teatro della Canobbiana) von der habsburgischen Regierung üppig subventioniert wurden, hatte im Frühjahr 1830 ein „Triumvirat“ die Leitung des Teatro Carcano übernommen: der einflussreiche Herzog Litta, ein vermögender Seidenfabrikant und ein nicht weniger finanzkräftiger Bankier. Alle drei standen der österreichischen Herrschaft in der Lombardei skeptisch gegenüber. Erklärtermaßen ging es ihnen um Konkurrenz zur Scala. Dafür war das Beste gerade gut genug. Als Bühnenbildner wurde der klassizistisch orientierte Alessandro Sanquirico engagiert, als Primadonna Giuditta Pasta, als erster Tenor Giovanni Battista Rubini.

Das für die Eröffnungsoper ANNA BOLENA gewählte Sujet mag man als „regimekritischen“ Hinweis darauf verstehen, dass eine unkontrollierte monarchische Herrschaft in willkürlichen Terror ausarten kann. Donizetti sollte diese erste der beiden neuen Opern komponieren, Bellini die zweite: Zunächst plante Bellini einen (nie abgeschlossenen) ERNANI, doch am Ende entschied man sich mit LA SONNAMBULA für eine „opera semiseria“. Die beiden Novitäten sind bis heute im Repertoire geblieben. Umso mehr verblüffen die frenetischen Produktionsrhythmen. Romani hatte etwa einen Monat zur Verfügung, um das Libretto für Donizetti zu verfassen, der Komponist dann einen weiteren Monat für die Komposition der Partitur – nach der Überlieferung als Gast Giuditta Pastas in deren Villa am Comersee.

Bei der Verfertigung seines Librettos über Ereignisse aus dem Leben des englischen Königs Heinrich VIII. orientierte Romani sich nicht nur an den historischen Fakten, sondern vor allem an einer italienischen Verstragödie des Grafen Alessandro Pepoli, die 1788 in Venedig erschienen war. Der Shakespeare-Kenner hatte dort den jähzornigen König mit Charakterzügen ausgestattet, die wir von Othello kennen. Die Schwärmerei des jungen Smeton für die Königin ist wiederum aus historischen Quellen bezeugt, in anderen Einzelheiten folgt Romani auch anderen literarischen Bearbeitungen.

Spätestens seit dem Erfolg der historischen Romane des schottischen Schriftstellers Walter Scott galten die britischen Inseln als romantischer Ort par excellence. Eine Geschichte um Heinrich VIII. und zwei seiner sechs Ehefrauen garantierte überdies den Nervenkitzel, um das Publikum – so Bellini wenige Jahre später – „durch den Gesang zum Weinen, Schaudern, Sterben“ zu „bringen“. Neuerdings werden drei Opern Donizettis mit blutigen Sujets aus der Regierungszeit von Heinrich VIII. und Elisabeth I. – neben ANNA BOLENA auch MARIA STUARDA (1835) und Roberto DEVEREUX (1837) – gerne als „Tudor-Trilogie“ etikettiert, wobei IL CASTELLO DI KENILWORTH (1829) übergangen wird, obwohl dort Elisabeth I., also Anne Boleyns Tochter auftritt. Angesichts der völlig unterschiedlichen Kontexte dieser Partituren ist das fast so widersinnig, als ob man aus Puccinis LA BOHÈME (1896), LA RONDINE (1917) und IL TABARRO (1918) eine Paris-Trilogie zusammenschustern wollte.

Wie dem auch sei: Den romantischen Nervenkitzel hat Romani in ANNA BOLENA wiederum klassizistisch gezähmt: Die beiden Akte spielen in Windsor und im Londoner Tower und zwar ausschließlich in Innenräumen. Erst in Salvadore Cammaranos Libretto zu LUCIA DI LAMMERMOOR (nach einem Roman von Walter Scott) sollten dann Klischees von britischer Landschaft bedient werden: Der zweite Akt der 1835 für Neapel komponierten Oper beginnt in einer nächtlichen Ruinen-Architektur.

