Der Wille zur Überfülle - Deutsche Oper Berlin
Enrique Mazzola über Meyerbeers Werk
Der Wille zur Überfülle
Anders als viele andere Komponisten hatte Giacomo Meyerbeer das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein: In Paris, wo Gioacchino Rossini gerade den Weg hin zur großen romantischen Historienoper geebnet hatte, aber mit seinen musikalischen Stilmitteln nicht in der Lage war, diese Perspektive zu erfüllen. Die Aufgabe, um die es ging, lautete, die italienische Belcanto-Oper so umzuwandeln, dass sie den Anforderungen des nunmehr tonangebenden französischen Publikums gerecht wurde. Und dieses Publikum war an einen spektakulären szenischen Rahmen ebenso gewöhnt wie an die Integration von Balletten in den Verlauf des Abends. Für diese Aufgabe fand Meyerbeer mit der Grand Opéra die ideale Formel, indem er einerseits viele Elemente des italienischen Belcanto übernahm, sie aber mit seiner eigenen Musiksprache entitalianisierte, und indem er diesen Belcanto mit einer bis dahin nicht gekannten szenischen Opulenz und den neuen sinfonischen Errungenschaften eines Hector Berlioz kombinierte. Diese Opulenz zeigt sich in der Krönungsszene von LE PROPHETE in einer noch überwältigenderen Weise als in den vorausgegangenen HUGUENOTS, indem zu den Chören von Volk, Wiedertäufern und Chorknaben noch eine exorbitante Bühnenmusik inklusive einer vierhändig zu spielenden Orgel hinzutritt. Auch an anderen Stellen der Partitur zeigt sich dieser Drang zum Spektakulären – etwa in dem geradezu exzessiven Gebrauch von Trommeln und Trompeten als Bühnenmusik. Die „französische“ Faktur von Meyerbeers Orchester hingegen erkennt man zuerst an den vier Fagotten, die – wie bei Berlioz – gewissermaßen das Herz des Orchesters bilden. Denn die Klangfarben der Fagotte verfügen – je nach Lage und Notenwert – über eine Bandbreite des Ausdrucks, die vom Unheimlichen bis ins Groteske, Komische reicht. Um diesen Kern herum ist freilich eine Vielzahl von Instrumenten gelagert: Meyerbeer fordert vier Trompeten, vier Hörner und, je nach Verfügbarkeit, zwei bis vier Harfen. In diesem Willen zur Überfülle ist er gewissermaßen Wagner á la francaise. Dennoch gibt es in einer Partitur Meyerbeers kaum je Balanceprobleme zwischen Bühne und Orchestergraben – auch weil er dem Orchester oft piano oder mezzopiano vorschreibt, sobald die Singstimme einsetzt. Er war der erste Komponist, der sich überhaupt um diese Dinge kümmerte.

Eine Besonderheit in LE PROPHETE stellen die drei Wiedertäufer Jonas, Mathisen und Zacharie dar. Während die übrigen Charaktere des Stücks in sich konsistent sind, ist dieses Trio schwer zu fassen: Mal dominieren komische Züge, mal bedrohliche, fast dämonische. Dementsprechend vielseitig ist ihre musikalische Ausgestaltung vom feierlichen Choral über ein nervöses Staccato bis zu fließender Melodik. Damit überführt Meyerbeer ganz im Sinne der bereits angesprochenen Transformation des italienischen Belcanto den klassischen Typus des „semiserio“ in das musikalische Porträt von Aufrührern und Demagogen, die sich der jeweiligen Stimmung perfekt anpassen. Schaut man sich das Partiturmanuskript Meyerbeers zu LE PROPHETE an, sieht man ein wahres Schlachtfeld: keine Seite ohne Korrekturen und zusätzliche Eintragungen, durchgestrichene Kadenzen, neben denen neue notiert sind, manchmal seitenlange Striche. Man kann förmlich den Kampf verfolgen, den das Komponieren für Meyerbeer bedeutet haben muss. Aber man sieht auch genau, dass das Werk kein Resultat einer freien Inspiration ist, sondern Ergebnis einer genauen Kalkulation, innerhalb derer jede Note und jeder Harmoniewechsel ihre Bedeutung haben. Selbst die Meyerbeer’schen Melodien sind diesem Prozess unterworfen und damit sozusagen der Gegenentwurf zu den verschwenderisch aufblühenden Melodien eines Vincenzo Bellini – oder auch zu Richard Wagner, der mit wenigen Motiven auskommt, diese aber innerhalb des Werks einem Entwicklungsprozess aussetzt. Meyerbeer dagegen schreibt zwar ebenso eingängige wie genau auf den szenischen Kontext passende packende Melodien, aber er entwickelt sie nicht. Selbst der Choral der Wiedertäufer „Ad nos, ad salutarem undam“, der das Stück durchzieht, wird nur zitiert, aber nicht verändert. Das interessierte Meyerbeer nicht: Er ist der Komponist des theatralen Augenblicks, der überzeugenden Pose, des Schlaglichts, das er auf eine Figur, eine Situation wirft – man könnte ihn den perfekten carpe diem-Komponisten nennen. Diese ästhetische Grundeinstellung umfasst auch eine geradezu kinematografische Schnitttechnik: Oft schneidet Meyerbeer unterschiedliche melodische Segmente verschiedener Orchestergruppen direkt nebeneinander, lässt sie in verkürzter Folge einander abwechseln, um so die Spannung zu steigern. Und im Bacchanal des letzten Aktes nutzt er auf geradezu plastische Weise Dissonanzen und reißt die Mauern der Tonalität ein, um das Zusammenbrechen des Palastes hörbar zu machen.

In der Partitur gibt es oft einen Konflikt zwischen den Tempobezeichnungen Meyerbeers und den Metronomzahlen. Man findet etwa die Metronomzahl 80 für ein „Allegro con spirito“, das wesentlich schneller sein muss. Ich habe mich dabei eher von den Tempobezeichnungen leiten lassen – die übrigens als kennzeichnende Meyerbeer’sche Eigenheit mal in italienischer, mal in französischer Sprache notiert sind –, auch weil sie am besten den Geist der jeweiligen Szene widerspiegeln. Jeder moderne Interpret steht heute vor der Wahl, ob er die Fassung nimmt, die Meyerbeer zum Probenbeginn an der Pariser Oper vorbereitet hatte, oder die von ihm nach der Premiere abgesegnete, so genannte Brandus-Fassung. In der Neuausgabe des Ricordi-Verlags sind beide Versionen vertreten. Das hat den Vorteil, dass jede Produktion eine eigene Version darstellt, in der auf die Erfordernisse der Szene, aber auch auf die Möglichkeiten des Opernhauses und die Leistungsfähigkeit der Sänger Rücksicht genommen werden kann. Nicht anders, als das zu Meyerbeers Zeit der Fall war.