Thomas Lehman ... Mein Seelenort: Unterwegs in Berlin - Deutsche Oper Berlin
Thomas Lehman ... Mein Seelenort: Unterwegs in Berlin
Als der Bariton Thomas Lehman aus den USA nach Berlin zog, entdeckte er die Stadt zu Fuß. Auch auf seine Rolle in LES VÊPRES SICILIENNES bereitet er sich gehend vor
Mein Seelenort ist Berlin, vor allem, wenn ich in der Stadt unterwegs bin. Ich bin schon immer gerne spazieren gegangen; als ich vor sieben Jahren aus Miami nach Berlin zog, erschloss ich mir die Stadt zu Fuß. Dabei ging ich systematisch vor: Für jeden Ausgang legte ich mir mit Google Maps eine neue Route zurecht, immer in einem anderen Viertel und unterschiedlich lang. Meist habe ich mir ein Restaurant und ein paar Sehenswürdigkeiten herausgesucht und bin dann einfach losgelaufen.
Mit Einsetzen der Pandemie bekamen meine Spaziergänge eine andere, tiefere Bedeutung für mich. Als keine Proben und Aufführungen mehr stattfanden, als also mein Alltag von einem auf den anderen Tag wegbrach, veränderte sich auch die Art, wie ich spazieren ging; sie wurde regelmäßiger, gleichförmiger, ich ging nicht mehr raus, um die Stadt zu entdecken, sondern um eine Routine zu etablieren. Von meiner Wohnung in der Richard-Wagner-Straße, nahe der Deutschen Oper Berlin, lief ich erst zum Charlottenburger Tor, meinem Start- und Orientierungspunkt, und von hier aus auf unterschiedlichen Wegen durch den Tiergarten – täglich drei bis vier Stunden lang. Als der Opernbetrieb langsam wieder losging, habe ich begonnen, mich unterwegs auch auf Rollen vorzubereiten. Bevor ich losgehe, schneide ich mir eine kurze Passage als Audiospur am Laptop zurecht und lade sie zusammen mit der Partitur auf mein Handy. Ich darf mir für einen Tag nicht zu viel vornehmen, 10 bis 15 Minuten einer Partie reichen aus. Während des Gehens höre ich diese Passage dann wieder und wieder über meine Kopfhörer und durchquere sie im Rhythmus meiner Schritte in meinem Kopf. Zwischendurch werfe ich einen kurzen Blick auf die Partitur. Erst mit der Zeit habe ich bemerkt, dass ich meine Geschwindigkeit beim Gehen der Musik anpasse. Als ich anfing, auf diese Weise durch den Tiergarten zu spazieren, war es noch so kalt, dass ich oft allein war. Ein großer Vorteil, denn ich konnte vor mich hinmurmeln, ohne für einen Verrückten gehalten zu werden. Seitdem habe ich so ganze Rollen einstudiert.
Wissenschaftliche Studien belegen, dass wir etwas, das wir in körperlicher Bewegung erlernen, später viel besser abrufen können. Für mich gilt das auf jeden Fall, ich bin ein auditiver, kinästhetischer Typ, viele meiner lebhaftesten Erinnerungen sind mit Klängen und Bewegung verbunden. Ich war kein Kind, das schon mit drei Jahren Klavierunterricht bekam, für meine musikalische Entwicklung war meine Zeit als Bassposaunist in der Marching Band meiner Highschool in Pennsylvania prägend. Wir probten jeden Tag, und auch wenn es mir damals nicht bewusst war, funktioniert das Musizieren in der Marching Band wie bei meinen Spaziergängen. Man marschiert im Takt zur Musik und aktiviert dabei eine andere Art Gedächtnis, eine Muskelerinnerung. In gewisser Weise habe ich mich also beim Laufen durch den Park wieder auf meine frühen musikalischen Erfahrungen besonnen.
Für viele Menschen bedeutet das Spazierengehen Ruhe, den Geräuschen des Alltags zu entfliehen, mit der Umgebung eins zu werden. Bei mir ist das nicht so, ich konnte die Schönheit der Stille nie wirklich genießen. Man mag das als Krankheit meiner Generation auffassen: Aber ich bin jemand, der immer schon gerne bei laufendem Fernseher eingeschlafen ist. Ich erinnere mich gut daran, wie beruhigend ich den dumpfen Klang des Fernsehers meiner Eltern unten im Haus empfand, während ich oben im Bett lag. Oder das Geräusch von siedendem Fett in einer Bratpfanne. Vielleicht ist es dieses Gefühl der Entspannung durch einen vertrauten Klang, das mich auch heute noch dazu bringt, meine Kopfhörer aufzusetzen und Musik oder Podcasts zu hören, sobald ich das Haus verlasse. Ich möchte die Schönheit meiner Umwelt nicht ausschließen, aber ich verbleibe bei meinen Spaziergängen gern in meiner Innenwelt. Zu meinem Glück gibt es bei modernen Kopfhörern mittlerweile die Möglichkeit, Außengeräusche dazu zu schalten, denn manchmal muss ich tatsächlich aufpassen, nicht gedankenverloren auf eine Straße zu laufen.
Auch meine Rolle als Guy de Montfort in LES VÊPRES SICILIENNES durchschreite ich gedanklich bei meinen Spaziergängen im Tiergarten. Die Partie ist musikalisch und inhaltlich sehr komplex und vielschichtig. Verdi hatte eine ganz eigene Art, Baritonstimmen zu komponieren, man spricht vom Verdi-Bariton. Als Sänger muss ich dabei in der Lage sein, längere Passagen in höheren Lagen zu singen. Gleichzeitig ist Montfort ein gestandener Mann mittleren Alters, Familienvater und skrupelloser, machtbewusster Herrscher. In diesen Charakter muss ich mich als in Berlin lebender kinderloser Mann mit Mitte 30 erst einmal hineinfühlen. Eine tolle Herausforderung!