Sara Jakubiak: Mein Seelenort – Die Spreepromenade - Deutsche Oper Berlin
Sara Jakubiak: Mein Seelenort – Die Spreepromenade
Die Sopranistin Sara Jakubiak singt die Titelrolle in FRANCESCA DA RIMINI. Auf einem Spaziergang an der Spree stellt sie uns Francesca vor
Mein Seelenort in Berlin ist die Promenade am Spreeufer. Hier bin ich an meinem allerersten Tag in der Hauptstadt spazieren gegangen. Ich hatte in Frankfurt meine Möbel verkauft und alles, was ich noch besaß, in einen Mietwagen geladen. Bei meiner Ankunft 2018 in Berlin hatte ich noch kein richtiges Zuhause, nur einen kleinen Raum, in dem ich meine Habseligkeiten lagerte, ein paar Lieblingskaffeetassen, einige Kunstwerke, Fotos meiner Familie, das war’s. Also ging ich vor die Tür, ans Wasser, um ein Gefühl für die Stadt zu bekommen. Ich wuchs in Michigan auf, im Norden der USA, umgeben von den großen Seen, Wasser ist mein Element, da zieht es mich hin. So lief ich an der Spree entlang, völlig erschöpft – und doch hatte ich das Gefühl, alles erreicht zu haben, kaufte mir ein Pistazieneis und war glücklich. Seitdem komme ich immer wieder hierher.
Jetzt wohne ich am Savignyplatz in Charlottenburg, aber mit der S-Bahn sind es nur ein paar Minuten zur Station Hackescher Markt. Von dort laufe ich los, am Wasser entlang oder über die Brücke am Dom, rüber zur Museumsinsel. Meistens gehe ich allein spazieren, habe meine Kopfhörer auf und höre Aufnahmen der Rollen, die ich gerade studiere. Im Laufen kann ich mir die Texte und Melodien leichter merken und irgendwie ist es mit dieser Musik im Ohr, als würde ich mit meinen Rollen spazieren gehen.
Gerade habe ich Francesca im Ohr, die Titelfigur in Zandonais FRANCESCA DA RIMINI. Francesca soll verheiratet werden, aber ihre Familie vermutet, sie könne den hässlichen Gianciotto ablehnen. Also schicken sie zum Schein seinen hübschen Bruder Paolo, der gleich einen Ehevertrag dabeihat. Francesca verliebt sich in Paolo – und er sich in sie. Sie ist entsetzt, als sie versteht, dass sie betrogen wurde und den hässlichen Bruder heiraten muss. Francesca steht für ihre Liebe ein, aber die Geschichte endet schrecklich: Der dritte Bruder, Malatestino, verrät die Liebenden, am Ende sind beide tot. Ich sehe Francesca vor meinem geistigen Auge, wenn ich mit ihr an der Spree entlangspaziere. Sie hat diesen Blick, der selbst die Dunkelheit der Tiefsee durchdringt.
Ich durfte mal mit einem U-Boot im Pazifik auf den Meeresboden tauchen und fühlte mich, als wäre ich nicht in dieser Welt, das Wasser war kraftvoll und schwer, die Landschaft des Meeresbodens weit und wunderschön. Für mich hat Francesca diese Aura des Meeres. Und es gibt tatsächlich eine Menge Anspielungen auf Wasser in der Oper: »Meine Seele ist wie fließendes Wasser«, ist eine ihrer ersten Zeilen, später singt sie: »Frieden in diesem Meer / Das gestern so wild war / Und heute wie eine Perle ist / Gib mir Frieden!« – Frieden: Das ist für mich der Kern von Francescas Botschaft.
Ich fühle mich diesem Wunsch nach Frieden so verbunden, ich kann nicht anders, als ihn mit meinem eigenen Leben in Verbindung zu setzen. Im vergangenen Jahr waren wir alle umgeben von Wirbelstürmen, auch mir hat die Pandemie sehr zugesetzt, die Fragen nach der Zukunft unserer Kunst, meiner Karriere – aber auch nach der meines Landes, den USA; die Black Lives Matter-Proteste, die vielen Toten, die Präsidentschaft.
Ich überquere mit Francesca die Spree, wir laufen rüber zur Museumsinsel. Ich will ihr die Löwenstatue zeigen, die dort vor der Alten Nationalgalerie steht. Ich habe einmal im Zoo von Oklahoma einen Löwen brüllen hören. Das Gehege war weit weg, aber dieses Dröhnen und Grollen ging mir durch Mark und Bein. Auch Francesca hat die Kraft der Löwen. Sie ist so mutig, stellt sich gegen alle Widerstände. Sie schaut in den Abgrund.
Diesen Mut brauche ich, wenn ich in meine eigenen Abgründe schaue – und das muss ich ständig, jedes Mal, wenn ich auf die Bühne gehe. Doch wenn ich mich endlich traue, dann ist in meinem Abgrund gar kein Dunkel: Dann sind da nur Farben. Vielleicht liegt das daran, dass ich Noten und Töne als Farben wahrnehme. Besonders stark ist das, wenn ich live mit großer Besetzung singe. Ich bin sehr gespannt darauf, Francescas Farben kennenzulernen. Ich vermute, dass sie in den Farben des Wassers schimmert, vielleicht in einem tiefen Blau.
Mich erinnert Francesca an Heliane, die ich vor einigen Jahren an der Deutschen Oper Berlin singen durfte, die Titelfigur in Korngolds DAS WUNDER DER HELIANE. Beide Frauen sind mit fürchterlichen Situationen konfrontiert. Sie stellen sich der Dunkelheit – aber sie wagen es auch, ins Licht zu gehen. Sie haben keine Angst vor einem erfüllten Leben. Ich hatte ein Erlebnis, während ich Heliane sang: Alle meine Sinne verschmolzen, alles vibrierte bis in die Fingerspitzen. So einen Moment möchte ich auch mit Francesca erleben: einen Moment der völligen Ruhe.