Protest im Prunkbau: Reinhold Jaretzky über Oper als politische Kunst - Deutsche Oper Berlin
Ein Essay von Reinhold Jaretzky
Protest im Prunkbau: Reinhold Jaretzky über Oper als politische Kunst
Reinhold Jaretzky, Buchautor, TV-Journalist und Autor von Musik-Dokumentarfilmen, zuletzt „Branford Marsalis. Die Liebe zu New Orleans“, arte 2013; „Richard Strauss. Das umstrittene Musikgenie“, arte 2014. „Valery Gergiev. Der wilde Mann der Musik“, 3sat 2015
Ob auf dem Grünen Hügel in Bayreuth, der Mailänder Piazza della Scala oder in der Hofstallgasse in Salzburg: Zur jährlichen Saisoneröffnung dieser Hochglanz-Opernspielstätten ist der Aufmarsch der nationalen Politiker-Eliten garantiert. Es scheint bei diesen umkämpften Premieren um mehr zu gehen als um den puren Genuss der Kunst. Wenn Herrschende sich gezielt vor einer medialen Öffentlichkeit inszenieren, ist Politik im Spiel. Tatsächlich war der festliche Raum der Oper anfangs ein Ort, an dem Fürsten, Herzöge und Grafen wirkungsmächtig posierten und auf dessen Bühnen sie sich zelebrieren und glorifizieren ließen. Spätestens im 19. Jahrhundert allerdings hielt eine gegenläufige Politisierung Einzug in die Prachtbauten. Auf der Bühne wurden politische Verhältnisse infrage gestellt, im Zuschauerraum kam es zu Kulturkämpfen, manchmal nahmen politische Aufstände hier ihren Anfang. Bekanntlich führte die Brüsseler Erstaufführung von Aubers Oper DIE STUMME VON PORTICI 1830 geradewegs in die belgische Revolution und zur ersehnten Unabhängigkeit von den Niederlanden. Ein Duett, das die Neapolitaner zum Aufstand gegen die spanischen Besatzer aufruft und dabei die „Marseillaise“ zitiert, reichte aus, um den politischen Furor des belgischen Opernpublikums freizusetzen und es den Justizpalast erstürmen zu lassen.
„Du magst das Universum haben, doch überlass’ Italien mir“ – 15 Mal schleudert der römische Feldherr Ezio sein patriotische Bekenntnis dem Hunnenkönig entgegen. Verdis Oper ATTILA wurde, wie zuvor schon seine Opern NABUCCO und DIE LOMBARDEN, als politischer Kommentar auf ein von Habsburgern und Bourbonen unterdrücktes Italien begrüßt. Ob es Verdi tatsächlich um ein politisches Statement ging, ist umstritten. Verdis Opern allerdings wirkten als politische Verständigungs-Events im Umfeld des italienischen Risorgimento, sie spendeten Trost und gaben der Unabhängigkeitsbewegung politische Energie. Sein NABUCCO erlebte im Jahr 1842 75 Aufführungen, sein „Va, pensiero – Flieg, Gedanke“ avancierte nach der Einigung Italiens zu einer heimlichen Nationalhymne. Verdi wusste, was er tat, wenn er mit dem Unisono des Chors und voluminösen Bläsereinsätzen effektvoll die politischen Emotionen aufpeitschte. Später spielten italienische Militärkapellen statt Märsche Verdis populäre Opernschlachtrufe. Als am 17. Februar 1859 sein MASKENBALL in Rom uraufgeführt wurde, mischten sich die Rufe „Viva Verdi!“ mit denen „Viva Vittorio Emanuele“ und schufen das berühmte Akrostichon [Viva Vittorio Emanuele Re D‘Italia].
