Clay Hilley: Mein Seelenort ... Der Koffer - Deutsche Oper Berlin
Clay Hilley: Mein Seelenort ... Der Koffer
Der Tenor Clay Hilley singt die Titelrolle in Wagners SIEGFRIED. Hier erzählt er von seinem mobilen Leben – und wie er unterwegs zuhause sein kann
Mein Seelenort ist mein Koffer. Das klingt vielleicht seltsam, aber es stimmt gleich doppelt: Für meinen Beruf lebe ich aus dem Koffer, denn ich reise als Opernsänger ständig durch die Welt. Und wenn ich frei habe, lebe ich in etwas, dass ich meinen »giant suitcase« nenne, also meinen riesigen Koffer: Meine Frau und ich haben vor vier Jahren einen 13 Meter langen Wohnwagen gekauft, in dem wir gemeinsam wohnen. Die meiste Zeit steht er in einem Wäldchen in Georgia, aber sobald wir Zeit haben – meine Frau ist auch Opernsängerin –, mieten wir einen Truck, hängen unseren Trailer ein und los geht’s. Wir sind schon drei Mal quer durch die USA gefahren, von New York nach San Francisco und zurück. Es ist das perfekte Nomadenleben.
Gerade bin ich mit dem Koffer meiner Frau unterwegs, er ist klein, leicht und handlich, ich mag auch die Farbe, ein sattes Lila. Er hat diese wundervollen Rollen, mit dem er sich in alle Richtungen drehen lässt, das finde ich äußerst elegant, und wenn es am Flughafen mal schnell gehen muss, bin ich damit wendig, fast tänzerisch. Weil ich so häufig unterwegs bin, habe ich eine eigene Packroutine entwickelt. Früher fehlte mir ständig etwas – oder ich hatte viel zu viel dabei. Nun setze ich mich Tage vor meiner Abreise hin und schreibe eine Liste. Ich wäge genau ab, was ich brauche. Seitdem fühle ich mich immer richtig bepackt. Drei Dinge dürfen für mich auf keiner Reise fehlen: Meine Kopfhörer, meine mobile Fernsehantenne und – seit einem Jahr – eine kleine Tube Desinfektionsmittel für die Hände. Oder warten Sie, da ist noch etwas: mein Kissen. Das habe ich auf jeder Reise dabei. Es ist unfassbar weich und lässt sich in jeden Koffer zusammenknautschen – und vor allem: Es ist mein eigenes. Mit diesem Kissen fühle ich mich zuhause, ganz gleich wo.
Auch in unserem Wohnwagen müssen wir uns überlegen, was wir brauchen. 13 Meter klingt zwar viel, aber horten kann man da nichts. Aber es ist ein kleines Zuhause: Wir haben Strom, drei Fernseher, ein King-Size-Bett, sogar eine Heizung für den Winter. Vor drei Jahren war ich für den RING in San Francisco engagiert, da standen wir mit dem Ding monatelang in der Bay Area. Vielleicht kommen wir sogar demnächst damit nach Europa? Die jüdischen Großeltern meiner Frau überlebten den Holocaust in Polen und kamen in die USA, meine Frau hat gerade einen polnischen Pass beantragt. Sobald sie den hat, könnten wir einfacher in Europa leben. Ich bin übrigens nicht der einzige Opernsänger im Wohnwagen – ich habe von einem Tenor gehört, der jedes Jahr in Bayreuth singt und dort in der Nähe des Festspielhauses campt.
Wagners RING habe ich 2014 das erste Mal gehört. Damals sollte ich den Siegfried singen, allerdings die gekürzte und gestutzte Version von Jonathan Dove. Ich dachte sofort: Himmel, so viel Text! Dabei war das nur die Kurzversion. Mein nächster Gedanke: Wow, das ist perfekt für meine Tonlage. Aber nicht nur die Stimme passt genau, Siegfried und ich haben viele Gemeinsamkeiten: Ich bin wie er in der Natur aufgewachsen, zwischen Kühen und Pferden. Ich nehme das Leben nicht so furchtbar ernst, genau wie er. Wir sind beide auf eine gesunde Art skeptisch, wir glauben nicht alles, was man uns erzählt. Und, vielleicht das Wichtigste: Ich akzeptiere kein Nein. Mir haben oft Leute gesagt, ich sei viel zu jung, um Wagner zu interpretieren, manche haben gesagt, ich könne niemals Verdi und Puccini singen. Alles Quatsch. Wenn ich so etwas höre, setze ich alles daran, der Welt das Gegenteil zu beweisen.
Aber es gibt natürlich auch Unterschiede zwischen uns. Siegfried ist der prototypische Held, einer, der nicht nachdenkt, der alles auf direktem Weg erreichen will, auf eine fast kindliche Art. Ich selber habe ein völlig anderes Bild von Helden. Für mich sind Helden diejenigen, die hinter den Kulissen Gutes tun, die sich einsetzen für Minderheiten, die täglich für eine bessere Welt kämpfen. Die keinen Dank erwarten für das, was sie getan haben, die nicht im Rampenlicht stehen. Das kann ein Krankenpfleger im Nachtdienst sein, eine Lehrerin, die ein Kind unterstützt, jemand, der Geld sammelt für einen guten Zweck. Außerdem hat Siegfried keine Angst. Diese Furchtlosigkeit spüre ich beim Singen vor allem in den letzten Zeilen des Stücks: »leuchtende Liebe / lachender Tod!« Er fürchtet nicht einmal den Tod. Ich jedoch kenne die Angst. Ich habe sie stark gespürt, als im vergangenen Jahr die Theater und Opernhäuser wegen der Pandemie schließen mussten. Damals, vor einem Jahr, war ich in Chicago als Zweitbesetzung für den Siegfried gebucht – und alle Vorstellungen wurden abgesagt. Das hat mir für einen Moment den Boden unter den Füßen weggezogen. Umso schöner, dass ich jetzt wieder mein Köfferchen packen und singen darf.