 

Giuditta Pasta als Superstar

Die (Titel-)Rolle der vom König verstoßenen und dem Henker ausgelieferten Anna Bolena war Giuditta Pasta zugedacht, einer der bedeutendsten Sopranistinnen ihrer Zeit. Die aus der Nähe Mailands stammende Tochter eines Apothekers hatte schon im ersten Jahr ihrer Karriere – kurz nach dem 18. Geburtstag – in Paris und London gesungen, später trat sie auch in Wien auf. Zu ihren Paraderollen gehörten Desdemona in Rossinis OTELLO und die Titelrolle in Mayrs MEDEA IN CORINTO. Anna Bolena, wenig später Amina in LA SONNAMBULA und Norma sollten dann die ersten eigens für sie komponierten Partien in heute noch bekannten Opern sein.

Soweit sich das rekonstruieren lässt, verdankte Pasta ihren Erfolg mehr noch ihrer szenischen Präsenz und ihren darstellerischen Fähigkeiten als einer Stimme, die zwar sehr beweglich, in der Intonation aber nicht immer makellos gewesen sein dürfte – insofern ähnlich der nicht minder legendären Maria Callas, die mit ihrer Interpretation der Titelrolle von ANNA BOLENA 1957 endgültig die DonizettiRenaissance einleiten sollte. (Und damit dem bis heute verbreiteten Irrtum Auftrieb gab, diese Oper aus dem Jahre 1830 sei die erste bedeutende in Donizettis Schaffen. Dabei hatte dieser schon vorher in Neapel neue Bahnen beschritten, sich dort zum Teil sogar experimentierfreudiger gezeigt als 1830 in Mailand.)

Giovanni Battista Rubini stammte ebenfalls aus der Lombardei. 1824 war der Tenor, der mit leichter Stimme auch in den höchsten Lagen brillierte, erstmals in Wien aufgetreten. Dort war er sogar Beethoven begegnet, dessen Klavierlied ADELAIDE wurde zu einem festen Bestandteil seines Repertoires. Auftritte in Paris folgten seit 1825. In den späten 1820er Jahren war er dagegen vor allem in Neapel tätig, wiederholt auch in Donizetti-Uraufführungen. 1827 sang er die Titelrolle von Bellinis IL PIRATA bei der Uraufführung an der Mailänder Scala.

 

Formen und Rollenhierachie

Trotz des romantischen Sujets zeichnet sich ANNA BOLENA durch klar ziselierte Formen aus. Das ist nicht nur Romanis Libretto, mehr noch den wenig flexiblen Konventionen des damaligen Operngeschäfts geschuldet. In der hierarchischen Anordnung der Partien gebührt der Primadonna, hier also der Titelheldin zwingend eine mehrteilige Auftrittsarie, außerdem die ebenfalls mehrteilige „Aria finale“ am Ende der Oper. Dem „prim’uomo“, hier dem Tenor Rubini in der Rolle des Lord Percy, sind ebenfalls zwei mehrteilige Arien zugewiesen, allerdings an weniger prominenter Stelle, nämlich am Ende des ersten und in der Mitte des zweiten Aktes.

Für die weiteren Figuren erlaubte dieser Schematismus flexiblere Lösungen. So hat Annas Rivalin Giovanna Seymour als „seconda donna“ nur eine große zweiteilige Arie – übrigens mit der Tonart E-Dur für beide Sätze tonal in größtmöglicher Entfernung von Es-Dur, der bevorzugten Tonart Annas. Giovannas Arie ist gleichsam in Bellinischer Manier von schmerzlichen Vorhalten und Spitzentönen über dissonanten Akkorden (wie Sept-Nonen- oder verminderten Sept-Akkorden) geprägt. Im ersten Akt wird Enricos Geliebte gleich nach dem Eröffnungschor mit einem als „Sortita“ bezeichneten kurzen Arioso eingeführt. Smeton hat im Anschluss an diesen „Auftritt“ ein Solo, auf das gleich noch einzugehen ist. Außerdem singt er eine einsätzige Cavatina gegen Ende des ersten Aktes. Im Arioso vor dem eigentlichen Solo fällt dort die chromatische Wendung zu den Worten „un bacio, un bacio ancora“ ins Ohr; sie mag als literarisches Echo einem markanten Ausruf in Shakespeares OTHELLO verpflichtet sein.