Politisch waren Verdis Opern nicht nur Stimmungsbereiter für nationalstaatliche Fantasien, sondern auch Sprachrohr für individuelle Freiheiten, sollte doch der neue Staat den Privilegien und Wertevorstellungen der alten Ständegesellschaft eine Ordnung der Bürger- und Menschenrechte entgegensetzen. Der politische Treibstoff seiner Opern ist ein generelles Thema des 19. Jahrhunderts, die Befreiung von Fremdherrschaft und die Auflehnung gegen individuelle Unterdrückung. Verdi hatte eine Vorliebe für gesellschaftliche Außenseiter, denen er gegen den Wertekodex seiner Zeit zu Mitgefühl und gar ein wenig Emanzipation verhalf. Seine Kurtisanen-Oper LA TRAVIATA war sozialkritisch derart aufgeladen, dass eine Aufführung in zeitgenössischen Kostümen als zu riskant erschien. Violetta, eine Hure, hat bei Verdi das Zeug zu einer makellosen Heldin, mit einem engelhaft reinen musikalischen Profil ausgestattet, sie zerbricht an der sozialen Ausgrenzung und dem Liebesverbot, das die patriarchalische Gesellschaft über sie verhängt. Als anstößig galt auch Verdis Oper RIGOLETTO, deren Titelfigur ein verachteter sozialer Underdog ist und ein Novum in der Opernliteratur darstellt. Das sei „satanisch“, denn es verwechsele „das Schöne und Ideale“ mit dem „Missgebildeten, Abstoßenden“, so die venezianische Premierenkritik. Tatsächlich ist Verdis Rigoletto-Figur ein „Freak“ mit zwei Gesichtern. Als bitterböser Narr mit heimtückischen Racheplänen ist er Inventar des moralisch zügellosen Hofes, zu Hause aber ist er der besorgte fürsorgliche Vater. In ihm spiegeln sich die zwei gesellschaftlichen Wertesysteme, die im Zeitalter der romantischen Oper immer wieder verhandelt werden. So scheitert bekanntlich die Liebe zwischen der äthiopischen Königstochter Aida und dem ägyptischen Feldherrn Radames an den Macht- und Kriegsphantasien einer Elite, die dem privaten Glück keinen Raum gibt. Im pompösen Triumphmarsch in Verdis AIDA artikuliert sich – mit über hundert Sängern, Musikern und großem Ballett – diese erdrückende Gewalt gegenüber der Zerbrechlichkeit des Einzelnen.
Politisch ist Oper eben nicht nur dort, wo Machtkämpfe und Freiheitsschlachten ausgetragen werden. Sie ist politisch, indem sie das Streben nach Selbstbestimmung und privatem Glück in ein gesellschaftliches Umfeld stellt, indem sie mitreißende Geschichten von Liebenden erzählt, die, von Tyrannei, Moral oder Religion verfolgt, im Gefängnis landen oder zum Sterben verurteilt sind. So verwundert es nicht, dass die Zensurbehörden an der Geschichte der Oper eifrig mitgeschrieben haben, sie waren der allgegenwärtige Partner der Librettisten und Komponisten, die Liste ihrer Opfer ist lang. Beethovens Oper LEONORE, später FIDELIO, ist nur eines der prominentesten Beispiele. Verdi stand seit seinem Freiheitsdrama NABUCCO unter politischer Beobachtung, seine Opern RIGOLETTO und EIN MASKENBALL galten als Anstiftung zum Königsmord und mussten unter dem Druck der politischen Polizei gekürzt, umgeschrieben und entschärft werden.
