Ein Essay von Sebastian Hanusa, ersterschienen in der TISCHLEREI-ZEITUNG, Nr. 8.

Punk und Putin

Mit Andrej Koroliov auf Spurensuche im russischen Berlin.

Der Komponist Andrej Koroliov gestaltete als Gastkünstler den fünften und letzten Abend in der Reihe Aus dem Hinterhalt in der Spielzeit 2016/2017 . Thema des Abends: Modest Mussorgskijs BORIS GODUNOW. Statt eines Vorgesprächs verbrachte Dramaturg Sebastian Hanusa mit ihm einen „russischen Tag“ in Berlin, um mit ihm über den Stoff und seine politischen und historischen Dimensionen zu sprechen. 

Wir treffen uns an einem Montag Mitte Dezember um 11 Uhr am Bahnhof Friedrichstraße auf dem Bahnsteig der U6. Nachdem der Tag trübe begonnen hat, kommt allmählich die Sonne heraus, als die U-Bahn, in der ich zusammen mit Andrej Koroliov auf dem Weg nach Norden bin, in Reinickendorf den Tunnel verlässt und oberirdisch fährt. Es verspricht, gutes Wetter zu werden, ideal für unser Treffen mit dem Fotografen Bastian Thiery. Wir sind verabredet zu einem Ausflug und haben vor, einen kleinen Teil des „russischen Berlins“ zu besuchen. Dort sollen Fotos für die Tischlerei-Zeitung gemacht werden. Ich will aber auch über das bevorstehende gemeinsame Projekt sprechen. Koroliov wird als Komponist, Performer und Pianist den letzten Abend in der Reihe AUS DEM HINTERHALT gestalten. Dessen Thema: Modest Mussorgskijs große russische Nationaloper BORIS GODUNOW. Diese hat als letzte Neuproduktion der Deutschen Oper Berlin in dieser Spielzeit Mitte Juni ihre Premiere auf der Bühne des Großen Hauses. BORIS GODUNOW wird in den „Hinterhalt“ gelockt, wie in der zweiten Spielzeithälfte zuvor Benjamin Brittens TOD IN VENEDIG und Richard Wagners DER FLIEGENDE HOLLÄNDER, künstlerisch neu befragt, in einem Abend zwischen wilder Performance, anarchischem Musiktheater und lustvoll-sinnlich inszeniertem Konzert.

 

Die Fahrt mit der U6 endet an der Station „Holzhauser Straße“ in Tegel. Von hier aus führt uns der Weg unter der viel befahrenen Stadtautobahn A 111 hindurch zu einem Ort, den man hier, zwischen Gewerbeflächen, Getränkemärkten und Verkehrswegen, nicht vermutet hätte. In der Wittestraße liegt der russisch-orthodoxe Friedhof Berlins. Er wurde 1893 angelegt, damals noch vor den Toren der Stadt in „Tegel bei Berlin“. Es ist ein Ort der Stille, trotz des Lärms der angrenzenden Autobahn. Mit seinen Gräbern, die Zeugnisse der bewegten und wechselhaften deutsch-russische Geschichte sind, und der kleinen Friedhofskapelle, deren leuchtend blaue Zwiebeltürme mittlerweile von der Wintersonne beschienen werden, finden sich zahlreiche Motive für unseren Fotografen. Bei einem Rundgang über den Friedhof rufen einzelne Gräber die Fragen nach den Menschen und ihren Lebensläufen wach. Wer liegt hier begraben? Und warum hat er in Berlin gelebt? Aus der Kaiserzeit finden sich Gräber mit kyrillischen Inschriften, aber auch solche in lateinischer Schrift, mit deutschen Namen, aber orthodoxem Kreuz: Von den engen dynastischen Verbindungen zwischen russischem Zarenhaus und preußischen Königen, von baltendeutschen Adeligen am russischen Hof und ihrer Berliner Verwandtschaft, von russischen Botschaftsangehörigen, deutschen Exilanten, die in Russland zur Orthodoxie konvertierten oder auch Mischehen im damals noch deutschen Ostpreußen mit der dortigen russischen Minderheit – die Fantasie lässt den Spekulationen über mögliche Einzelschicksale weiten Raum. In den 20er Jahren finden viele russische Emigranten, die vor Revolution, Bürgerkrieg und der sowjetischen Herrschaft geflohen sind, in Berlin eine neue Heimat. Viele bleiben auch nach 1933 hier, wie die Gräber auf dem Friedhof verraten – in einer schwierigen Situation, in der die nationalsozialistische Rassentheorie den „slawischen Menschen“ zum „Untermenschen“ erklärt, in der aber zugleich die russisch-orthodoxe Gemeinde in Berlin geduldet wird als gemeinsamer Gegner der UdSSR. Wer verbirgt sich hinter den Kriegsgräbern aus den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs? Auf welcher Seite haben diese Menschen gekämpft, warum mussten sie sterben? Welche Schicksale stehen schließlich hinter den Gräbern jener Menschen, die hier zwischen 1945 und 1989, im Westteil Berlins, beerdigt wurden – von der deutsch-russischen Geschichte des Ostteils der Stadt durch Sektorengrenze und Mauer getrennt? Und wer hat schließlich nach 1989 hier seine letzte Ruhe gefunden?