Auch an anderen Stellen wird deutlich, wie Donizetti mit solchen Ariosi systematisch die klare Trennung von Arie und Rezitativ aufbricht. Gleichzeitig zeigen Korrekturen in Donizettis handschriftlicher Partitur, dass er Verse Romanis gestrichen hat, um seiner Oper eine ruhelose, voranpeitschende Spannungskurve einzuschreiben. Auch wenn wir vom Libretto nur die endgültige Druckfassung kennen, ist es also wahrscheinlich, dass Donizetti auch einige rezitativische Passagen kürzer gefasst hat.

 

Ein König als Nebenrolle

Kein einziges Solo ist dagegen der Figur zugestanden, die allein für die mörderische Dynamik der Intrige verantwortlich ist. Zwar tritt Enrico als König mehrmals in ausgedehnten Ensembles auf, so im ersten Akt im Duett mit Giovanna Seymour, im zweiten Akt im Terzett mit Anna und Percy, doch nie in einem Monolog. Das hat seine dramaturgische Logik, weil Enrico als despotischer Charakter gezeichnet wird, dem nichts ferner liegen könnte als das Nachdenken über eigene Gefühle und seine Entscheidungsmöglichkeiten.

Donizetti unterstreicht diese gewalttätigen Züge mit tonalen und rhythmischen Elementen. Als Tonart weist er dem König von Anfang an bevorzugt das majestätische, traditionell mit Pauken und Trompeten verbundene D-Dur zu. Dies fällt umso mehr auf, weil die Oper nach der Ouvertüre in D-Dur mit einem scharfen Schnitt in Es-Dur (und es-Moll) begonnen hatte, einer Tonart, die Donizetti vor allem für Anna einsetzt. Im D-Dur-Duett des Königs mit seiner Geliebten im ersten Akt herrscht ein trommelnder Rhythmus aus zwei oder drei kurzen Auftaktnoten und einer längeren Note vor, zunächst nur in den Violinen, dann verstärkt von den Hörnern, schließlich mit Trompeten und Pauken deutlich als Versatzstücke von Militärmusik kenntlich gemacht. In der Stretta des Terzetts im zweiten Akt unterlegt Donizetti dem Zorn des Königs über Annas vermeintliche Untreue („Abborrito, infamato, rejetto | Il tuo nome, il tuo sangue sarà“) grobschlächtige Ketten von Sextakkorden.

 

Eifersucht und Barmherzigkeit

Nicht weniger differenziert zeichnet Donizetti die Titelfigur. Der ersten Arie der Primadonna ist – auch dies der Konvention geschuldet – zunächst ein Chor, dann Giovanna Seymours erwähnte „Sortita“ und drittens ein Solo einer Nebenfigur vorgeschaltet. Eine solche spannungssteigernde Teleskop-Dramaturgie ist für die Oper der Zeit – wie auch noch im Film des 20. Jahrhunderts – charakteristisch. Doch wie Donizetti den langsamen Satz der Arie Annas einführt, ist unerhört. Smeton singt ein mehrstrophiges Lied, das von chromatischen Durchgangsnoten in Tonleiterausschnitten geprägt ist. Die strophische Anlage überrascht, war sie doch damals nur in der französischen Oper gebräuchlich. Erst später, etwa in Donizettis LUCREZIA BORGIA (1833) oder Verdis UN BALLO IN MASCHERA (1859) sollte sie sich auch in Italien durchsetzen. Doch als Smeton mit den Worten „Quel primo amor che…“ zu einer dritten Strophe ansetzt, unterbricht ihn Anna mitten im ersten Vers. Hier hat der Komponist dem Librettisten einen Strich durch dessen klassizistische Rechnung gemacht: Der vermeintliche Beginn einer neuen Strophe fehlt im gedruckten Libretto. Donizetti geht es – ganz „romantisch“ – um einen schrillen Kontrast. Zu Annas Einwurf, Smeton möge aufhören, zwingt der Komponist die Streicherbegleitung von Es-Dur nach es-(oder dis-)Moll, bevor mit einer Modulation über h-Moll und g-Moll dann G-Dur, die Tonart von Annas langsamem Satz erreicht wird.