„Was in unsern Zeiten nicht erlaubt ist, gesagt zu werden, wird gesungen“, schreibt die Wiener Realzeitung am 11. Juli 1786. Gemeint ist die Uraufführung der Mozart-Oper DIE HOCHZEIT DES FIGARO, deren politischer Zündstoff offensichtlich war, lag ihr doch das in Wien verbotene gleichnamige Lustspiel von Beaumarchais zugrunde, das fünf Jahre vor dem Sturm auf die Bastille seine Uraufführung erlebte und über das Napoleon gesagt haben soll: „Hier war die Revolution schon in Gange.“ Nur mit der Zusicherung, politische Anspielungen auszusparen, erhielt Mozart-Librettist da Ponte die kaiserliche Erlaubnis zur – von antifeudalen Attacken gereinigten – Uraufführung. Von sozialkritischem Sprengstoff ist die Oper dennoch nicht frei. Die berühmte Figaro-Kavatine „Will der Herr Graf den Tanz mit mir wagen? So mag er’s sagen, ich spiel ihm auf …“ ist das selbstbewusste Kräftemessen eines Domestiken mit dem Grafen, hier probt der Plebejer gedanklich den Aufstand und dies drei Jahre vor der Französischen Revolution. Der eigentlich politische Motor dieser wie aller großen Mozartopern ist die Entdeckung der Empfindsamkeit, in der sich ein neues antiaristokratisches Selbstbewusstsein manifestiert. Zwei Menschen finden in absoluter Liebe zueinander, binden sich gegen alle Widerstände auf ewig, institutionalisieren ihr emotionales Band in der Ehe. Es ist der innovative, auf die Psychologie des Individuums vertrauende Gegenentwurf zu den berechnenden Allianzregeln des Hofes, wo Eheentscheidungen von Machterhalt, Besitzwahrung und Familientradition bestimmt sind und wo Liebe nach den Regeln der Galanterie gelebt wird. So hebt Mozart in DIE HOCHZEIT DES FIGARO die echte Liebe auf den Thron, gegen die herrischen Besitzansprüche und zügellose Libertinage des Grafen, der aber selbst von der neuen Gefühlskultur angesteckt ist, wenn er am Ende seine Gattin zärtlich um Verzeihung bittet. Mozarts große Opern sind ein Forum schwärmerischer, beschwörender Liebesbekundungen, in denen echte Empfindungen ausgedrückt werden. Immer wieder siegt die „politisch korrekte“ neue Moral über die Zügellosigkeit des Hofes. Der empfindsame Don Ottavio ist der vorbildhafte Gewinner über den lüsternen Wüstling Don Giovanni. Und das Fest der Liebe in DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL wird am Ende hymnisch gefeiert. Dieser Oper lässt sich noch eine andere, eine politisch-multikulturelle Botschaft entlocken: die Versöhnung von orientalischer und europäischer Religion und Kultur in der aufgeklärten Figur des Bassa Selim. Verdammt wird die Hässlichkeit der Rache, bejubelt dagegen Güte und Verständigung, eine gesungene Variante der Lessing’schen „Ringparabel“.
Bekanntlich wollte Lessing die Menschen veredeln, indem er sie mit seinen Dramen mitleidsfähig machte. Der Ehrenbürger des revolutionären Frankreichs, Friedrich Schiller, ging mit der Umwandlung der Bühne in eine moralische Anstalt noch einen Schritt weiter: Ästhetisch konditionierte Bürger wollte er heranziehen, die als Kollektiv einen ästhetischen, harmonischen, demokratischen Staat garantieren sollten. Die politische Idee hat die Kunst seit jeher umgetrieben. Der Anarcho-Sympathisant Richard Wagner setzte seine Hoffnungen auf die „erhabene Göttin der Revolution“, die, da war er sich sicher, von den „Jubelgesängen der Menschheit“ begrüßt würde. Sein RING DES NIBELUNGEN gilt als Kapitalismuskritik und verweist, wie Thomas Mann analysierte, auf eine von „Machtwahn und Geldherrschaft befreite, auf Gerechtigkeit und Liebe gegründete brüderliche Menschenwelt“. Sein musikdramatisches Gesamtkunstwerk war ihm darüber hinaus das Modell einer neuen utopischen Vergemeinschaftung, die reale Politik nicht zu leisten im Stande war. Nicht ganz freiwillig konterkarierten die Bayreuther Erben Wagners politisches Programm, als sie den Festspielen in den 50er Jahren ein Politikverbot auferlegten. Auf Plakaten forderten sie „im Interesse einer reibungslosen Durchführung der Festspiele von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel“ abzusehen und gaben die Enthaltsamkeitsparole aus: „Hier gilt´s der Kunst!“ Es war nach den hitlertreuen Bayreuth-Jahren der erste Anlauf einer Rehabilitation, und er entsprach dem konservativen Konsens an westdeutschen Opernhäusern, die mit einem Politik-Tabu die nationalsozialistische Kontaminierung der Musiktheater zu „bewältigen“ glaubten. Entsprechend groß war die Empörung, als der 68er-Aufbruch gegen diesen Opern-Konservativismus rebellierte. Mit Flugblattaktionen, Unterschriften, Trillerpfeifenkonzerten und Schlägereien reagierte das ansonsten wohlerzogene Opernpublikum auf Patrice Chéreaus Bayreuther „Jahrhundert-Ring“ von 1976, dem man linkes Revoluzzertum vorwarf, weil er in dieser Tetralogie die Schrecken des Kapitalismus freilegte. Auch anderswo gerieten Opernliebhaber in Wut, wenn Inszenierungen sich von historischer Kostümierung verabschiedeten und das Geschehen in der politischen Gegenwart ansiedelten, was nicht aufzuhalten war.