 

Es sind zentrale Themen der Oper, speziell des 19. Jahrhunderts, zu denen uns der Friedhofsspaziergang führt. Das Schicksal des Einzelnen, sein Ausgeliefert-Sein an den Lauf der Geschichte, aber auch der Versuch, Macht und Einfluss zu gewinnen, um diese aktiv zu beeinflussen. Das Verhältnis des oder der Mächtigen zum Kollektiv des Volkes und die oft irrationale Dynamik der Masse: BORIS GODUNOW ist ein Repertoirewerk, das wie kaum ein anderes diese Themen verhandelt, ausgehend von einer Episode der russischen Geschichte in den von Bürgerkrieg und politischen Wirren geprägten Jahren um 1600. Darin ist das Stück in Zeiten von neu an Einfluss gewinnenden Demagogen und Populisten ebenso aktuell wie vor dem Hintergrund, dass Krieg in einer als überwunden geglaubten Form heute wieder Mittel russischer Machtpolitik geworden ist.

Wir gehen noch eine weitere Runde über den Friedhof, unser Fotograf ist immer noch mit der Suche nach Motiven beschäftigt. Andrej Koroliov erzählt von seiner eigenen Familie. Mit Russland verbindet ihn wenig. Immerhin: Die Eltern, beide Pianisten, haben sich während des Studiums in Moskau kennengelernt und dort leben Verwandte, die Koroliov vor Jahren besucht hat. Die Familie des Vaters hat ihre Wurzeln jedoch in Weißrussland und Zentralasien, die Mutter ist aus Mazedonien. Der Zerfall Jugoslawiens, der blutige Bürgerkrieg, fanatischer Nationalismus und Hass sowie dessen Folgen sind die weitaus prägendere Erfahrung. Wenn auch nicht in unmittelbarer Anschauung, denn Koroliov wurde 1980 in Hamburg geboren, ist dort aufgewachsen, hat an der dortigen Hochschule Klavier und Komposition studiert und lebt auch heute noch dort. Er versteht sich als Hamburger, einschließlich der leidgeschwängerten Liebe zum HSV. Auch wenn er inzwischen nicht mehr regelmäßig ins Stadion geht, abgeschreckt weniger von den teilweise unterirdischen Leistungen auf dem Platz, sondern eher von rechten Sprüchen im Publikum, die es immer schon und in jedem Stadion gibt, wenn man in der bierenthemmten Gruppenemotion „auch das mal endlich sagen darf“ – während von oben der Norddeutsche Nieselregen tropft.