Auch in der Finalarie der Primadonna bricht Donizetti die formalen Konventionen auf. Seit Rossini (und noch bis in die 1880er Jahre) umfasste in der italienischen Oper eine große Arie stereotyp einen langsamen Satz und eine abschließende „Cabaletta“ in schnellerem Tempo. Donizetti komponiert für Anna aber gleich zwei langsame Sätze, ihre Arie ist also dreisätzig. Die beiden „Cantabili“ ähneln sich durch den identischen 2/4-Takt. Doch machen das Versmaß und der Gestus der Melodien den Unterschied. Im ersten Satz in F-Dur („Al dolce guidami“), von Romani als Cantabile vorgesehen, träumt Anna in fünfsilbigen Versen mit abwärtsgerichteten Melodien von einer Rückkehr ins traute Heim der Kindheit. Das zweite „Cantabile“ in G-Dur hat Donizetti dagegen aus rezitativischen siebensilbigen Versen Romanis geschöpft. In aufwärtsgerichteten Melodien deutet sich bereits an, dass die dem Wahnsinn verfallene Anna wenig später zur Vernunft zurückfinden wird. In der Cabaletta hat sie dann „ihre“ Tonart Es-Dur erreicht und fügt sich in ihren Tod: Nicht „vendetta“ (Rache), sondern „perdono“ (Verzeihen) schreibt sie sich auf ihre Lippen.

Dieser Kontrast von Rachedurst und christlicher Barmherzigkeit ist bereits im großen Duett Giovannas und Annas am Beginn des zweiten Aktes angelegt. Wie eine Furie ruft Anna dort Gott an, dessen „strafender Arm“ möge das „Haupt“ der Rivalin niederschmettern („Sul suo capo aggravi un Dio“). Schnelle Wortwechsel prägen das eröffnende Maestoso, ein gemeinsames Singen wäre unvorstellbar. Doch im langsamen Satz („Dal mio cor punita io sono“) macht Giovanna ihre Naivität geltend, ihr Flehen um Verzeihung beginnt Anna zu erweichen. In der Cabaletta („Va, infelice, e teco reca“) proklamiert die Königin „il perdono di Bolena“, auch wenn die Chromatisierung der Melodie und die Moll-Tonart durchaus Zweifel aufkommen lassen können, wie sehr dieses Verzeihen von Annas Herzen kommt. Jedenfalls finden – nach einer Modulation von a-Moll nach C-Dur – die Stimmen in wohlklingenden Terzen zusammen.

 

Ein Fernduell in klingender Münze

Carlo Ritorni, ein opernbegeisterter Aristokrat aus Reggio Emilia im Herzogtum Parma sollte 1834 in seiner Kritik von ANNA BOLENA Donizetti „den eifrigsten und vielleicht den beflissensten der Rossini-Nachahmer“ nennen: „Librettist, Sänger und Zuhörer verlangten von ihm Bellinische Musik, und auf unerwartete Weise gab er sie“. Zum ersten Mal war Donizetti auch in Mailand in aller Munde, nun konnte er in derselben Liga wie Bellini spielen. Dabei hatten die 1830 ausgehandelten Gagen noch den höheren Marktwert Bellinis gespiegelt: Donizetti erhielt für seinen Kompositionsauftrag insgesamt etwas mehr als 4 300 österreichische Lire, Bellini für LA SONNAMBULA mit 12 000 Lire fast das Dreifache – dieselbe Summe, die übrigens auch dem Bühnenbildner Sanquirico gezahlt wurde, allerdings für die gesamte Spielzeit. In Beziehung setzen muss man solche Beträge nicht nur zu den exorbitanten Sänger-Gagen (fast 46 000 Lire für Pasta, etwas mehr als 40 000 Lire für Rubini), sondern auch zu den damals gezahlten Löhnen. Das Jahreseinkommen eines Direktors einer Grundschule (oder eines Gymnasiallehrers) belief sich in Mailand am Anfang der 1830er Jahre auf etwa 2 300 Lire.