Die Oper verabschiedete sich vom ästhetischen Reinheitsgebot und besann sich darauf, dass ihr Anliegen immer auch ein gesellschaftliches war. So fanden Nazivergangenheit, Kriegsszenarien der Gegenwart, sexuelle Revolution und weibliche Emanzipation Eingang in die Neuinterpretation der Spielplanklassiker. Und es entstanden zeitgenössische Opern mit dezidiert politischem Anspruch. Bis heute findet man Luigi Nonos Bühnenwerke INTOLLERANZA und AL GRAN SOLE CARICO D’AMORE auf den Spielplänen, Stücke, die die sozialistische Utopie einer herrschaftsfreien Welt, aber auch die Blutspur des Scheiterns dieser historischen Projekte thematisieren. Und die auf einer komplexen, expressiven Musiksprache beharren, die sich von propagandistischen Vereinfachungen fernhält. Gerade ihr hoher Grad an ästhetischer Verdichtung macht sie für das heutige Musiktheater ungebrochen interessant.
Der bewusstseinsverändernde Impetus und die humanistische Vision eines politischen Musiktheaters sind seit der letzten Jahrhundertwende allerdings sehr viel schwerer vermittelbar, seitdem die großen gesellschaftlichen Utopien ad acta gelegt wurden, seitdem die alten Ideale von Gleichheit und Gerechtigkeit als unrealistisch gelten und gar bespöttelt werden, seitdem die globale Ökonomisierung ihren Durchmarsch durch die Gesellschaft angetreten hat. Dennoch scheint sich die Ansicht bewahrt zu haben, dass Oper mit ihren tödlichen und heiteren Konflikten, ihren traurigen und heroischen Helden stets von sozialen Verhältnissen erzählt und damit a priori politisch ist. Es sind jüngere Regisseure wie Sebastian Baumgarten und Benedikt von Peter, die – unberührt von der Alt-68er Vergangenheit – auf eigene, neue Weise aus den Opernklassikern politische Funken schlagen, die aufklärerisch wirken, ohne sich dafür entschuldigen zu wollen. Für den bereits als Star-Regisseur titulierten Stefan Herheim ist Oper genuin politisch. „Ich wüsste nicht, wie Oper unpolitisch sein sollte“, sagt er und schwärmt von ihrem vielversprechenden Wirkungspotential. Oper könne „tiefgehend stimulieren, wachrütteln, aufklären und somit eben Halt geben“. Stefan Herheim wird 2020 an der Deutschen Oper Berlin Wagners RING neu inszenieren. So hat er die Chance, den alten Mythenschmied aus Bayreuth im politisch wieder unruhigen 21. Jahrhundert, in der historischen Metropole Berlin, sein aufrührerisches Handwerk fortführen zu lassen.
Ersterschienen im Magazin Deutsche Oper, Beilage zum Berliner Tagesspiegel, September 2015