Nun machen wir vor und in der Friedhofskapelle noch einige Portraitbilder und gehen weiter zur U-Bahn, um zur zweiten Station unseres Ausflugs zu fahren. Wir bleiben in West-Berlin und fahren zum Restaurant „Samowar“, direkt neben dem Charlottenburger Schloss. Inmitten einer beeindruckenden Sammlung der namensgebenden Teebereiter und einer auch sonst üppigen Dekoration Marke „Zarennostalgie“ sprechen wir über Koroliovs Musik. Er sei zunächst von seiner musikalischen Sozialisation und Ausbildung klassisch geprägt gewesen, sei auch Opern- und besonders Wagner-Fan. Wichtig waren aber auch Punk und Hardcore, Musik, die er gerne und viel gehört und in verschiedenen Bands selber gespielt hat. In der Arbeit mit elektronischer Musik, als Komponist wie auch als Keyboarder, findet er ein verbindendes Element, diese verschiedenen musikalischen Sphären in die eigene Musik zu transformieren und dort miteinander zu verschmelzen. Die hat die Energie und Wucht des Punk, versteht sich ebenso als eine, die kritisch, politisch und subversiv ist. Es ist eine Musik, die sehr oft den Körper in den Mittelpunkt stellt, teilweise bis hin zur physischen oder auch psychischen Schmerzgrenze, die aber zugleich auch von ihrer Komplexität und ihren Strukturen her zeitgenössische Kunstmusik ist. Immer geht es dabei jedoch um künstlerischen Ausdruck. Dabei komponiert Koroliov oft nicht nur abstrakt für ein Instrument, sondern für einen Musiker, seine Persönlichkeit, seine Fähigkeiten und seinen Körper – etwa auch im Einsatz von seiner Stimme, von Gesten und Bewegungen. Und er arbeitet mit performativen und intermedialen Elementen wie Video, sei es als Fundstück aus den sozialen Medien oder auch eigens produziertes Material.

 

Viele seiner Stücke entstehen für und mit dem Decoder Ensemble. Zusammen mit sechs anderen Musikern, darunter zwei weitere Komponisten, hat er 2011/12 in Hamburg das Ensemble gegründet, um eine kontinuierliche Arbeit an einer die Mitglieder verbindenden gemeinsamen Ästhetik zu realisieren. Die zeichnet sich dadurch aus, Neue Musik aus den Enklaven herauszutragen und sie von ihrem Klang und ihrer Performanz her als „Band“ zu spielen und damit auch an Orten der Rockund Popmusik – inzwischen sehr erfolgreich – aufzutreten. Dabei wird der Avantgardeanspruch nicht verraten, sondern vielmehr weiter entwickelt. Für den Schlagzeuger des Decoder Ensemble, Jonathan Shapiro, entstand das Stück, das für Alexandra Holtsch, die künstlerische Leiterin der Reihe AUS DEM HINTERHALT und mich die Erstbegegnung mit Koroliovs Musik war: „Resist Mix“ für einen Schlagzeuger und Elektronik.

Jonathan Shapiro und den Keyboarder Sebastian Berweck wird Koroliov auch im Juni für seinen HINTERHALT zu BORIS GODUNOW mitbringen, als weiterer Gast kommt DJ Illvibe [Vincent von Schlippenbach] hinzu. Soviel steht fest, als wir im Restaurant „Samowar“ nach dem Essen beim Tee sitzen. Zu klären wird sein, wer aus dem Ensemble der Deutschen Oper Berlin mit hinzukommt – das Konzept der Reihe AUS DEM HINTERHALT beinhaltet schließlich auch, sich nicht nur mit einem Werk des Opernrepertoires auseinanderzusetzen, sondern auch mit den Künstlern zu arbeiten, die dieses auf die Bühne bringen. Und es bleibt offen, wie wir die verschiedenen Eindrücke des Tages dramaturgisch umsetzen – als wir uns am Bahnhof „Charlottengrad“ trennen, um die Arbeit am Schreibtisch fortzusetzen …

Alle Fotos: Bastian Thiery [Ostkreuzschule für Fotografie]

Andrej Koroliov wurde 1982 in Hamburg geboren und studierte an der HfMT Hamburg Klavier, Komposition und Musiktheorie. Als Komponist trat er sowohl mit akustischen als auch live-elektronischen Stücken in Erscheinung. Im Vordergrund seines kompositorischen Schaffens, welches verschiedene Werkgruppen vom Solo- bis zum Orchesterstück einschließt, stehen hierbei Komponenten wie der performative Aspekt von Musikausübung und die kritische Durchleuchtung von Musik in ihrer Interaktion mit Individualität, Gesellschaft und Kulturbetrieb. Er wurde mit dem Yamaha-Förderpreis und dem Alfred-Schnittke-Kompositionspreis ausgezeichnet.

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