Auch wenn diese Spielzeit in die Operngeschichte eingehen sollte, endete das wagemutige Unternehmen ökonomisch in einem Fiasko. Am Ende musste das Triumvirat 240 000 österreichische Lire, fast die Hälfte der gesamten Kosten aus eigenen Mitteln zuschießen, also genauso viel wie die Subvention der Regierung für die beiden anderen Opernhäuser alla Scala und della Canobbiana, wo 1832 Donizettis komische Oper L’ELISIR D’AMORE aus der Taufe gehoben werden sollte.

Von der weiteren Verwertung der neuen Opern profitierte das Triumvirat dann genauso wenig wie die Komponisten. Pasta und Rubini gingen mit ANNA BOLENA und LA SONNAMBULA auf Tournee. Wie ein halbes Jahrhundert später Verdis MESSA DA REQUIEM vermarkteten sie die neuen Werke mit (einem Teil) der Uraufführungsbesetzung in der Art eines internationalen Wanderzirkus. Am 8. Juli 1831, gerade ein halbes Jahr nach der Uraufführung wurde ANNA BOLENAam King’s Theatre in London gegeben, am 28. Juli folgte LA SONNAMBULA. Am 1. September 1831 gab es am Théâtre-Italien die Pariser Erstaufführung von Donizettis Oper, am 28. Oktober diejenige Bellinis. Mit anderen Sängern konkurrierten 1833 in Wien gleich zwei Produktionen von ANNA BOLENA, am Königsstädtischen Theater in Berlin wurde die Oper am 26. August 1833 erstmals gespielt. Als erste Bühne außerhalb Europas wird 1834 Havanna auf Kuba genannt.

Doch nicht nur der Blick auf die Aufführungsliste dieser Oper veranschaulicht den historischen Rang dieser Partitur. Auch kompositionsgeschichtlich war ANNA BOLENA über Donizettis Werk hinaus von nachhaltiger Bedeutung. Als in der Spielzeit 1831/32 Giuditta Pasta an der Scala engagiert wurde, sang sie in der Eröffnungspremiere am 26. Dezember 1831 die Titelpartie in Bellinis NORMA, am 25. Februar 1832 folgte dann auch am Kaiserlich-Königlichen Opernhaus von Mailand ANNA BOLENA. Vor allem im Duett zweier in denselben Mann verliebter Frauen zeigte sich Bellini in seiner neuen Oper von Donizetti beeinflusst.

Norma und Adalgisa bewegen sich gleichsam in den Fußtapfen von Anna und Giovanna. Umgekehrt hatte sich Bellini schon in der finalen Wahnsinnsszene der SONNAMBULA mit ANNA BOLENA auseinandergesetzt, während Annas dreiteilige Arie deutlich von Bellinis IL PIRATA und LA STRANIERA beeinflusst gewesen war. Später sollte Donizetti dann das Modell in LUCIA DI LAMMERMOOR nochmals weiterentwickeln. Erst mit Bellinis frühem Tod im September 1835 kam dieses produktive Fernduell zweier sehr unterschiedlicher Komponisten zu einem jähen Ende.

Auch wenn Donizetti in ROBERTO DEVEREUX die Figuren, vor allem die halsbrecherische Sopranpartie musikalisch noch prägnanter gestalten sollte als in ANNA BOLENA, wusste er sehr genau, was der Erfolg der Mailänder Oper 1830 für ihn bedeutet hatte. Als er im September 1842 darüber nachdachte, ein Portrait von sich für Bergamo in Auftrag zu geben, imaginierte er ein Klavier im Hintergrund des Gemäldes. Auf dessen Notenpult wünschte er sich einen Band mit dem Titel ANNA BOLENA oder LUCIA DI LAMMERMOOR.

Newsletter

Aktuelles zum Spielplan
und zum Vorverkaufsbeginn
Persönliche Empfehlungen
Besondere Aktionen ...
Seien Sie immer gut informiert!

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie 25% Ermäßigung bei Ihrem nächsten Kartenkauf

* Pflichtfeld





Newsletter